Vom Leuchtturm Kiel zum 
Versorgungsstandard

Shared Decision Making hat es im Gesundheitssystem (noch) schwer

Berlin/Kiel (pag) – Seit Langem wird Shared Decision Making in Fachkreisen diskutiert. Flächendeckend durchgesetzt hat es sich bisher nicht. Wenig verwunderlich, denn hinter dem Konzept steht nicht weniger als ein Paradigmenwechsel im Verständnis des Arzt-Patienten-Verhältnisses. Mittlerweile kommt aber Bewegung in die Sache.

© iStock.com, Vladgrin, Bearbeitung: pag, Anna Fiolka
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2017, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein (UKSH), Campus Kiel: Der Startschuss für das vom Innovationsfonds geförderte Pilotprojekt SHARE TO CARE fällt. „Making SDM A REALITY“ setzt in Pionierarbeit die Prozesse partizipativer Entscheidungsfindung (auf Englisch Shared Decision Making, SDM) in einem kompletten Krankenhaus der Maximalversorgung um. Das SHARE TO CARE-Programm umfasst vier Module: Training der Ärztinnen und Ärzte, digitale Entscheidungshilfen, Qualifizierung von Pflegekräften und Patientenaktivierung. Am UKSH werden dabei insgesamt 80 Entscheidungshilfen produziert, die wissenschaftlich fundierte, strukturiert aufbereitete und verständliche Informationen bieten. Genutzt werden können sie von Patienten zur Vorbereitung auf die gemeinsame Entscheidung mit Medizinern. „Heute gehört das UKSH zu den weltweit führenden Kliniken in der Anwendung von SDM“, betont das Klinikum auf seiner Website.

Präferenzen und Prioritäten

Das Projekt in Kiel zeigt hierzulande erstmals, dass SDM in allen Bereichen einer ganzen Klinik mit positiven Effekten etabliert werden kann. Der Ansatz beinhaltet eine partnerschaftliche Entscheidungsfindung, in der Arzt und Patient relevante Informationen austauschen und sich gemeinsam auf eine optimale Behandlungsoption einigen. Dabei informiert der Arzt über diagnostische und therapeutische Möglichkeiten mit jeweiligen Vor- und Nachteilen. Der Patient teilt seine Präferenzen und Behandlungserfahrungen. Insbesondere Auswirkungen etwaiger Entscheidungen auf den Alltag des Patienten sind entscheidend.

SHARE TO CARE: Am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein (UKSH), Campus Kiel, fällt 2017 der Startschuss für das vom Innovationsfonds geförderte Pilotprojekt. © Imrohopic - Own work, CC BY-SA 4.0
SHARE TO CARE: Am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein (UKSH), Campus Kiel, fällt 2017 der Startschuss für das vom Innovationsfonds geförderte Pilotprojekt. © Imrohopic – Own work, CC BY-SA 4.0

Johannes Förner, Patientenbeirat am Deutschen Krebsforschungszentrum, sieht darin immense Vorteile: „SDM berücksichtigt Präferenzen und Prioritäten der Patienten bei der Entscheidungsfindung für ein Therapieschema.“ Speziell in der Krebstherapie werde meist auf maximale Lebensverlängerung geschaut, „obwohl dies für den jeweiligen Patienten vielleicht gar nicht so wichtig ist und er lieber eine optimale Lebensqualität erreichen würde.“

Prof. Martin Härter, Direktor des Instituts und der Poliklinik für Medizinische Psychologie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, wirbt bereits 2015 auf einem Kongress des Bundesverbandes Managed Care für das Konzept: SDM steigere die Gesundheitskompetenz der Patienten. Eine Kompetenz, die defizitär in der Bevölkerung ausgebildet ist. Die Patientenzufriedenheit steige, auch für Ärzte gestalte sich die Kommunikation angenehm.
Fest steht mittlerweile auch, dass sich die Compliance der Patienten durch die gemeinsame Entscheidungsfindung erhöht. Zwar bedeutet diese initial mehr Aufwand für Ärzte – die Schulung der Mitarbeiter dauert etwa einen Arbeitstag. Mittel- bis langfristig wird aber Zeit eingespart – etwa durch effizientere Gespräche und weniger Rückfragen. Allerdings eignet sich das Konzept nur für Krankheitsbilder, bei denen aus medizinischer Sicht mehrere Handlungsmöglichkeiten mit jeweils eigenen Vor- und Nachteilen existieren.

Trotz aller Vorteile ist Shared Decision Making bislang vor allem im angelsächsischen Raum präsent. „In den UK gehört SDM bereits zum Standardrepertoire des National Health Service in der personalisierten Medizin“, berichtet Förner. In den USA sei SDM stark abhängig von der jeweiligen Klinik, werde aber häufiger praktiziert als in Deutschland. Hierzulande ist der Ansatz noch längst kein Versorgungsstandard, auch wenn es politisch so gewollt ist. Dieser politische Wille ist beispielsweise im Patientenrechtegesetz nachzulesen. Dort heißt es, dass sich Arzt und Patient „partnerschaftlich begegnen und gemeinsam über die Behandlung entscheiden“. Laut §§ 13 bis 15 SGB I sind die Sozialversicherungsträger zur Aufklärung, Beratung und Auskunft verpflichtet.

Für SHARE TO CARE-Geschäftsführer Dr. Jens Ulrich Rüffer ist eine Ursache dafür, dass Wunsch und Wirklichkeit so auseinanderklaffen und SDM aktuell noch nicht systematisch im Gesundheitssystem eingesetzt wird, die bisher fehlende konkrete Prozessanleitung für alle Beteiligten (lesen Sie hierzu auch das Interview „Das reine Wollen reicht nicht“, Seite 16).

In die Regelversorgung

„Aufzuhalten ist SDM meiner Meinung nach nicht mehr.“ Der SDM-Siegeszug ist für Patientenbeirat Förner nur eine Frage der Zeit. © stock.adobe.com, goodluz
„Aufzuhalten ist SDM meiner Meinung nach nicht mehr.“ Der SDM-Siegeszug ist für Patientenbeirat Förner nur eine Frage der Zeit. © stock.adobe.com, goodluz

Immerhin: Seit März empfiehlt der Gemeinsame Bundesausschuss, das Programm SHARE TO CARE in die Regelversorgung zu überführen. Darauf will Rüffer allerdings nicht warten. „Die Hauptaktivitäten zu SDM finden hierzulande im Rahmen von Forschungsprojekten statt“, weiß er. Im Fokus stehen die Frage der Machbarkeit, außerdem die Reproduktion der Kieler Effekte und sektorenübergreifende Aspekte. Von den momentan laufenden Pilotprojekten hofft der Mediziner, dass sie „genug Evidenz erzeugen, um die Erkenntnis herauszuarbeiten:
Es braucht SDM, sei es über Selektivverträge oder in der Regelversorgung“.

Auch Patientenvertreter Förner hat einige vielversprechende Initiativen fest im Blick: Etwa das groß angelegte Vorhaben an den sechs bayerischen Universitätskliniken, das sich dem Bereich Prostatakrebs widmet. „Bayern versucht hier eine systematische Implementierung von SDM“, berichtet er. Ein anderes Beispiel ist Bremen, wo SHARE TO CARE für den hausärztlichen Bereich adaptiert wird. Das Ziel: SDM in allen Hausarztpraxen im Bundesland verankern. Der SDM-Siegeszug ist für Förner nur eine Frage der Zeit: „Aufzuhalten ist SDM meiner Meinung nach nicht mehr. Wir können es verzögern oder aber auch beschleunigen.“

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Drahtseilakt zwischen Autonomie und Anleitung Grundsätzlich geht es um einen Wandel des Arzt-Patienten-Verhältnisses. SDM vollführt den Drahtseilakt zwischen den Autonomiebestrebungen des Patienten und seinem Bedarf nach Anlehnung und Anleitung durch den Arzt. Die althergebrachte Vorstellung, dass Patienten stillschweigend mit jeder ärztlichen Entscheidung mitgehen, ist längst nicht mehr zeitgemäß. Erstmals konkret wurde die Idee des SDM vom US-amerikanischen Bioethiker Dr. Robert Veatch in den frühen 70er-Jahren ins Spiel gebracht. 1982 stellte eine Kommission des US-Präsidenten fest, dass man zwar grundsätzlich immer besser in der Lage sei, Krankheiten effektiv zu behandeln, gleichzeitig aber weitverbreitet Über-, Unter- und Fehlbehandlung herrsche. Die vorgeschlagene Lösung: SDM.
Mittlerweile hat das Konzept Einzug in die Gesetzgebung und Politik zahlreicher Länder gehalten. Wissenschaftler sehen einen Paradigmenwechsel in Richtung Patientenzentrierung und Beteiligung, der sich vor allem in den 80ern vollzieht. Stichwort Forschung: Seit den 70ern wurden mehr als 6.000 wissenschaftliche Artikel zum Thema veröffentlicht, seit 2013 sind es über 500 pro Jahr.

