Gesundheit gerecht gestalten

Berlin (pag) – Noch immer sind Gesundheitschancen in Deutschland ungleich verteilt. Dieses Problem adressiert regelmäßig der Berliner Gesundheitspreis, sein Motto lautet dieses Jahr: „Gesundheit gerecht gestalten“. Die prämierten Projekte verbinden gesundheitliche Versorgung und soziale Unterstützung und zeigen, wie verhindert werden kann, dass ungünstige soziale Umstände zu gesundheitlichen Problemen führen.

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Dieses Mal werden zwei erste Preise ausgezeichnet. Das Projekt „Open med“ in München betreibt der Verein „Ärzte der Welt“: Ärztinnen und Ärzte kümmern sich ehrenamtlich um die medizinische Versorgung von Menschen, die keinen Zugang zum Gesundheitssystem haben. Wie interprofessionelle Zusammenarbeit in benachteiligten und strukturschwachen Stadtvierteln gelingen kann, zeigt das Projekt Stadtteilgesundheit in Berlin-Neukölln und Hamburg-Veddel. Dort werden die Menschen nicht nur behandelt, sondern auch ihre krankmachenden Lebensumstände in den Blick genommen. Beide Erstplatzierten erhalten ein Preisgeld von je 20.000 Euro.

Der Berliner Gesundheitspreis rückt Projekte in den Fokus, die richtungsweisende Ansätze zur Vernetzung zwischen sozialen und gesundheitlichen Akteuren entwickelt und umgesetzt haben. Dafür bedürfe es einer „gesamtgesellschaftlichen Anstrengung“, um das Recht auf gleiche Gesundheitschancen, gesundheitsförderliche Lebensgrundlagen, zielgruppenspezifische Angebote und einen niederschwelligen Zugang zur Gesundheitsbildung und -versorgung für alle Menschen gleichermaßen und nachhaltig zu stärken, hebt der AOK-Bundesverband hervor. Er verleiht den Innovationspreis gemeinsam mit der Berliner Ärztekammer seit 1996.

Spießrutenlauf der Zuständigkeiten

Mit Sonderpreisen prämiert die interdisziplinär besetzte Jury dieses Mal die „Sozialberatung in Arztpraxen in Berlin-Lichtenberg“ und die „SGB-übergreifende familienorientierte Versorgung für von psychischen- und Suchterkrankungen betroffene Familien“. Das Angebot in Lichtenberg bietet niederschwellig Hilfe für Patienten bei Problemen, die sozialer und nicht medizinischer Natur sind. Hausärzte vermitteln ihre Patienten in kritischen Lebenslagen direkt an Sozialberater, die in der Arztpraxis erreichbar sind. Vorhandene Strukturen der medizinischen Versorgung werden mit kommunalen Angeboten zusammengeführt.

Das SGB-übergreifende Projekt will dem Spießrutenlauf der Zuständigkeiten diverser Sozialgesetzbücher begegnen. Das bundesweit agierende Kooperationsnetzwerk steht damit vor einer komplexen Aufgabe und befindet sich noch im Aufbau. Ziel ist es, die Hilfesysteme quer über die SGB-Grenzen hinweg durch Kooperationen zu vernetzen. Für Betroffene ist es derzeit kaum möglich, die ihnen zustehenden Leistungen abzufragen und die nötige Hilfe zu bekommen. Im Zentrum der Initiative stehen Kinder und Jugendliche, deren Eltern psychisch erkrankt oder suchtkrank sind.
Beide Sonderpreise sind mit 5.000 Euro ausgezeichnet.

 

Gesundheitsgefährdende Gendereffekte


Berlin (pag) – Werden Frauen von männlichen Chirurgen operiert, haben sie nach dem Eingriff ein um bis zu 15 Prozent höheres Risiko für Komplikationen als Frauen, die von Chirurginnen behandelt wurden. Das ergibt eine aktuelle Untersuchung kanadischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Die Ergebnisse werfen ein Schlaglicht auf die Geschlechterfrage – nicht nur in der Männerdomäne Chirurgie. 


