Berlin (pag) – Mit dem Gesetzesentwurf „zur finanziellen Stabilisierung der gesetzlichen Krankenversicherung“ verlangt Gesundheitsminister Prof. Karl Lauterbach allen Akteuren des Gesundheitswesens viel ab. Besonders die Arzneimittelindustrie wird zur Kasse gebeten. Neben Milliarden-Zahlungen soll das AMNOG stark verändert werden.
Der GKV steht 2023 ein Defizit im Umfang von mindestens 17 Milliarden Euro ins Haus. Fachleute rechnen sogar mit bis zu 25 Milliarden Euro. Die pharmazeutische Industrie muss sich laut geplantem Gesetz unter anderem auf folgende Maßnahmen einstellen: Das Bundesgesundheitsministerium (BMG) will das Preismoratorium über den 31. Dezember 2022 um weitere vier Jahre verlängern. Außerdem verlangt Lauterbach der Industrie für 2023 und 2024 jeweils eine Milliarde Euro „Solidaritätsabgabe“ ab. (Nach Redaktionsschluss liegt ein Kabinettsentwurf vor: Darin findet sich die „Solidaritätsabgabe“ nicht mehr, dafür aber ein erhöhter Herstellerabschlag um fünf Prozentpunkte.)
Stichwort AMNOG: Der zwischen GKV-Spitzenverband und Hersteller verhandelte Erstattungsbetrag für neue Arzneimittel soll künftig rückwirkend ab dem siebten Monat nach Inverkehrbringen des Medikaments gelten. Außerdem trifft das Gesetz Vorgaben für Erstattungsbeträge von Arzneimitteln, die nach dem Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses im AMNOG-Verfahren keinen, einen geringen oder einen nicht quantifizierbaren Zusatznutzen haben. Die Umsatzschwelle von Orphan Drugs für die Nutzenbewertung will Lauterbach von 50 auf 20 Millionen Euro reduzieren. Zudem wird für Arzneimittel mit neuen Wirkstoffen ein Kombinationsabschlag in Höhe von 20 Prozent auf den Erstattungsbetrag eingeführt.
Solidarausgleich zwischen Kassen
Auch die Krankenkassen müssen ihren Anteil leisten. Für sie ist ein „kassenübergreifenden Solidarausgleich“ vorgesehen. Dabei sollen in zwei Stufen die Finanzreserven, die abzüglich eines Freibetrags von zwei Millionen Euro 0,2 Monatsausgaben überschreiten, abgeschöpft werden.
Die gesetzliche Obergrenze für die Finanzreserven der Kassen soll von 0,8 auf 0,5 Monatsausgaben gesenkt werden. Diese Grenze gelte auch für das bestehende Anhebungsverbot für Zusatzbeitragssätze. Außerdem will das BMG eine Reduzierung der Obergrenze für die Liquiditätsreserve des Gesundheitsfonds von derzeit 0,5 auf 0,25 Monatsausgaben festlegen. Der Anstieg der sächlichen Verwaltungsausgaben der Kassen für 2023 dürfe nicht höher als drei Prozent gegenüber 2022 sein. Die Zuweisungen an die Kassen für Verwaltungsausgaben sollen um 25 Millionen Euro gemindert werden.
Vertragsärzte müssen künftig ohne die extrabudgetäre Vergütung für neue Patienten auskommen. Dabei handelt es sich um eine Regelung aus dem Terminservice- und Versorgungsgesetz, die eindeutig Lauterbachs Handschrift trägt. Im Krankenhaus sollen ab 2024 nur noch die Personalkosten qualifizierter Pflegekräfte, die direkt am Bett arbeiten, im Pflegebudget berücksichtigt werden. Einen Schuldigen für das GKV-Defizit macht Lauterbach bei der Vorstellung der Eckpunkte aus: seinen Vorgänger Jens Spahn. Der habe teure Gesetze auf den Weg gebracht und Strukturreformen versäumt. Lauterbach habe das Minus zum großen Teil „geerbt“. Die Spahnsche Gesetzgebung hat zweifelsohne immense Kosten verursacht. Dass Lauterbachs Einfluss als damaliger Gesundheitsexperte im SPD-Fraktionsvorstand auf eben diese Gesetze nicht gering war, verschweigt der Minister an diesem Tag.
Welche Herausforderungen Expertinnen und Experten sehen
Berlin (pag) – Bundesgesundheitsminister Prof. Karl Lauterbach hat angekündigt, das Gesundheitswesen auf Evidenz auszurichten. Was es konkret bedeutet, wenn Evidenz und Wissenschaftlichkeit als Grundlage gesundheitspolitischer Entscheidungen sind, welche Weichen dafür gestellt werden müssen und wo die Grenzen dessen liegen, haben wir renommierte Expertinnen und Experten gefragt.