„Das reine Wollen reicht nicht“

Dr. Jens Ulrich Rüffer über typische Denkfehler bei Shared Decision Making

Für Dr. Jens Ulrich Rüffer ist die bisher fehlende Prozessanleitung der „Misssing Link“ der vergangenen Jahrzehnte, der eine breite Implementierung in der Praxis verhinderte. Im Interview erläutert der Experte für Medizinkommunikation, warum es noch immer vielen Ärzten an einem wirklichen Verständnis für die partizipative Entscheidungsfindung mangelt.

© iStock.com, Ieromin, Berarbeitung pag
© iStock.com, Ieromin, Berarbeitung pag

Welchen Weg hat Shared Decision Making in Deutschland hinter sich?

Jens Ulrich Rüffer: Wir blicken hierzulande auf eine patriarchalische Geschichte. Lange Zeit war es üblich, dass Ärzte Befunde erhoben und hinter verschlossenen Türen über Diagnosen und Behandlungsmethoden brüteten. Erst seit den 70er-Jahren sind Ärzte verpflichtet, Diagnosen mitzuteilen. Meilensteine sind die Patientenrechtegesetze, die zwischen den 90er bis in die Nullerjahre eingeführt wurden. Seitdem haben Patienten den gesetzlichen Anspruch, Diagnosen zu erfahren und zwischen Behandlungsmethoden zu wählen. Berechtigt sind Patienten außerdem, über deren Vor- und Nachteile informiert zu werden. Als Garant hierfür dient Shared Decision Making. Von einem theoretischen Konzept entwickelte sich SDM in den letzten Jahren hin zu konkreten Verfahrensweisen.

Wieso? Trifft der Arzt nicht grundsätzlich Entscheidungen im Sinne seines Patienten?

Rüffer: Es geht um die Frage der Präferenzen. Abgesehen vom medizinischen Wissen des Arztes bringt der Patient individuelle Bedürfnisse mit ins Behandlungszimmer. Bleiben sie vom Arzt unbeachtet, wirkt sich das direkt auf die Behandlung aus: ihre Erfolgschancen sinken. Somit ist SDM mehr als Idealismus – eine Partizipative Entscheidung erhöht auch die Adhärenz.

Welche Vorteile hat SDM außerdem?

Rüffer: Aus ethischer Sicht ist bereits die Schaffung von SDM ein Wert. In unserem groß angelegten Projekt am Kieler Standort des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein konnten wir weitere Vorteile nachweisen: Patienten kommen besser informiert durch Therapien und sind seltener Entscheidungskonflikten ausgesetzt. Ferner fallen die Arztgespräche tendenziell kürzer aus. Es gibt sogar Kosteneinsparungen.

Sie sprechen das Projekt SHARE TO CARE in Kiel an, bei dem sie gezeigt haben, dass man SDM in einer gesamten Klinik einsetzen kann. Wie sind Sie vorgegangen?

Rüffer: Das SHARE TO CARE-Programm setzt sich aus vier Modulen zusammen. Zwei davon richten sich an das Gesundheitssystem. Die anderen beiden zielen auf Patienten ab. Zunächst beinhaltet das Programm ein Training für Ärztinnen und Ärzte.

Wie sieht das Training konkret aus?

Rüffer: Das Training ist per se sehr simpel. Insgesamt bemisst es sich auf vier Stunden. In der ersten wird den Ärzten in einem Online-Training Grundlagenwissen zu SDM anhand von Lehrbeispielen vermittelt. Anschließend werden zwei reale Entscheidungsgespräche auf Video aufgezeichnet. Dazu gibt es ein individuelles Videofeedback von speziell ausgebildeten Trainern mit konkreten Verbesserungsvorschlägen. Nach dem Konzept sollte sich pro Station beziehungsweise Ambulanz ein bis zwei Personen zu einem Decision Coach weiterbilden. Diese können aus diversen Berufen kommen, stammen in der Regel aber aus dem Pflegebereich.

Für Patienten gibt es Entscheidungshilfen in Form der „Drei Fragen“- Methode: Welche
Therapieoptionen habe ich? Welche Vor- und Nachteile gehen damit einher? Und mit welcher Wahrscheinlichkeit treffen diese auf mich zu? © iStock.com, Denis Novikov
Für Patienten gibt es Entscheidungshilfen in Form der „Drei Fragen“- Methode: Welche Therapieoptionen habe ich? Welche Vor- und Nachteile gehen damit einher? Und mit welcher Wahrscheinlichkeit treffen diese auf mich zu? © iStock.com, Denis Novikov

Und wie sieht es auf der Patientenseite aus?

Rüffer: Für sie gibt es Entscheidungshilfen – zumindest für die wichtigsten Indikationen. Weiterhin nutzen wir die „Drei Fragen“-Methode. Das können Sie sich wie einen Leitfaden für ein Arzt-Patienten-Gespräch vorstellen. Sie lauten: Welche Therapieoptionen habe ich? Welche Vor- und Nachteile gehen damit einher? Und mit welcher Wahrscheinlichkeit treffen diese auf mich zu? Ein Stück weit spiegeln die Fragen auch das Patientenrechtegesetz wider.

Welche weiteren Aspekte beinhaltet SDM?

Rüffer: SDM ist in Gänze als ein Werkzeugkasten vorstellbar. Im Einzelfall muss entschieden werden, welche Tools in ein System implementierbar sind. Wir haben uns für die vier beschriebenen entschieden – und ziehen eine positive Bilanz. In anderen Projekten konnten mit anderer Auswahl nicht dieselben Effekte erzielt werden. Ein wichtiger Erfolgsfaktor ist auch die Intensität der Maßnahmen. Es ist ein lernendes System – aber SHARE TO CARE setzt heute einen Standard.

Ist es nicht auch ein Stück weit eine individuelle Einstellung, wie offen und gleichberechtigt ich als Arzt beziehungsweise Patient ein Behandlungsgespräch führe?

Rüffer: Wir wissen, dass SDM-Elemente in Behandlungsgesprächen nur in geringem Ausmaß stattfinden. Gleichzeitig behaupten neun von zehn Ärzten, sie praktizierten Partizipative Entscheidungsfindung.

© stock.adobe.com, Rido
© stock.adobe.com, Rido

Wird da gelogen?

Rüffer: Nein. Als Vorwurf ist es nicht zu verstehen. Vielmehr erkenne ich darin einen ärztlichen Willen zum SDM. Nur fehlt an vielen Stellen heute noch ein tieferes Verständnis. Dazu gehört die Einsicht des Arztes, dass er hauptverantwortlich dafür ist, dass der Patient ein Thema erfasst und seine Präferenzen mit den Behandlungsoptionen abgleicht. Ärzte scheinen schnell bereit zu sagen, sie hätten das getan. In der Praxis bestätigt sich das nicht. Das reine Wollen reicht nicht. Es fehlte bisher die Prozessanleitung.

Das müssen Sie genauer erklären.