Die kanadischen Forscher analysierten die Behandlungsdaten von über 1,3 Millionen Erwachsenen ab 18 Jahren aus der kanadischen Provinz Ontario. Diese hatten sich zwischen 2007 und 2019 geplanten oder dringlichen chirurgischen Eingriffen unterzogen. Mehr als insgesamt 2.900 Chirurginnen und Chirurgen hatten die Operationen durchgeführt. 


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Das Ergebnis: In der Konstellation männlicher Operateur, Patientinnen traten der Analyse zufolge „deutlich häufiger postoperative Komplikationen bis hin zum Tod der Patientin auf“, sagt Prof. Natascha Nüssler, Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Allgemein- und Viszeralchirurgie (DGAV). In anderen Geschlechterkonstellationen fand die Studie kein erhöhtes Risiko für Komplikationen. Auch in anderen Fächern kann sich der Geschlechterunterschied zwischen Behandlern und Behandelten negativ auf die Gesundheit der Patientinnen auswirken. Nach einem Herzinfarkt haben Patientinnen, die von einem Arzt behandelt werden, ein höheres Risiko zu versterben als männliche Patienten, die von einer Ärztin behandelt werden, informiert Nüssler. Eine Erklärung wäre, dass männliche Ärzte die Schwere von Symptomen ihrer Patientinnen eher unterschätzen oder Frauen Hemmungen haben, gegenüber einem männlichen Arzt Schmerzen zu offenbaren.


Ein Ausweg, diese gesundheitsgefährdenden Gendereffekte zu reduzieren, seien gemischtgeschlechtliche Ärzteteams. „Dafür müsste der Frauenanteil in der Chirurgie jedoch deutlich steigen“, so die DGAV-Präsidentin im Vorfeld des Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie. 2020 lag der Frauenanteil in dem Fach bei nur rund 22 Prozent. 



Ohne Quote geht es nicht


Über Frauenanteile und Parität wird auch beim Diversity in Health Congress intensiv diskutiert. Besonders Unikliniken seien heutzutage noch sehr hierarchisch organisiert, berichtet Jana Aulenkamp, die selbst als Ärztin am Universitätsklinikum Essen arbeitet. Insbesondere Frauen mit Kindern treffen dort auf vielfältige Hürden. Es bräuchte deutlich familienfreundlichere Konzepte wie Jobsharing und verlässlichere, flexiblere Arbeitszeiten. Auch Quoten können ein Instrument sein, um Frauen Aufstiegschancen zu ermöglichen – ohne dieses Hilfsmittel funktioniert es in ihren Augen noch nicht.


Sevilay Huesmann-Koecke von PwC weist darauf hin, dass in den obersten Führungsebenen des deutschen Gesundheitswesens der Frauenanteil von 2015 zu 2020 insgesamt gesunken sei – vor allem bei Krankenhäusern und im Bereich Politik und Behörden. Auch wenn der Anteil bei Krankenkassen und in der Pharmabranche gestiegen sei, herrscht in keinem Bereich der Gesundheitsbranche Parität. Warum diese in den Gremien der Selbstverwaltung so wichtig ist, erläutert Andrea Galle, Vorständin der BKK VBU: Sie treiben die Meinungsbildung voran und entscheiden, wie Gelder eingesetzt werden. In der Selbstverwaltung seien Männer jedoch überrepräsentiert und spiegelten daher die Diversität von Patientinnen, Patienten und Versicherten nicht wider. „Nur paritätisch besetzte Gremien mit unterschiedlichen Sichtweisen können Entscheidungen treffen, die für alle passen und gerecht sind“, sagt sie.

Schub für Gendermedizin?

Warum Corona dem Thema mehr Aufmerksamkeit verleihen könnte

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Corona rückt die geschlechtersensible Medizin in den Fokus der interessierten Fachöffentlichkeit. In Bielefeld kommt die neue Disziplin in das Vorlesungsverzeichnis. An der dortigen neuen Medizinischen Fakultät Ostwestfalen-Lippe (OWL) gibt es jetzt eine Professur für geschlechtersensible Medizin – die zweite überhaupt in Deutschland.