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„Überbordende Erlösoptimierung beseitigen“
Prof. Tanja Krones
Welches ist die wichtigste Weichenstellung für eine konsequent an der evidenzbasierten Medizin orientierten Gesundheitspolitik?
Niemand würde heute ernsthaft behaupten, dass es eine Alternative zu einer auf Evidenz, also auf wissenschaftlichen Fakten, beruhenden Medizin gibt. „Evidenz“ und „evidenzbasierte Medizin“ sind aber keine geschützten Begriffe, sondern vielfach nur Schlagworte. In Medizin und Gesundheitspolitik wird oft selektiv nur auf die Evidenz verwiesen, die zur eigenen Meinung und Überzeugung passt. Leitend sind also nicht die Fakten, sondern finanzielle Anreize. Aus Sicht des EbM-Netzwerks sind daher zentrale Kurskorrekturen erforderlich, die wir kürzlich als fünf Forderungen für eine evidenzbasierte Gesundheitspolitik publiziert haben. Als wichtigste Maßnahme haben wir festgehalten, dass die finanziellen Fehlanreize und die überbordende Erlösoptimierung im Gesundheitswesen beseitigt werden müssen. Wir brauchen insgesamt eine konsequentere Ausrichtung an einer Daseinsfürsorge statt einer Kommerzialisierung des Gesundheitswesens.
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„Ein großes Gefälle“
Dr. Monika Lelgemann
Wie hoch ist der Anteil gesicherter evidenzbasierter Leistungen im GKV-Leistungskatalog? Wie stehen Sie zu einer kritischen Sichtung des Leistungskatalogs und dem Ausschluss von Leistungen ohne Evidenznachweis?
Die Ankündigung, beim GKV-Leistungskatalog verstärkt auf einen echten Evidenzbezug zu achten, interpretiere ich als Unterstützung der Arbeit des G-BA. Das ist der richtige Weg. Derzeit nehme ich allerdings in der Bewertung ein großes Gefälle zwischen Arzneimitteln und nichtmedikamentösen Leistungen wahr. Das darf so nicht bleiben. Bei neuen Untersuchungs- und Behandlungsmethoden braucht es ebenfalls einen stärkeren datengestützten Vergleich zu etablierten Methoden durch aussagekräftige Studien – und zwar bevor Innovationen auf den Markt kommen. Bisher ist die Evidenz zu oft unzureichend. Bei vielen Leistungen, die schon vor Gründung des G-BA im Leistungskatalog waren, können wir nichts zum Evidenzlevel sagen. Ich glaube, Ressourcen auf die Bewertung neuer Methoden zu konzentrieren, fördert den konsequenten Evidenzbezug mehr, als es eine umfassende Sichtung des bestehenden Katalogs jemals könnte. Völlig klar ist: Unwirksame oder gar schädliche Methoden sind natürlich auszuschließen.
„Genaue Messung und schnelle Auswertung“
Prof. Christof von Kalle
Auf einer Skala von 1 bis 10 – wie evidenzbasiert schätzen Sie die Gesundheitspolitik der vergangenen Legislatur ein? In welchem Bereich ist der Nachholbedarf an Evidenzbasierung besonders hoch?
Die SARS-CoV-2-Pandemie hat gezeigt, dass wissenschaftliche Daten aus Grundlagenforschung, translationaler und klinischer Forschung die einzige Chance sind, große Herausforderungen an das Gesundheitssystem wirksam, human, sozial und wirtschaftlich zu bewältigen. Wissenschaftliche Daten stehen im Gesundheitssystem aber oft hinter wirtschaftlichen Interessenkonflikten der Stakeholder zurück. Zudem ist evidenzbasierte Entscheidungsfindung ohne Evidenzerhebung nicht möglich. Dabei sind die genaue Messung und schnelle Auswertung primärer Daten entscheidend. Hierfür fehlt in Deutschland aber leider bisher eine nachhaltig geförderte Infrastruktur für randomisierte klinische Studien und eine systematische digitale Gesundheitsdatenerfassung völlig. Dies hat unserer Bevölkerung geschadet.
Klinisch ermöglichen nur vorangelegte digitale Datennetzwerke eine Beschleunigung der Entwicklung von Wissen und Innovationen, zum Beispiel zu Impfstoffen. Metaanalysen der finalen Stufen evidenzbasierter Medizin über randomisierte klinische Studien erzeugen zwar keine primäre molekulare oder biologische Evidenz, aber liefern später extrem wichtige Korrelationen zur Wirksamkeit neuer Verfahren. Mit den richtigen Werkzeugen wird die Wissenschaft in Zukunft also Evidenz noch besser bereitstellen und bei ihrer Interpretation beraten können. Dabei bleibt die Verantwortung für Entscheidungen zu Interventionen letztendlich die Aufgabe der demokratischen Volksvertretung in Bund und Ländern und der aus ihr gebildeten Regierung
„Im Mittelpunkt steht der Patient“
Dr. Ellen Lundershausen
Welche Baustellen muss eine stärker an der evidenzbasierten Medizin orientierte Gesundheitspolitik aus ärztlicher Sicht als erstes angehen?