Rüffer: Ein Vergleich: Fährt man Auto, tut man das bisweilen mit der inneren Haltung, dass man vorsichtig fahren möchte. Dann möchte ich in einer 30er-Zone auch nur 30 fahren. Fehlt es allerdings an einem Tachometer, an Bremsen oder einem richtigen Gaspedal, wird es schwierig, mein Ziel zu erreichen. Deutlich leichter ist es, wenn ich adäquat ausgerüstet bin und einen Tempomat habe, den ich auf 30 einstellen kann. Der SDM-Prozess ist wie dieses Hilfsmittel. Ich schätze, das ist der Missing Link der letzten Jahrzehnte, welcher für eine breitflächige Implementierung fehlte. In theoretische Diskussionen ist die Thematik schon längst eingezogen. Die Umsetzung in der Praxis stand dagegen auf der Stelle. Nun haben wir einen Prozess erarbeitet, der Ärzten mit unseren kombinierten Optionen SDM ermöglicht.

Das ist ein wohlwollender Blick. Was ist mit Widerständen von Ärzten, die ihr althergebrachtes Selbstbild gefährdet sehen?

Rüffer: Widerstände gibt es definitiv. Interessanterweise finden sich jene traditionellen Haltungen vermehrt bei Kollegen, die in Lobbygruppen aktiv sind und seltener direkt mit Patienten arbeiten. Sicherlich ist damit auch eine Generationenfrage verbunden. Dennoch: Ich bin der Meinung, es stieße keine große Veränderung an, tauschten wir alle Ü40-Ärzte durch jüngere Kollegen aus. Denn: SDM ist kein Automatismus, keine reine Willensfrage. Es bedarf aktiven Trainings und einer bewussten Implementierung.

Die Einstellung der Ärzte muss sich nicht ändern?

Rüffer: Doch. Dazu gehört, dass Ärzte seit Langem die Effektivität von Interventionen überschätzen. Watchfull Waiting wiederum wird unterschätzt. Solche Phänomene lassen sich mit Partizipativer Entscheidungsfindung ausgleichen. Denn im Prozess werden sich Ärzte bewusst, dass zuweilen Therapieoptionen vorgezogen werden, die aus ärztlicher Sicht weniger erfolgsversprechend oder weniger invasiv sind. Das zu verstehen, ist vielmehr Inhalt als Macht und Deutungshoheit.

Wie gelingt die flächendeckende Implementierung?

Rüffer: Daran arbeiten wir mit SHARE TO CARE. Seit März empfiehlt der Gemeinsame Bundesausschuss, unser Programm in die Regelversorgung zu überführen. Doch darauf wollen wir nicht warten. Die Hauptaktivitäten zu SDM finden hierzulande im Rahmen von Forschungsprojekten statt. Im Fokus stehen die Frage der Machbarkeit, außerdem die Reproduktion der Kieler Effekte und sektorenübergreifende Aspekte. Gegenwärtig entwickeln sich verschiedene Pilotprojekte, die hoffentlich genug Evidenz erzeugen, um die Erkenntnis herauszuarbeiten: Es braucht SDM, sei es über Selektivverträge oder in der Regelversorgung. Mitbedacht werden muss auch, dass man damit gleichzeitig Anreize für Personen mit anderem SDM-Verständnis schafft, sich in den Markt zu drängen. Möglicherweise entsteht dabei Pseudo-SDM.

Was verstehen Sie unter Pseudo-SDM? Drückt man Patienten eine Entscheidungshilfe in die Hand, und das war es dann?

Rüffer: Entscheidungshilfen allein erzeugen durchaus positive Effekte. Diese sind allerdings um Längen von den Kieler Ergebnissen entfernt. Denn an erster Stelle ist es eine Frage der Haltung: zu respektieren, dass Patienten eigene Präferenzen und Therapievorstellungen haben. Diese Haltung ist komplementär zu Werkzeugen wie Entscheidungshilfen, Decision Coaches oder den „Drei Fragen“. Erst wenn alle Rädchen ineinandergreifen, gedeiht Partizipative Entscheidungsfindung.

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© atp Verlag
© atp Verlag

Zur Person Dr. Jens Ulrich Rüffer treibt seit Jahrzehnten europaweit SDM-Projekte voran. Als Geschäftsführer von SHARE TO CARE hat der Facharzt für Innere Medizin mit Schwerpunkt Hämatologie und Onkologie zuletzt SDM in einer ganzen Klinik in Kiel implementiert. Außerdem hat er das Buch „Wenn eine Begegnung alles verändert: Ärztinnen und Ärzte erzählen“, in dem Mediziner von augenöffnenden Patientenbegegnungen berichten, mit herausgegeben.
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Warten auf den großen Wurf

Bei Qualität und Transparenz schwächelt das deutsche Gesundheitswesen

Berlin (pag) – Seit 15 Jahren wird im deutschen Gesundheitswesen mit zum Teil erheblichem Aufwand eine Qualitätsberichtserstattung betrieben, die ihr Ziel weitgehend verfehlt: Zwei Drittel der Menschen fühlen sich einer aktuellen Umfrage zufolge schlecht über die Leistungen von Arztpraxen, Krankenhäusern oder Pflegeeinrichtungen informiert. Auf einer Tagung des IKK e.V. wird ein längst überfälliger Perspektivwechsel angemahnt.

© istockphoto.com, Tim Paulawitz

Die Befragung von Kantar Emnid im Auftrag der Bertelsmann Stiftung hat ergeben, dass sich 64 Prozent der Bürger bei der Suche nach einer Arztpraxis, einem Krankenhaus oder einer Pflegeeinrichtung nicht ausreichend informiert fühlt. Das Gefühl der Unsicherheit fällt umso größer aus, je geringer der Bildungsabschluss ist. Zugleich geben 87 Prozent der Befragten an, dass Einrichtungen der Gesundheitsversorgung gesetzlich dazu verpflichtet werden sollten, ihre Qualitätsdaten offenzulegen. 
Es klaffe eine große Lücke zwischen dem Informationsbedarf der Bevölkerung und dem, was das Gesundheitssystem derzeit aus sich heraus an Transparenz bietet, sagt Dr. Stefan Etgeton von der Stiftung. „Die offizielle Qualitätsberichterstattung bleibt deutlich hinter ihren Möglichkeiten zurück.“

Daten sind öffentliches Gut

Der Experte stellt klar, dass die Datenbasis in Deutschland an sich viel Potenzial biete. Man könnte schon heute sehr viel mehr daraus machen, ohne den Dokumentationsaufwand zu erhöhen. Dazu sei es jedoch notwendig, vorhandene Datenbestände allgemein zugänglich zu machen. „Sie sind nicht das Eigentum der Ärzteschaft, der Krankenkassen oder des Staates, sondern ein öffentliches Gut.“ Um Qualität und Transparenz geht es kürzlich auch bei einer Veranstaltung des IKK e.V. Um beides nachhaltig zu verbessern, sei ein Paradigmenwechsel von einer institutionellen Sicht hin zu einer Patientenorientierung notwendig, lautet ein Fazit des Termins.
Das Thema Patientensouveränität ist auch nach 20 Jahren noch nicht gelöst, stellt dort Prof. Eva Maria Bitzer, Pädagogische Hochschule Freiburg, fest. Politik und Gesundheitswesen begeisterten sich deshalb so sehr für Gesundheitskompetenz, weil sie bestrebt seien, die Verantwortung auf die Kompetenz der Menschen abzuwälzen. Bitzer warnt daher: „Gesundheitskompetenz stärken heißt nicht, Patienten zu Ärzten zu machen und Verantwortung abzugeben.“ Das Gesundheitssystem sei patientenorientiert zu gestalten und seine Organisationen so weiterzuentwickeln, dass für alle Menschen gesundheitskompetentes Handeln möglich ist. Die Frage sei nicht, ob die Gesundheitskompetenz der Patienten in Deutschland zu qualitätsorientierten Entscheidungen befähige, erläutert die Professorin. Es gehe vielmehr darum, wie die Versorgungsinstitutionen mündige Entscheidungen zur qualitätsorientieren Inanspruchnahme unterstützen.