Ab dem Wintersemester 2021/2022 wird sich an der Universität Bielefeld Prof. Sabine Oertelt-Prigione um den Aufbau der Arbeitsgruppe Geschlechtersensible Medizin kümmern. Die Internistin leitet seit 2017 auch den Lehrstuhl für Gender in Primary and Transmural Care am Radboud University Medical Center in Nijmegen, Niederlande. Sie wird künftig an beiden Standorten forschen und lehren.

 

Das Ziel: Translation

Sabine Oertelt-Prigione forscht unter anderem zum Einfluss von Geschlecht auf Herzkreislauferkrankungen und das Immunsystem. Außerdem entwickelt die Fachärztin für Innere Medizin Präventionsstrategien für geschlechtsspezifische Ungleichheiten in der Medizin. © Prof. Sabine Oertelt-Prigione

Eine von Oertelt-Prigiones ersten Aufgaben ist die Erstellung eines Curriculums. Auf lange Sicht geplant sei, Gendermedizin zum Prüfstoff für die Medizin-Studenten zu machen. Darüber hinaus verfolgt die Professorin das Ziel, geschlechtersensible Medizin flächendeckend zu implementieren. Nicht nur in den Vorlesungen, sondern auch in der Praxis, also in Krankenhäusern und bei den niedergelassenen Ärzten. Translation ist Sabine Oertelt-Prigione wichtig. Erleichtert wird ihr die Arbeit an der Universität dadurch, dass geschlechtersensible Medizin zum Querschnittsthema erhoben wurde. Das sei ein guter Anreizmechanismus, um die neue Disziplin im Bewusstsein aller zu verankern und eine Stufe der Normalität zu erreichen, so die Wissenschaftlerin.
Bisher gibt es in Deutschland nur eine Einrichtung, die sich regulär mit geschlechtersensibler Medizin befasst: das Institut für Geschlechterforschung in der Medizin, das 2007 an der Berliner Charité gegründet wurde. In Bielefeld gibt es nun also den zweiten Lehrstuhl. In Sachsen-Anhalt kündigte im vergangenen Jahr das Johanniter-Krankenhaus Genthin-Stendal an, zusammen mit der Margarete-Ammon-Stiftung eine Stiftungsprofessur für geschlechtsspezifische Medizin in Magdeburg ins Leben rufen zu wollen. Die Gespräche dazu laufen jedoch noch.

 

Gendermedizin führt Nischendasein

Die Universitäten könnten mehr tun, um geschlechtersensibler Medizin mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen, findet Vera Regitz-Zagrosek. Sie ist Gründungspräsidentin der Deutschen und der Internationalen Gesellschaft für Geschlechtsspezifische Medizin. © BIH, Thomas Rafalzyk

Die Universitäten könnten mehr tun, um der geschlechtersensiblen Medizin mehr Bekanntheit und Aufmerksamkeit zu verschaffen, findet Prof. Vera Regitz-Zagrosek, von 2007 bis 2019 Inhaberin des Charité-Lehrstuhls. Ein vom Bundesbildungsministerium gefördertes Gutachten ergab kürzlich, dass Gendermedizin an den meisten medizinischen Fakultäten ein Nischendasein führt. Bei 70 Prozent von ihnen sei die Vermittlung von geschlechtersensiblem Wissen „als unzureichend zu bezeichnen“, schreiben die Autoren.   
Am weitesten fortgeschritten bei der Wissensvermittlung sind die Universitäten mit Modell- oder Reformstudiengängen. Ihnen, so das Gutachten, sei die Integration von Gendermedizin in die Curricula am häufigsten gelungen – allerdings auch nur auf „einem niedrigen Niveau von 50 Prozent dieser Fakultäten“. Eine Ausnahme bilden Kardiologie und Pharmakologie: Hier gaben fast alle der befragten 31 Fakultäten an, geschlechtsspezifische Unterschiede zu lehren, 2016 waren es nur fünf Fakultäten gewesen.   
Ein bisschen hoffen die Streiter und Streiterinnen für Gendermedizin wie Regitz-Zagrosek, dass Corona dem Thema auf Dauer mehr Aufmerksamkeit bescheren und vor allem die Erkenntnis reifen lassen wird, dass mehr Forschung auf diesem Gebiet dringend notwendig ist. Sars-CoV-2 zeige, dass in der Medizin mehr auf die geschlechtsbedingten Unterschiede bei den Patienten geachtet werden müsse. Denn während das Risiko für schwere und tödliche COVID-19-Verläufe
bei Männern höher ist als bei Frauen, sind fast nur diese nach Impfungen, vor allem mit AstraZenca, von Sinusthrombosen betroffen.