Mehr als Ergebnisqualität

Maria Klein-Schmeink (Bündnis 90/Die Grünen) wirbt auf der Veranstaltung für ein breites Qualitätsverständnis. Dieses umfasse mehr als Ergebnisqualität. Aus Perspektive der Patienten beinhalte der Qualitätsbegriff neben der Struktur- und Prozessqualität auch Fragen wie die Nutzerperspektive und -beteiligung sowie Patienteninformation, unterstreicht die stellvertretende Fraktionsvorsitzende. „Man muss den gesamten Patientenweg in den Blick nehmen.“ 
Bislang betreffe die Qualitätssicherung überwiegend den stationären Sektor, ergänzt Prof. Claus-Dieter Heidecke, Leiter des Instituts für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen. Es müsse nicht nur darum gehen, alle stationären Bereiche abzudecken, sondern vor allem den ambulanten Sektor in die Qualitätsbetrachtung mit einzubeziehen. Dieser ist dabei bislang noch immer weitgehend außen vor.

Von links: Maria Klein-Schmeink Bündnis 90/Die Grünen, Prof. Claus-Dieter Heidecke, Leiter des Instituts für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen © pag, Fiolka

 

Weiße Flecken

Ein weiteres Manko betrifft die von Klein-Schmeink angesprochene Nutzerperspektive: Bei der Qualitätsmessung bleiben hierzulande die Erfahrungen der Patientinnen und Patienten meist unberücksichtigt. Die Erhebung von sogenannten „Patient Reported Outcome Measures“ (PROM) ist noch immer die Ausnahme. Bei PROM-Verfahren berichten Behandelte anhand medizinischer Kriterien selbst, wie eine bestimmte Therapie gewirkt hat. Zahlreiche Länder haben PROM bereits in ihr Gesundheitssystem integriert. „Systematische Befragungen von Patientinnen und Patienten über die selbst empfundenen Behandlungsergebnisse finden in Deutschland nicht statt”, heißt es in einem Report von Bertelsmann Stiftung, Technischer Universität Berlin und Weißer Liste. Die Ergebnisqualität werde über klinische Indikatoren oder aus Sekundärdaten ermittelt – was fehle, sei ein zentraler Baustein, der hilft, die Versorgungsqualität aus systemischem und individuellem Blickwinkel zu bewerten. Erste Initiativen wollen diese Lücke schließen, doch landesweit ist die Durchdringung laut Report noch gering: Erst 28 Prozent der Krankenhäuser setzen PROM bereits um, allen voran Universitätskliniken (42 Prozent) und private Krankenhäuser (36 Prozent).

Kennzahlen als „Hilfskrücke“

Last but not least sind in Sachen Qualität und Transparenz auch die Krankenkassen gefragt. Einige von ihnen haben Transparenzinitiativen zu ihrem Leistungsgeschehen gestartet. Beispiel Innungskrankenkassen: Mit Experten aus Leistungsrecht und Controlling entwickelten sie 2021 ein Tableau von Kennziffern, die es den Versicherten ermöglichen sollen, sich ein Bild von der Arbeit ihrer Kasse zu machen. Zu den Kennzahlen gehören Angaben zur Zahl der Gesamtanträge, genehmigte beziehungsweise abgelehnte Anträge bezogen auf die unterschiedlichen Leistungsbereiche sowie ein Überblick über die Anzahl und den Ausgang von Widerspruchsverfahren. An einem kassenartenübergreifenden Aufschlag arbeitet, so ist auf der Veranstaltung zu erfahren, der GKV-Spitzenverband. Dieser soll voraussichtlich Anfang nächsten Jahres umgesetzt werden.
Die Siemens Betriebskrankenkasse veröffentlicht dagegen ihre Kennzahlen zu Widersprüchen und Beschwerden bereits seit einigen Jahren. 2021 hat Kassenvorständin Gertrud Demmler angekündigt, die Qualitätsinitiative stärker auf die direkte Erfahrung der Versicherten auszuweiten. Kennzahlen und Indikatoren geben nur ein indirektes Bild von der Qualität von Krankenkassen geben, „sie sind eine Hilfskrücke“.
Viele Akteure und Beobachter im Gesundheitswesen dürften sich einig sein, dass nach Jahren der Diskussion und Strategieentwicklung ein großer Wurf zu Qualität und Transparenz dringend notwendig ist.

Weiterführender Link:
 
Zur Studie „Patient-Reported Outcome Measures (PROMs): ein internationaler Vergleich:
www.bertelsmann-stiftung.de/de/publikationen/publikation/did/patient-reported-outcome-measures-proms-ein-internationaler-vergleich

Gesundheitskompetenz stärken, aber wie?

Berlin (pag) – Empowerment ist das Gebot der Stunde. Mündige Patienten sollen ärztlichen Rat verstehen und hinterfragen können. Doch wie gelingt das? Darüber diskutieren kürzlich Experten aus Wissenschaft, Medizin und Kommunikation bei einer Veranstaltung des Aktionsbündnis Thrombose.

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Um mit ihrem Arzt in einen Dialog auf Augenhöhe treten zu können, brauchen Patienten vor allem eines: ausreichende und richtige Information. „Gesundheitskompetenz ist die Grundlage von Empowerment“, unterstreicht Prof. Doris Schaeffer vom Interdisziplinären Zentrum für Gesundheitskompetenzforschung der Universität Bielefeld. Im Ergebnisbericht ihres zweiten deutschen Health Literacy Survey (HLS-GER 2) kommt Schaeffer allerdings zu einem ernüchternden Befund: „Die Gesundheitskompetenz der Bevölkerung in Deutschland hat sich in den letzten sieben Jahren (seit der HLS-GER 1, Anm. d. Red.) verschlechtert.“ 58,8 Prozent weisen demnach nur eine geringe Kompetenz auf. Probleme bereitet den Menschen vor allem die Beurteilung gefundener Informationen.

Nutzen und Schaden in Zahlen

Gerd Gigerenzer, Direktor des Harding-Zentrums für Risikokompetenz, sieht die etablierten Online-Anbieter in der Pflicht und appelliert: „Wir müssen über Nutzen und Schaden in Zahlen informieren.“ Als Negativ-Beispiel führt er das Mammographie-Screening an, dessen Nutzen von Patientinnen gerade in Deutschland stark überschätzt werde. Während Dr. Klaus Koch, Chefredakteur von gesundheitsinformation.de, dem Informationsportal des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen, bei der Wissensvermittlung vor allem auf Evidenzbasierung setzt, bringt NetDoktor-Chefredakteur Jens Richter noch einen weiteren Aspekt ins Spiel. Er sagt: „Die Qualität ist dann groß, wenn möglichst viele Suchanfragen beantwortet werden.“ Genau dort hake es etwa bei der Etablierung des Portals gesund.bund durch das Bundesgesundheitsministerium.

Gesundheitskompetenzforscherin Schaeffer mahnt unterdessen an, auch diejenigen nicht aus den Augen zu verlieren, die bei Gesundheitsfragen nicht als Erstes Google konsultieren, sondern vor allem auf die Kompetenz ihrer Ärzte vertrauen. Letztere seien oft nicht befähigt, ihr Wissen auch Patienten zu vermitteln. „Die didaktische Qualität spielt in der ärztlichen Ausbildung eine zu geringe Rolle“, bemängelt Schaeffer.

Therapeuten fördern Gesundheitskompetenz

Köln (pag) – Welche Rolle können therapeutische Berufe bei der Vermittlung von Gesundheitskompetenz spielen? Diese Frage diskutiert kürzlich das Deutsche Netzwerk für Gesundheitskompetenz. Es geht um Chancen und Hürden.

© allianz

Die Referentinnen sind sich einig: Therapeuten haben das Fachwissen sowie die Erfahrung in Beratung und Anleitung, die zur Vermittlung von Gesundheitskompetenz benötigt werden. Ein weiterer Faktor: Im Vergleich zu Medizinern oder Pharmazeuten haben Therapeuten deutlich mehr Zeit, „um in Beziehung zu treten und uns auseinanderzusetzen“, sagt Ergotherapeutin Eva Denysiuk, Vorständin des Council of Occupational Therapists for the European Countries. Da Gesundheitskompetenz eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe sei, brauche es Vernetzung und interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen den therapeutischen Professionen, so die einhellige Forderung der Runde. In der Ausbildung und im Studium komme das Thema Gesundheitskompetenz noch viel zu kurz, berichtet Corinna Wirner. Die Physiotherapeutin ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Gemeinsam mit ihren Kollegen hat sie Lehrpläne für Physiotherapeuten untersucht. Ergebnis: Nur einer von 27 beinhaltet das Thema Gesundheitskompetenz. Gleichzeitig wollen 61 Prozent der von ihnen befragten Physiotherapeuten darüber in der Ausbildung lernen. „Es ist Interesse da. Das sollte man nutzen und darauf eingehen“, sagt Wirner. Außerdem fordert sie, die von den Therapeuten erbrachte Beratung zur Gesundheitskompetenz müsse als Leistung im Heilmittelkatalog vergütet werden.