Andere Symptome

Vor allem im Bereich der Kardiologie gibt es schon viel Wissen über medizinisch bedeutsame Unterschiede zwischen Mann und Frau. Ein Beispiel, das zunehmend auch in der breiten Öffentlichkeit thematisiert wird: der Herzinfarkt, der sich bei Frauen mit ganz anderen Symptomen äußern kann als bei Männern. Während Letztere meist starke Schmerzen oder Druckgefühl im Brustraum auf der linken Seite haben, klagen etwa 20 Prozent der Frauen über Übelkeit oder Erbrechen, Schmerzen im Nacken-, Kiefer- oder Schulterbereich, über Unwohlsein oder plötzliche Erschöpfung und Müdigkeit. Die Folge: Frauen gehen nicht rechtzeitig ins Krankenhaus oder laufen Gefahr, ohne richtige Diagnose wieder nach Hause geschickt zu werden.
Weitere Beispiele: Vorhofflimmern ist bei Frauen öfter mit einem Schlaganfall verbunden. Diabetes erhöht beim weiblichen Geschlecht das Risiko für eine KHK-Erkrankung um das Fünf- bis Siebenfache, bei Männern sind ist „nur“ das Drei- bis Vierfache. Für Blutdruckwerte und Blutfette müsste es je nach Geschlecht unterschiedliche Grenzwerte geben, sagt Vera Regitz-Zagrosek.   

Undifferenzierte Diagnosen und Therapien

Geschlechtersensible Medizin habe nichts mit Frauenheilkunde zu tun, betont die Expertin. Ziel sei es, die Medizin für beide Geschlechter zu verbessern.Schließlich litten auch Männer unter undifferenzierten Diagnosen und Therapien. Osteoporose und Depression werden bei Männern häufig nicht erkannt, weil sie zum einen als typische Frauenkrankheiten gelten, zum anderen die Symptome sich anders äußern. Auch die Behandlung von Brustkrebs beruht bei Männern auf Erfahrungen und Forschungsarbeiten, die bei Frauen gemacht wurden. Aus diesem Grunde, so die Gendermediziner, sei es unter anderem nötig, in der Forschung (auch bei Tierversuchen) nicht nur beide Geschlechter mehr als in der Vergangenheit einzubeziehen, sondern auch die gewonnenen Daten je nach Geschlecht auszuwerten. Das passiere in der Praxis noch viel zu wenig.
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Prof. Gertraud Stadler, Professorin für geschlechtersensible Präventionsforschung an der Charité © Wiebke Peitz, Charité

Geschlechtersensible Gesundheitsversorgung
Frauen und Männer werden im Gesundheitssystem nicht gleich versorgt. In einem Fachgespräch der Grünen-Fraktion im Bundestag diskutieren kürzlich Expertinnen, wie die Versorgung von Frauen verbessert werden kann. Aus Sicht von Prof. Gertraud Stadler, Professorin für geschlechtersensible Präventionsforschung an der Charité, braucht es in medizinischer Forschung, Lehre und Praxis sowie den Strukturen des Gesundheitssystems eine „geschlechtersensible Medizin und Gesundheitsversorgung, die die Geschlechterunterschiede in den verschiedenen sozialen Lagen mitdenkt“. In Deutschland sei man noch relativ am Anfang. Das Thema geschlechtersensible Gesundheitsversorgung sei „leider noch lange keine Selbstverständlichkeit“, bestätigt Karen Walkenhorst, Vorständin bei der Techniker Krankenkasse. Einerseits verspreche sich das Gesundheitswesen von der Digitalisierung individualisiertere Behandlungsmöglichkeiten, gleichzeitig negiere man aber selbst eine so grundlegende Kategorie wie Geschlecht. „Ein Widerspruch, den man wirklich nicht logisch erklären kann.“ Man laufe Gefahr, die geschlechtsspezifischen Fehler einfach in die digitale Versorgung zu übertragen und weiterzuentwickeln.

Genderaspekte noch immer unterbelichtet

Berlin (pag) – In Sachen frauenfreundlicher Gesundheitspolitik und -versorgung sei man „ein ganzes Stück“ weitergekommen, aber noch immer existierten viele Herausforderungen. Dieses Fazit zieht der kürzlich vom Robert Koch-Institut (RKI) veröffentlichte Report zur gesundheitlichen Lage der Frauen in Deutschland.

Fast 20 Jahre sind zwischen dem ersten Frauengesundheitsbericht, der 2001 vom Bundesfamilienministerium herausgegeben wurde, und dem aktuellen des RKI vergangen. Im Unterschied zu damals ist es den Krankenkassen aber mittlerweile gesetzlich vorgeschrieben, geschlechtsspezifische Besonderheiten bei ihren Leistungen zu beachten. RKI-Präsident Prof. Lothar Wieler betont anlässlich der Veröffentlichung, dass eine geschlechtersensible Berichterstattung die Akteure des Gesundheitswesens dabei unterstützt, „eine frauengerechte Prävention und Gesundheitsversorgung umzusetzen.“
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Zum Thema gynäkologische Erkrankungen wie Endometriose, Myome und Gebärmuttersenkung hält der Report beispielsweise fest, dass dafür „nur wenige Daten zu Häufigkeit, Einflussfaktoren und Versorgung“ zur Verfügung stünden. „Die Behandlung sollte sich an den individuellen Beschwerden und Bedürfnissen der Betroffenen orientieren.“ Eine Voraussetzung dafür sei eine erfolgreiche Kommunikation zwischen Arzt und Frau.


„Absolut unzureichend“

Unterdessen kommt eine Studie des Deutschen Ärztinnenbundes (DÄB), der Deutschen Gesellschaft für geschlechtsspezifische Medizin und der Berliner Charité zu dem Ergebnis, dass Genderaspekte im Medizinstudium viel zu wenig berücksichtigt werden. „Soweit es die Humanmedizin betrifft, ist die Vermittlung von geschlechtersensiblem Wissen an den Universitäten leider absolut unzureichend“, sagt Prof. Gabriele Kaczmarczyk, DÄB-Vizepräsidentin und eine der Autorinnen des Projekts. 
Demnach werden Studierende an 70 Prozent der Fakultäten nur punktuell in einzelnen Lehrveranstaltungen über die Auswirkungen von Geschlecht auf Krankheiten, Symptome und Therapien unterrichtet. Die strukturelle curriculare Integration von geschlechtersensiblen Aspekten sei noch nicht weit genug fortgeschritten, heißt es in dem Bericht. Verbesserungsbedarf sehen die Autorinnen außerdem bei der Prüfungsrelevanz, der Evaluation und Qualitätssicherung des vermittelten Wissens sowie der nachhaltigen Integration von geschlechterbezogenen Forschungsergebnissen in die Lehre. Als maßgebliche Barrieren für die Integration seien häufig eine mangelnde Bereitschaft beziehungsweise ein geringes Problembewusstsein sowie die fehlende Qualifizierung der Lehrkräfte genannt worden. Genderaspekte würden außerdem in den Fach- und Lehrbüchern nicht systematisch berücksichtigt. Kaczmarczyk fordert darum, neue Professuren für Gendermedizin zu schaffen.

 

HIV/Aids: Stillstand ist Rückschritt

Berlin (pag) – Die Erfolge bei der Behandlung von HIV sind beachtlich – von einer tödlichen zur chronischen Erkrankung, die unter Therapie nicht mehr ansteckend ist. Auch die Zahl der Neuinfektionen ist gesunken. Dennoch gibt es in der Versorgung nach wie vor Probleme. Über Diskriminierung im Gesundheitswesen und vernachlässigte Zielgruppen diskutieren Experten bei einer gemeinsamen Veranstaltung der Pharmaunternehmen ViiV, MSD und Janssen.