Nah dran am Patienten

Therapeuten haben deutlich mehr Zeit, um in Beziehung zu treten, sagt Eva Denysiuk. © www.coteceurope.eu

Denysiuk ist überzeugt, dass die starke Lebenswelt- und Klientenorientierung der Ergotherapeuten die „Grundlage für Gesundheitskompetenz“ sind. Die Berufsgruppe mache im Rahmen ihrer Therapie Gesundheitsinformationen erlebbar. Dazu gehörten Beratung und Umweltanpassung, aber eben auch den Patienten beizubringen, erhaltene Informationen anzuwenden. Ergotherapeuten helfen Menschen mit chronischen Erkrankungen, ihren Gesundheitszustand zu managen. „Dann wird häufig gesundheitskompetentes Handeln der Behandlungsauftrag“, sagt Denysiuk.

In der Sprachtherapie geht es um Sprache und kommunikative Kompetenzen. Beides sind für die Logopädin Lucie Hilscher „Voraussetzungen für eine adäquate Gesundheitskompetenz“. Durch ihre Tätigkeit hätten Logopäden Kontakt zu vulnerablen Zielgruppen, der für andere Leistungserbringer oft nur schwer herzustellen sei. Eine große Hürde ist für Hilscher allerdings, dass „Gesundheitsfachkräfte meist nicht in der Lage sind, die Gesundheitskompetenz ihrer Patientinnen und Patienten richtig zu bestimmen und sogar in den meisten Fällen die Fähigkeiten überschätzen“. Das sei für Patienten fatal.

Hinter den Erwartungen zurückgeblieben

Marie-Luise Dierks zur Allianz für mehr Gesundheitskompetenz

Zwar ist Gesundheitskompetenz mittlerweile ein gesellschaftsfähiges Thema, aber echte Fortschritte kann Prof. Marie-Luise Dierks von der Medizinischen Hochschule Hannover noch nicht erkennen. Insbesondere wenn es darum geht, dass das Gesundheitssystem mit seinen Institutionen die gesundheitsbezogenen Fähigkeiten seiner Adressaten aktiv unterstützt.

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Es gibt seit einigen Jahren eine Allianz für mehr Gesundheitskompetenz und einen nationalen Aktionsplan. Erkennen Sie bei der Kompetenz von Bürgerinnen und Bürgern Fortschritte?

Dierks: Gesundheitskompetenz ist inzwischen ein „gesellschaftsfähiges“ Thema, das im Zusammenhang mit zahlreichen Initiativen, Projekten und Interventionen genutzt wird. Dies könnte man, wohlwollend betrachtet, als Fortschritt bezeichnen, und dabei unterstellen, dass diese Aktivitäten hoffentlich in der Summe mehr sind als ein neues, modernes Etikett, sondern tatsächlich Maßnahmen, die auf Wissen und Kompetenzerhöhung fokussieren.

Das klingt etwas desillusioniert…

Dierks: Tatsächlich sehe ich wenig Fortschritte bei der Umsetzung der Erkenntnis, dass Gesundheitskompetenz von Menschen vor allem davon abhängt, wie das Gesundheitssystem insgesamt, die verantwortlichen Institutionen und deren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die gesundheitsbezogenen Fähigkeiten ihrer Adressaten aktiv unterstützen. Hier braucht es mehr Konzepte, und sicher auch Anreize für eine organisationale Gesundheitskompetenzförderung, wie sie auch im Nationalen Aktionsplan und im Positionspapier des Deutschen Netzwerks Gesundheitskompetenz gefordert werden.

Wie sieht es konkret bei der Allianz aus?

Dierks: Auch die Allianz für mehr Gesundheitskompetenz ist bislang hinter den Erwartungen zurückgeblieben, klare Konzepte für die angekündigte Integration von Gesundheitskompetenz in die Aus-, Fort- und Weiterbildung und eine Stärkung der organisationalen Gesundheitskompetenz sind nicht erkennbar. Erfreulich ist jedoch, dass das bei der Gründung 2017 angekündigte Nationale Gesundheitsportal inzwischen gestartet ist, auch wenn die Kooperation mit anderen evidenz-basierten Gesundheitsportalen noch nicht abschließend geklärt ist. Zukünftig ist hier sicher auch eine Weiterentwicklung über die reine Informationsvermittlung hinaus zu diskutieren. Im Zusammenhang mit dem Nationalen Gesundheitsportal wurde im Übrigen deutlich, wie sehr inzwischen Gesundheitsinformationen als Ware begriffen werden. Dies belegen die Bemühungen großer Verlage, die aus meiner Sicht durchaus sinnvolle Initiative des Gesundheitsministers, gute Informationsseiten im Google-Ranking prominent zu platzieren, über den Klageweg zu stoppen. Um also Menschen zu befähigen, mit den An- und Zumutungen der digitalen Gesundheitswelt umzugehen, hat ja der Gesetzgeber reagiert und die Krankenkassen definitiv verpflichtet, Leistungen zur Förderung der digitalen Gesundheitskompetenz zu entwickeln und für ihre Versicherten anzubieten. Allerdings ist der § 20k SGB V eindeutig auf die Stärkung der individuellen Kompetenzen der Menschen ausgelegt. Der explizite Gedanke, dass die Organisationen selbst Anpassungen ihrer Struktur, ihrer Angebote und in ihrem Kontakt mit den Versicherten vornehmen und ihre Anstrengungen auf die Förderung der Gesundheitskompetenz ausrichten müssten, unterbleibt zunächst (noch), auch wäre durchaus eine Ausweitung einer solchen Strategie auf andere Organisationen denkbar.

Hat sich die Gesundheitskompetenz der Bürgerinnen und Bürger verbessert?

Dierks: Gemessen an den Ergebnissen des Zweiten Health Literacy Survey Germany, die das Forscherteam an der Universität Bielefeld in 2020 vergleichend zu ihrer Erhebung 2014 vorgestellt hat, leider eher nein, im Gegenteil, die aus den Selbsteinschätzungen der Befragten deutlich gewordenen Einschätzungen, wie gut sie sich im Gesundheitswesen zurechtfinden, hat sich verschlechtert. Relevant ist dabei vor allem die Erkenntnis, dass besonders im Bereich der Krankheitsbewältigung und bei der Beurteilung von Gesundheitsfragen die Unsicherheit der Menschen erkennbar angestiegen ist.

Haben Sie dafür eine Erklärung?

Dierks: Für die Entwicklung gibt es keine pauschale Erklärung. Ist es die Pandemiesituation, die besonders deutlich macht, wie wichtig vertrauenswürdige Informationen sind und wie schwer es oft auch gut Gebildeten fällt, sich zurechtzufinden? Ist es gerade die Vielfalt der Informationen, sind es immer noch intransparente Qualitätskriterien und eine sich mehr und mehr ausdifferenzierende Beratungs- und Unterstützungsvielfalt? Oder, durchaus wahrscheinlich, ein sich unter ökonomischem Druck und schwierigen Rahmenbedingungen veränderndes Kommunikations- und Informationsverhalten der Professionellen im Gesundheitswesen? Leider gibt es (noch) keinen Königsweg, wie es wirklich gelingen kann, alle Menschen im Umgang mit ihrer Gesundheit adäquat zu unterstützen und die Strukturen der gesundheitlichen Versorgung darauf auszurichten.

Prof. Marie-Luise Dierks © pag, Fiolka

 

ZUR PERSON
Prof. Marie-Luise Dierks leitet an der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) den Forschungsschwerpunkt Patientenorientierung und Gesundheitsbildung sowie den Masterstudiengang Bevölkerungsmedizin und Gesundheitswesen. 2007 übernahm sie die Leitung der ersten deutschen Patientenuniversität an der MHH. Dierks habilitierte sich zum Thema „Empowerment und die Nutzer des deutschen Gesundheitswesens“. © pag, Fiolka

Transparenzoffensive zur Kassenqualität

Gertrud Demmler setzt auf die Erfahrungen der Versicherten

Berlin (pag) – Dr. Gertrud Demmler, Vorständin bei der Siemens Betriebskrankenkasse (SBK), setzt sich dafür ein, dass die Erfahrungen von Versicherten eine wichtige Rolle bei der Bewertung der Krankenkassenqualität spielen. Dafür müsse die Politik die Rahmenbedingungen schaffen, fordert sie.

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Die SBK engagiert sich seit Jahren für mehr Transparenz. Welche Hürden verhindern, dass Patienten mehr über Leistungen und Qualität der GKV erfahren?

Demmler: Heute fußen Krankenkassenvergleiche fast ausnahmslos auf dem Vergleich des Zusatzbeitrags sowie einiger weniger meist eher theoretischen Leistungen. Diese Art des Krankenkassenvergleichs ist für die Versicherten für die Wahl der passenden Krankenkasse – wenn überhaupt – nur von minimalem Wert. Denn was für den Versicherten zählt, ist doch die Frage, wie kundenzentriert eine Krankenkasse
agiert und vor allem, ob sie im Leistungsfall zuverlässig einspringt. Derartige Fragestellungen können nur durch die Versicherten selbst beantwortet werden. Die Erfahrungen der Versicherten müssen daher der zentrale Baustein einer Transparenzinitiative werden, die auf die Qualität der gesetzlichen Krankenkassen fokussiert. Dafür setzt sich die SBK seit Jahren ein. Basis für diese Qualitätstransparenz wäre eine über alle Krankenkassen einheitliche und verpflichtende Kundenbefragung, deren Ergebnisse dann in vergleichbarer Form veröffentlicht werden müssen. Um dies zu erreichen, muss die Politik die Rahmenbedingungen schaffen, die bisher fehlen.

Gibt es weitere Hürden?

Demmler: Eine weitere Hürde für mehr Transparenz über die Krankenkassenqualität ist das Fehlen einer Veröffentlichungspflicht von Qualitätsindikatoren. Als solche Indikatoren eignen sich zum Beispiel die Anzahl der Widersprüche oder auch die Anzahl der Beschwerden, die bei der Krankenkasse selbst oder bei unabhängigen Stellen wie der UPD eingehen. Einige Krankenkassen veröffentlichen solche Qualitätsindikatoren bereits auf freiwilliger Basis. Diese lassen sich bisher jedoch nicht untereinander vergleichen, da auch hier der einheitliche Rahmen, wie diese Zahlen zu dokumentieren und zu veröffentlichen sind, fehlt. Zusammenfassend kann man festhalten: Die wichtigste Hürde, die es auf dem Weg zu echter Qualitätstransparenz zu überwinden gilt, ist eine Veröffentlichungspflicht. Dafür brauchen wir einen gesetzlichen Rahmen.

Initiativen für mehr Gesundheitskompetenz gibt es einige. Kommt dabei die Systemkompetenz zu kurz? Parallelstrukturen etwa in der Notfallversorgung lassen die Versicherten verwirrt zurück.

Demmler: Nach meiner Überzeugung sollte unser Fokus darauf liegen, ein Gesundheitssystem zu schaffen, in dem man sich auch ohne Weiterbildung leicht zurechtfindet. Die dringend notwendige Weiterentwicklung des sektoralen Systems muss auch die „Nutzerfreundlichkeit“ der Strukturen unter die Lupe nehmen und reformieren. Die ePA sowie die Telematikinfrastruktur, die den Austausch von Daten über sektorale Grenzen hinweg und vor allem auch mit dem Patienten oder der Patientin selbst deutlich erleichtern werden, werden einen wichtigen Beitrag zur Verringerung von Komplexität im System leisten. Eine mindestens ebenso wichtige Rolle für die Förderung von Gesundheits-(System-)Kompetenz spielen individuelle Beratungsrechte der Krankenkassen.

Warum?

Demmler: Krankenkassen sind wichtige Begleiter von Patientinnen und Patienten insbesondere dann, wenn sie in komplexen Leistungsfällen Rat suchen. Um dieser Rolle umfassend im Sinne der Versicherten gerecht zu werden, benötigen die Krankenkassen aber noch weitreichendere proaktive Beratungsrechte und aktuelle Diagnosedaten. Denn der Schlüssel für einen wirksamen Gesundheitskompetenzaufbau liegt darin, die Versicherten im richtigen Moment mit zur individuellen Situation passenden Informationen zu erreichen. Ziel einer solchen intelligenten gegebenenfalls KI-gestützten Beratung ist es, dem Patienten oder der Patientin die Behandlungsalternativen sowie deren Chancen und Risiken verständlich aufzuzeigen, sodass er oder sie eine selbstbestimmte und informierte Entscheidung über den individuell besten Weg treffen kann. Anlasslose Kompetenzschulungen wie ein generischer „IT-Führerschein“ oder „So-funktioniert-App-XY-Schulungen“ bringen dagegen nicht viel – sowieso sollte man eine App nicht schulen müssen. Ist sie nicht selbsterklärend, funktioniert sie nicht.

Dr. Gertrud Demmler © pag, Fiolka

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ZUR PERSON
Dr. Gertrud Demmler ist Vorständin bei der Siemens-Betriebskrankenkasse (SBK). Sie ist seit 1998 bei der SBK. Vor ihrem Wechsel zur Kasse sammelte sie unter anderem Erfahrungen im Gebiet der Krankenhausfinanzierung an der Universität der Bundeswehr in München sowie als Referentin für Sozialpolitik, Arbeitsmarktpolitik und Europa bei der Vereinigung der Arbeitgeberverbände in Bayern. Gertrud Demmler promovierte in Volkswirtschaft an der Universität der Bundeswehr in München. © pag, Fiolka

„Die Probleme beginnen schon beim Zugang“

Thorben Krumwiede über mangelnde Patientenzentrierung

UPD-Geschäftsführer Thorben Krumwiede berichtet von Problemen, die das komplexe
Gesundheitssystem den Patienten bereitet. Er sagt: „Auf dem Weg zu einem wirklich patientenzentrierten Gesundheitswesen gibt es offensichtlich noch erhebliches Verbesserungspotenzial.“

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Das deutsche Gesundheitswesen wird häufig als eines der besten der Welt gepriesen. Aber finden sich die Patienten darin zurecht oder stehen Sektorengrenzen etc. einer echten Patientenzentrierung im Weg?

Krumwiede: Das deutsche Gesundheitswesen ist sicherlich sehr leistungsfähig. Ob es in jeder Hinsicht wirklich Weltklasse-Format hat, kann und will ich nicht abschließend beurteilen. Als Patientenberatung erleben wir jedenfalls tagtäglich, auf welche Schwierigkeiten Patientinnen und Patienten und auch deren Angehörige stoßen. Genau da setzt dann unsere Arbeit an. Wir informieren und beraten individuell, um so für Ratsuchende, die sich an uns wenden, die „Nutzung“ unseres komplexen Gesundheitswesens zu erleichtern. Mit unserer Arbeit wollen wir die Gesundheitskompetenz derjenigen, die sich bei uns melden, stärken.

Was genau verstehen Sie unter Stärkung der Gesundheitskompetenz?

Krumwiede: Darunter verstehen wir, dass mehr Menschen in Deutschland in der Lage sein sollen, auf der Basis verlässlicher Gesundheitsinformation eigenständig die für sie passenden Entscheidungen zu treffen. Das setzt immer auch voraus, dass die Menschen Informationen nicht nur verstehen, sondern für sich bewerten und in persönliche Entscheidungen übersetzen können. Unsere Beratung kann dazu einen wichtigen Beitrag leisten. Mit Blick auf die angesprochenen Sektorengrenzen können wir vielfach eine Lotsenfunktion übernehmen. Denn wir stellen immer wieder fest: Die Probleme beginnen für viele Menschen schon beim Zugang zum Gesundheitswesen, also der Frage: Wie finde ich für mein Problem den richtigen Arzt/die richtige Ärztin, die bestmögliche Behandlung oder die passende Klinik? Unsere Beratung versteht sich dabei häufig in dem Sinne als Türöffner. Neben dieser individuellen Ebene der Unterstützung und Begleitung ist uns auch die Rückmeldung ans System wichtig.