„Bestimmte Bevölkerungsgruppen erreichen wir nicht“, sagt Kordula Schulz-Asche von Bündnis 90/Die Grünen. © Andreas Schwarz

Die Bundestagsabgeordnete Kordula Schulz-Asche (Bündnis 90/Die Grünen) benennt einige Herausforderungen. Zum Beispiel: In Deutschland gibt es geschätzt 11.400 Menschen mit HIV, die nicht wissen, dass sie infiziert sind. Etwa ein Drittel aller Menschen hat bei der HIV-Diagnose in Deutschland bereits ein sehr geschwächtes Immunsystem und knapp die Hälfte davon eine Aids-Erkrankung. „Das ist ein wirkliches Alarmzeichnen, dass wir bestimmte Bevölkerungsgruppen nicht erreichen oder dass diese Menschen keinen Zugang zu den Präventionsmaßnahmen haben“, sagt die Politikerin. Sie stellt die Therapie als wichtigen Beitrag heraus, um die Übertragung der Krankheit zu vermeiden, befürchtet aber, dass zunehmend Menschen nicht in die Behandlung kommen. Dazu gehörten Geflüchtete, Menschen ohne Papiere, ohne Krankenversicherung.

Diese Gruppen sollten stärker in den Fokus genommen werden, empfiehlt Schulz-Asche. Eine weitere vernachlässigte Gruppe nennt Silke Klumb, Geschäftsführerin der Deutschen Aids-Hilfe: „Drogenkonsumenten werden für nicht-therapiefähig gehalten“, kritisiert sie.

„Kein Aids für alle“

Klumb berichtet außerdem, dass viele HIV-Infizierte noch immer Diskriminierung erleben – auch im Gesundheitswesen. Sie nennt: Verletzungen des Datenschutzes und der Schweigepflicht, unangemessene Hygienemaßnahmen sowie Sondertermine bis hin zu Behandlungsverweigerungen. Die Aids-Hilfe möchte mit ihrer Kampagne „Kein Aids für alle“ insbesondere Hausärzte sensibilisieren. Trotz deutlicher Indikation denken Allgemeinmediziner oft nicht an die Infektion. Allgemein sprechen Ärzte Klumb zufolge mit ihren Patienten nicht über Sexualität und Drogenkonsum. Eine späte HIV-Diagnose kann die Folge sein. Dabei handelt es sich um sogenannte „late presenter“ – Personen, die mit der Diagnose erst in einem sehr späten oder zu späten Stadium in die spezialisierte Behandlung kommen, erläutert Dr. Axel Baumgarten, Vorstandsmitglied der Deutschen Arbeitsgemeinschaft niedergelassener Ärzte in der Versorgung HIV-Infizierter. „Das bedeutet immer einen schwerwiegenderen Verlauf, teilweise mit Aids-definierenden Erkrankungen.“

Als weitere Versorgungsbaustelle erwähnt der Arzt die Komorbiditäten. Der Charakter der chronischen HIV-Infektion habe sich so verändert, „dass wir nicht mehr über zahlreiche schwerwiegende Aids-definierende Erkrankungen reden, sondern dass wir bei den Patienten weitere Begleiterkrankungen sehen“. Verursacht durch eine jahrelange chronische Infektion im Körper, durch jahrzehntelange Medikamenteneinnahme oder den Prozess des Älterwerdens. Die Herausforderung bestehe darin, die zunehmenden Begleiterkrankungen mit der Spezifität einer chronischen Infektionserkrankung in Einklang zu bringen. Hinzu kommt eine von Baumgarten prognostizierte große Lücke des ärztlichen Nachwuchses in diesem Bereich.

Gesundheitliche Ungleichheit in Europa: Kreative Lösungen gesucht

Berlin (pag) – „Armut und Gesundheit hängen in der EU noch immer sehr stark zusammen“, beklagt der EU-Kommissar für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit, Dr. Vytenis Andriukaitis, kürzlich bei einer Veranstaltung der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin. Die Europäische Union müsse in diesem Bereich effektiver arbeiten, um die Auswirkungen des Sozialstatus auf die Gesundheit zu verringern.