Warum?

Krumwiede: Weil wir durch unsere Beratung in Erfahrung bringen, wo es in unserem Gesundheitswesen an Patientenorientierung mangelt, können wir den Akteuren des Gesundheitswesens aufzeigen, was verbessert werden sollte. Mit Blick auf Sektorengrenzen zeigt sich mangelnde Patientenorientierung etwa beim eigentlich gesetzlich geregelten Entlassmanagement, um nur ein Beispiel zu nennen. Bei der Anschlussversorgung kommt es immer wieder zu Lücken und Angehörige berichten etwa häufig von den Schwierigkeiten, nach einem Krankenhausaufenthalt kurzfristig einen Platz in einer Pflegeeinrichtung organisieren zu müssen. Auf dem Weg zu einem wirklich patientenzentrierten Gesundheitswesen gibt es offensichtlich noch erhebliches Verbesserungspotenzial!

Sie haben das Leistungsgeschehen der GKV als blinden Fleck bezeichnet. Was meinen Sie damit und wie lässt sich Licht ins Dunkel bringen?

Krumwiede: Aus der Versichertenperspektive erscheint die Art und Weise, ob und wie Krankenkassen Leistungen erbringen, oft wenig transparent. Dabei sind gesetzlich nachvollziehbare Entscheidungswege vorgesehen. Versicherte sollen wissen, auf welchen Grundlagen ihre Kasse entscheidet – und sie sollen unkompliziert in der Lage sein, gegen eine – aus ihrer Sicht – falsche Entscheidung Widerspruch einzulegen. Viele Ratsuchende erleben in der Praxis zahlreiche Hürden und ein Verhalten der Krankenkassen, das selten patientenorientiert und viel zu häufig sogar rechtlich unzulässig oder zumindest sehr fragwürdig erscheint.

Können Sie das konkretisieren?

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Krumwiede: Versicherte erhalten immer wieder Zwischeninformationen von ihren Krankenkassen, die den Eindruck erwecken, über einen Leistungsantrag sei bereits entschieden und der Antrag abgelehnt worden. Vielfach lassen Krankenkassen auch die Rechtsbehelfsbelehrungen weg, die, vereinfacht gesagt, wichtige Hinweise enthalten, wie Versicherte sich gegen eine aus ihrer Sicht falsche Entscheidung zur Wehr setzen können. Im Ergebnis werden die Versicherten verunsichert und lassen sich entmutigen, anstatt auf ihrem guten Recht zu bestehen. Seit Jahren nehmen Beratungen zum Thema Leistungsansprüche in unserer Beratung den Spitzenplatz ein. Viel zu viele dieser Beratungen drehen sich darum, dass Versicherte den Weg zur Leistungsgewährung als Hürdenlauf erleben. Spiegelbildlich zur mangelnden Transparenz bei der Leistungsgewährung im Einzelfall können sich Versicherte heute auch übergreifend kein wirklich klares Urteil über die Leistungsbereitschaft von Krankenkassen bilden.

Was fehlt?

Krumwiede: Es fehlen schlicht Vergleichsmöglichkeiten, wie Krankenkassen bei der Gewährung von Leistungen agieren. Im Wettbewerb der gesetzlichen Kassen spielen die Beitragshöhe und Kriterien wie Bonusprogramme oder Satzungsleistungen eine zentrale Rolle; die Qualität der Krankenkassen kann dagegen kaum beurteilt werden. Um „Licht ins Dunkel“ der Leistungsgewährung zu bringen, müsste es für die Versicherten entsprechend einfach nachvollziehbare und vergleichbare Übersichten zu Ablehnungs- und Gewährungsquoten und Bearbeitungszeiten von Leistungsanträgen geben. So könnten die Versicherten besser erkennen, ob ihre Krankenkasse in den Bereichen stark ist, auf die es ihnen besonders ankommt. Allgemeine Transparenz würde also auch die individuelle Entscheidungsfindung gut unterstützen. Einige Kassen haben damit begonnen, mehr Transparenz zu schaffen. Das befürworten wir! Doch sinnvoll wird diese Form von Leistungstransparenz erst richtig, wenn alle mitziehen.

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ZUR PERSON
Thorben Krumwiede ist seit 2016 Geschäftsführer der UPD. Nach einem Studium der Betriebswirtschaft begann Krumwiede seine berufliche Laufbahn 2003 beim AOK Bundesverband Bonn, wo er als Projektmanager im Geschäftsbereich Change Management tätig war. Weitere Stationen waren im Versorgungsmanagement der AOK Rheinland-Hamburg, als Leiter Produktmanagement bei der Anycare GmbH und als Leiter des Malteser Service Centers bei der Malteser Hilfsdienst gGmbH in Köln. © pag, Fiolka

Leitbild versus Realität

Patientenkompetenz in Deutschland

Berlin (pag) – Die Politik hat sich die Verbesserung der Gesundheitskompetenz auf die Fahnen geschrieben, doch bisher sind die Erfolge mehr als überschaubar. Das Leitbild mündiger Patienten ist trotz symbolträchtiger Allianzen noch immer in weiter Ferne. An die längst überfällige Reform der Unabhängigen Patientenberatung Deutschland (UPD) will die Politik dagegen derzeit noch nicht so recht heran.  

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Die Unabhängige Patientenberatung Deutschland hat kürzlich ein Konzept zur Weiterentwicklung der Beratungsinstitution vorgelegt. Im Prinzip geht es darin um dreierlei: Erstens Verstetigung, denn derzeit ist gesetzlich festgelegt, dass die UPD alle sieben Jahre per Vergabeverfahren neu ausgeschrieben wird. Damit besteht die Gefahr, dass zum Ende der Laufzeit Beratungskompetenz und -erfahrung verloren gehen, sagt UPD-Geschäftsführer Thorben Krumwiede bei einem Pressegespräch. Er strebt außerdem eine andere Form der Finanzierung an – „frei von Partikularinteressen“, wie es in dem Konzept heißt. Die bisherige Finanzierung durch den GKV-Spitzenverband gilt als einseitig und hinderlich für die Beratung und Zusammenarbeit. Drittens soll die Beratung der UPD weiterentwickelt werden. Krumwiede denkt an Webinare, Chats und eine Kontaktaufnahme via elektronischer Patientenakte (ePA) ohne Medienbrüche.
Ob, wie und wann sich die Politik auf eine Weiterentwicklung der UPD verständigen wird, ist derzeit noch unklar. Als die Presseagentur Gesundheit kürzlich bei Politikern nachfragte, war das Stimmungsbild bei Union und SPD uneinheitlich. Dieses Zögern kommt nicht gut an. Kritik kommt etwa vom VdK bei einer Anhörung zum Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungsgesetz (GVWG) Mitte April. Die Reform sollte genutzt werden, um die UPD in eine dauerhafte, solide Form zu überführen. Eine unabhängige UPD hat im Februar auch die BAG Selbsthilfe verlangt.

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„Menschen irren durch das System“
Detaillierten Aufschluss über ihre Beratungsleistung gibt die UPD in ihrem jährlich erscheinenden Monitor, der auch als Seismograf für mögliche Verwerfungen im Gesundheitswesen gelesen werden kann. Im Monitor 2019 lautete ein Fokus-Thema beispielsweise „Menschen mit unklaren Beschwerden irren durch das System“. Im vergangenen Jahr kritisierte die UPD unter anderem, dass hilfsbedürftige Ratsuchende von ihrer Krankenkasse angewiesen werden, sich selbst um die Organisation einer Haushaltshilfe zu kümmern – trotz eindeutig anderslautender Bestimmungen.

Auf der politischen Agenda

Etwas verwunderlich ist es schon, dass die Politik bei der UPD-Reform noch zaudert, steht doch das Thema Gesundheitskompetenz derzeit politisch hoch im Kurs – zumindest als Lippenbekenntnis. Die Frage, ob es gelungen sei, diesem Politikfeld in der politischen Agenda einen festen Platz einzuräumen, hat die Sprecherin des Nationalen Aktionsplans Gesundheitskompetenz, Prof. Doris Schaeffer, auf einer Veranstaltung im Februar klar bejaht. Zur Erinnerung: 2017 hat der damalige Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe neben einem Nationalen Aktionsplan Gesundheitskompetenz zusammen mit den Spitzen der Selbstverwaltung des deutschen Gesundheitswesens die „Allianz für Gesundheitskompetenz“ ins Leben gerufen. Zu den Partnern gehören unter anderem die Bundesärztekammer, die Kassenärztliche Bundesvereinigung, der GKV-Spitzenverband, die Deutsche Krankenhausgesellschaft und einige mehr. Sie alle haben sich dazu verpflichtet, neue Projekte für eine bessere Gesundheitskompetenz zu entwickeln (siehe Infokasten). Dabei geht es um mehr allgemeine Gesundheitsbildung, um besser verständliche und zugleich wissenschaftlich fundierte Gesundheitsinformationen, vor allem auch im Internet, und um eine bessere Kommunikation zwischen Ärzten, den Gesundheitsberufen und Patienten.

Weit entfernt vom Leitbild

An Allianzen und Aktionsplänen mangelt es somit nicht. Umso paradoxer, dass sich die Gesundheitskompetenz hierzulande in den letzten sechs Jahren verschlechtert hat. Das zumindest konstatiert Schaeffer, als sie Ende Januar das Ergebnis der zweiten internationalen Health Literacy Studie auf dem Cochrane Deutschland Symposium präsentiert. Demnach sehen sich rund 60 Prozent der Befragten im Umgang mit Gesundheitsinformationen vor erhebliche Schwierigkeiten gestellt, nur 15 Prozent wird eine exzellente Gesundheitskompetenz attestiert. Knackpunkt ist vor allem die Beurteilung solcher Informationen, zwei Drittel der Teilnehmer haben damit Probleme. Von dem gesundheitspolitischen Leitbild mündiger Bürgerinnen und Bürger, die Ärztinnen und Ärzten und den Fachkräften im Gesundheitswesen als „Experten ihrer selbst“ gut informiert gegenübertreten und Entscheidungen auf dieser Basis gemeinsam mit ihnen treffen, ist man noch immer weit entfernt.

Umstrittenes Portal

Das Bundesgesundheitsministerium setzt derzeit vor allem auf ein nationales Gesundheitsportal, um die Kompetenz der Patienten zur verbessern. Unumstritten ist dieses allerdings nicht – unter anderem wegen einer Kooperation mit Google. Die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestags haben bemängelt, das Portal könne gegen die Pressefreiheit verstoßen. „Eine Kooperation mit Google, die faktisch zur Monopolstellung eines solchen Portals führen würde, könnte dagegen einen ungerechtfertigten Verstoß gegen die Pressefreiheit und insbesondere gegen das Gebot der Staatsferne bedeuten“, heißt es in dem Gutachten. Darin wird außerdem die Frage gestellt, ob besagtes Portal überhaupt notwendig sei. „Es gibt bereits ein spezielles Aufklärungsportal des BMG, nämlich die BzGA.“ Die Wissenschaftler verweisen außerdem auf seriöse private Portale. Denkt man beispielsweise an die Informationen des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen, an den Krebsinformationsdienst sowie das Angebot „Was hab ich“, erscheint die im Gutachten aufgeworfene Frage überaus berechtigt.

Mangelnde Patientenorientierung

Auffällig ist, dass bei den meisten Initiativen die navigierende Kompetenz unterbelichtet bleibt. Vielleicht weil es dann ans Eingemachte geht, an ein System, das an vielen Stellen überaus reformbedürftig ist und von echter Patientenorientierung oft sehr weit entfernt. Nicht nur für vulnerable Gruppen ist die Orientierung im Versorgungssystem eine Herausforderung. Viele Patienten finden sich im Labyrinth des Gesundheitssystems nur schwer zurecht, kritisiert der VdK bei der GVWG-Anhörung. Schwer verständliche Qualitätsberichte, eine immer noch verwirrend organisierte Notfallversorgung und dergleichen mehr zeigen, dass Lotsen dringend benötigt werden – zumindest so lange, bis eine tatsächliche Patientenorientierung des Systems kein naives Wunschdenken mehr ist. Nicht unterschätzt werden darf dabei, dass die zunehmende Digitalisierung den Bedarf für Assistenz und Unterstützung noch vergrößern dürfte. Wird das nicht mitgedacht, dürfte der digitale Wandel des Gesundheitswesens kaum mehr als ein Strohfeuer bleiben.

„Menschen irren durch das System“

Detaillierten Aufschluss über ihre Beratungsleistung gibt die UPD in ihrem jährlich erscheinenden Monitor, der auch als Seismograf für mögliche Verwerfungen im Gesundheitswesen gelesen werden kann. Im Monitor 2019 lautete ein Fokus-Thema beispielsweise „Menschen mit unklaren Beschwerden irren durch das System“. Im vergangenen Jahr kritisierte die UPD unter anderem, dass hilfsbedürftige Ratsuchende von ihrer Krankenkasse angewiesen werden, sich selbst um die Organisation einer Haushaltshilfe zu kümmern – trotz eindeutig anderslautender Bestimmungen.

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Nachgefragt bei der DKG: Allianz für Gesundheitskompetenz – was macht die Deutsche Krankenhausgesellschaft?
Die DKG ist an folgenden Projekten der Allianz für Gesundheitskompetenz beteiligt:
1) Gesundheitskompetente Organisationen
Hier soll ein bis 2022 wissenschaftlich zu entwickelnder Methodenkoffer u. a. in Krankenhäusern erprobt werden.
2) Programm: Shared-Decision-Making im Krankenhaus – In einem Modellprogramm sollen die Wirksamkeit sowie die Voraussetzungen, Erfolgsfaktoren und Hemmnisse an fünf teilnehmenden Kliniken in Deutschland untersucht werden.
3) Kommunikationskompetenz von Gesundheitsfachberufen als Bestandteil der Fort- und Weiterbildung
4) Zudem war die DKG an der Ausrichtung eines Symposiums beteiligt, bei dem Models of Good Practice vorgestellt wurden.

Nachgefragt bei der KBV: Allianz für Gesundheitskompetenz – was macht die KBV?
1)    Abfrage zur Gesundheitskompetenz in der KBV-Versichertenbefragung
2)    Konferenz zum Thema Gesundheitskompetenz
    Vertreter aus Wissenschaft, Gesundheitswesen und Politik tauschten sich über bestmögliche Ansätze aus, der Bevölkerung mehr Gesundheitskompetenz zu vermitteln.
3)    Gesundheitskompetenz in der Notfallversorgung
    Die KBV hat Informationsmaterialien zur gezielten Nutzung der verschiedenen Angebote entwickelt. Die 116117 wurde zum innovativen Patientenservice ausgebaut, das Angebot geht inzwischen weit über die Rufnummer des ärztlichen Bereitschaftsdienstes hinaus.
4)    Patienteninformationen und Instrumente zur Bewertung der Qualität von Patienteninformationen über das ÄZQ
Das ÄZQ erstellt Patienteninformationen zu häufigen Krankheitsbildern, zunehmend auch in Fremdsprachen und in leichter Sprache. Die KBV hat in ihrem Qualitätszirkel-Konzept die Module „Arzt-Patienten-Kommunikation“ und „Methoden und Instrumente der Evidenzbasierten Medizin – evidenzbasierte Patienteninformationen“ aufgenommen. Im KBV Qualitätsmanagementverfahren QEP sind zwischenzeitlich die Qualitätsziele „Erkrankungsspezifische Information, Beratung und Schulung“ und „Eigenverantwortung und Mitwirkung der Patienten“ eingeflossen.