Die Themen soziale Ungleichheit und Gesundheit stünden in Deutschland auf der Agenda – das sei in vielen anderen Ländern nicht der Fall, merkt Andriukaitis an. Er fordert die EU-Mitgliedstaaten auf, nationale Programme aufzulegen, um Menschen in ärmeren Schichten zu fördern. Darüber hinaus „brauchen wir wissenschaftliche Evidenz für die gesundheitlichen Bedürfnisse der Schwächsten in der Gesellschaft“, betont er. „Warum schließen wir uns nicht zusammen und ermutigen die nationalen Parlamente, diese Probleme anzugehen?“

Die ärmsten Kinder sind oft gleichzeitig die dicksten und nicht etwa jene aus sozial besser gestellten Schichten. © AGorohov – shutterstock.com

Prof. Ilona Kickbusch vom Genfer Hochschulinstitut für internationale Studien ergänzt, dass heute mit Blick auf die Gesundheit neben der sozialen und politischen Determinante auch kommerzielle Aspekte immer mehr in den Mittelpunkt rückten. „Wir leben in einer Gesellschaft, die uns sagt: Wenn du am Markt teilnimmst, nimmst du Teil an der Gesellschaft.“ So seien zum Beispiel die ärmsten Kinder gleichzeitig die dicksten und nicht etwa jene aus sozial besser gestellten Schichten. „Die Marktöffnung für billigen Zucker fördert diese Ungleichheit“, kritisiert Kickbusch. Denn dies beeinflusse die Zusammensetzung billiger Lebensmittel.
Die Expertin für globale Gesundheit und Gesundheitskompetenz hat eine klare Botschaft an die Regierungen: „Wenn wir an den Verhältnissen etwas ändern wollen, müssen wir kreativer werden. Wir brauchen mehr politischen Mut.“ Interessant sei, dass Forscher in Finnland im Zuge des Testlaufs für das bedingungslose Grundeinkommen auch die Auswirkungen auf die Gesundheit untersuchten – ein erster Schritt in die richtige Richtung, findet Kickbusch, denn „die Konzepte, die wir haben, werden uns nicht in die Zukunft tragen“.

„Wer früher stirbt, war länger arm“

Berlin (pag) – Sozialstatus und Bildungsniveau sind die zwei entscheidenden Faktoren für gesundheitliche Ungleichheit und damit das Risiko, vorzeitig zu sterben, sagt Reiner Klingholz. Der Direktor des Berlin-Instituts hat eine Studie vorgestellt, die sich mit Unterschieden bei der Lebenserwartung sowie deren Ursachen beschäftigt.

Geschätzte Überlebenswahrscheinlichkeit in Prozent für 18- bis 90-Jährige nach sozioökonomischem Status und Geschlecht in Deutschland, 2011 (Quelle: Sudie „Hohes Alter, aber nicht für alle – Wie sich die soziale Spaltung auf die Lebenserwartung auswirkt “, Seite 11 © Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung, Berlin)

Global ist die Lebenserwartung stetig angestiegen. Dank Fortschritten der modernen Medizin und bei der Prävention verschiebe sich die Sterblichkeit in den reichen Ländern in ein immer höheres Alter, heißt es in der Studie. Dadurch erreichten einzelne Bevölkerungsgruppen zwar immer neue Rekordwerte bei der Lebenserwartung, „aber die weniger Privilegierten bleiben zurück“. Bestehen diese Unterschiede weiter oder vergrößern sie sich sogar, bleibe dies nicht ohne Auswirkungen auf die weitere Entwicklung der durchschnittlichen Lebenserwartung. Und: Die Kostensteigerung, die aufgrund der Alterung zu erwarten ist, könnte letztlich dazu führen, dass es selbst den reichsten unter den reichen Ländern nicht mehr gelinge, die Lebenserwartung weiter zu steigern, warnen der Autoren. Sie nennen in der Expertise zahlreiche interessante Daten: beispielsweise, dass die mittlere Lebenserwartung für US-Amerikaner 2015 gegenüber dem Vorjahr statistisch um fünf Wochen auf 78,8 Jahre gesunken ist, nachdem sie über zwei Jahrzehnte, wenn auch schwach, gestiegen ist. Ebenfalls in den USA liegen rund 20 Jahre zwischen dem Bezirk (County) mit der höchsten und jenem mit der niedrigsten mittleren Lebenserwartung. Aber auch für Deutschland gibt es bezogen auf die unterschiedliche Lebenserwartung eindrückliche Zahlen: Neugeborene Jungen im wohlsituierten bayerischen Landkreis Starnberg könnten mit rund acht Jahren mehr Lebenszeit rechnen als ihre Geschlechtsgenossen in der ehemaligen Schuhmachermetropole Pirmasens in Rheinland-Pfalz. Weiter heißt es, dass selbst in den am weitesten entwickelten Ländern mit der geringsten sozialen Ungleichheit die Unterschiede in der Sterblichkeit nach Bildung zugenommen haben. In den skandinavischen Staaten, in Finnland, Belgien, Frankreich und der Schweiz sei die Lebenserwartung höher Gebildeter stärker angestiegen als jene der bildungsferneren Schichten. „Gesellschaft und Politik müssen aktiv werden, um diese Ungleichheiten zu verringern“, lautet das Fazit der Studie. Dabei werden unter anderem folgende Handlungsfelder genannt: Chancengleichheit schaffen, Prävention durchsetzen, die Risikofaktoren Ernährung und Rauchen steuern, Kindersterblichkeit senken und gesunde Städte planen. Zu dem Stichwort Gesundheitssystem verbessern heißt es, dass dieses in den Industrieländern zukunftsfest zu machen sei, das Kostenproblem müsse man in den Griff bekommen. „Es muss möglich sein, über Kosteneffektivität und Rationierung mancher Leistungen zu diskutieren. Gleichzeitig gilt es jedoch abzuwägen, ob Kürzungen und Sparmaßnahmen heute nicht auf lange Sicht wieder Mehrkosten verursachen.“

Weiterführender Link:
Download der Studie „Hohes Alter, aber nicht für alle“: www.berlin-institut.org/fileadmin/user_upload/Hohes_Alter/Lebenserwartung_online.pdf

Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten

Berlin (pag) – Daten zu gesundheitlichen Ungleichheiten werden seit Jahren publiziert. Man werde in eine Phase kommen, diese zu priorisieren, prophezeit der Sozialepidemiologe Dr. Andreas Mielck auf dem Kongress „Armut und Gesundheit“ in Berlin.

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„Die Politik wird uns auffordern zu sortieren“, sagt er auf einem Fachforum zum Thema „Welche gesundheitlichen Ungleichheiten sind ungerecht und warum?“ Bei der Etablierung einer Rangfolge und der Auswahl geeigneter Kriterien benötige man die Hilfe der Ethik. Auch die Philosophin Frederike Leonie Moormann von der Ludwig-Maximilians-Universität München plädiert dafür, die Ethik in die Frage nach gesundheitlichen Ungleichheiten miteinzubeziehen. Die Teilnehmer des Forums diskutieren unter anderem, wie konkrete Interventionsmaßnahmen wie das Nudging von Übergewichtigen ethisch zu bewerten seien.
Seit mittlerweile 22 Jahren thematisiert der Kongress „Armut und Gesundheit“ den Zusammenhang zwischen Gesundheit und sozialer Lage. Es ließen sich keine Anhaltspunkte dafür finden, dass sich die sozialen Unterschiede in der Gesundheit und Lebenserwartung verringert haben könnten, betont PD Dr. Thomas Lampert vom Robert Koch-Institut. In einigen Bereichen müsse sogar von einer Ausweitung der Unterschiede ausgegangen werden. Dem Wissenschaftler zufolge haben Männer und Frauen mit einem Einkommen unterhalb der Armutsrisikogrenze im Vergleich zu den hohen Einkommensbeziehern eine um 11 bzw. 8 Jahre geringere mittlere Lebenserwartung bei Geburt. Das Risiko für chronische Krankheiten wie Herzinfarkt, Schlaganfall, Diabetes und chronische Bronchitis sei in den sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen 2- bis 3-fach erhöht.