Wenn Bundesgesundheitsminister Lauterbach sagt, dass er die Gesundheitspolitik nach Evidenz und Wissenschaftlichkeit ausrichten wird, dann halte ich das für vernünftig. Entscheiden wir Ärztinnen und Ärzte doch gleichfalls auf Grundlage einer evidenz- und wissenschaftsbasierten Medizin. Hinsichtlich der vom Bundesgesundheitsminister anzugehenden „Baustellen“, fällt mir zuerst die Krankenhauslandschaft ein. Dabei denke ich insbesondere an „Qualität“! So muss es eine Mindestbesetzung in den Abteilungen mit entsprechendem Personal, unter anderem Fachärzten, geben. Dies führt zu mehr Spezialisierung und Arbeitsteilung, wodurch auch beim Fachkräfteproblem etwas „Druck“ aus dem Kessel genommen wird. Wir in Thüringen haben bereits gute Erfahrungen gesammelt, dass in einzelnen Fachgebieten innerkollegial Mindestanforderungen definiert worden sind. Eine weitere Baustelle wäre die neue GOÄ. Diese ist erarbeitet und muss endlich in Kraft gesetzt werden. Darüber hinaus verweise ich auf das Papier der Bundesärztekammer „12 Punkte, die die neue Bundesregierung in der Gesundheitspolitik sofort angehen muss …“. Schlussendlich gilt: Im Mittelpunkt steht der Patient. Dessen Wohl ist der Orientierungspunkt.
„Differenzierte Folgerungen“
Prof. Stefan Huster
Sehen Sie Evidenzprobleme im Bereich der Arzneimittel?
Die Ausrichtung des Gesundheitssystems an den Grundsätzen der evidenzbasierten Medizin und Versorgung gehört zweifellos zu den großen gesundheitspolitischen Fortschritten der letzten Jahre und Jahrzehnte. Dies umfasst auch eine an der vorhandenen Evidenz orientierte Vergütung für medizinische Leistungen, wie sie das AMNOG-Verfahren für Arzneimittel anstrebt. Allerdings muss man sich immer der Grenzen dieser Vorgehensweise bewusst sein, will man sie nicht diskreditieren. Nicht selten wird die für die Bewertung erforderliche Evidenz nämlich (noch) nicht vorliegen, so dass Entscheidungen unter großer Unsicherheit zu treffen sind. Hier wird man dann den „(noch) nicht belegten Zusatznutzen“ nicht ohne Weiteres mit einem „belegt fehlenden Zusatznutzen“ gleichsetzen können, sondern im Interesse der Patienten, aber auch der Erhaltung der Innovationskraft der Industrie zu differenzierten Folgerungen gelangen müssen.
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„Evidenzbasierung heißt, Lernen zu wollen“
Prof. Reinhard Busse
Sie selbst bezeichnen sich als ein „Kind der evidenzbasierten Gesundheitspolitik“. Was ist die entscheidende Voraussetzung, um eine solche konsequent umzusetzen?
Das European Observatory on Health Systems and Politics unterstützt seit 1998 eine evidenzbasierte Politikgestaltung. Im Unterschied zu vielen anderen Ländern ist Deutschland trotz mehrfacher Aufforderung nicht beigetreten. Warum? Weil zu viele Akteure bei uns davon ausgehen, dass wir das beste Gesundheitssystem der Welt haben – oder zumindest „eines der besten“. Wenn man nach Evidenz für die Aussage fragt, hört man zumeist, dass Deutsche im Ausland im Falle einer notwendigen medizinischen Maßnahme nach Deutschland möchten. Aber exakt das gleiche „Argument“ hört man in Großbritannien oder Spanien. Was brauchen wir stattdessen? Wir müssen lernen wollen. Das setzt voraus, dass wir die Möglichkeit in Erwägung ziehen, andere könnten es besser machen. Wir brauchen daher eine vorurteilsfreie Aufarbeitung der Leistungsfähigkeit unseres Gesundheitssystems im Vergleich zu anderen hinsichtlich Zugänglichkeit, Qualität oder Beitrag zur Verbesserung der Bevölkerungsgesundheit, ein „Health System Performance Assessment“. Und dann müssen wir gucken, was die Länder machen beziehungsweise gemacht haben, die besser abschneiden als wir. Ach so, und wir müssen noch bereit sein, auch selbst Daten zu sammeln und sie transparent zu machen, damit sie für Vergleiche zur Verfügung stehen. Eigentlich ganz einfach … Wann beginnen wir endlich?
„Echter politischer Wille dringend gebraucht“
Prof. Jürgen Windeler
Das IQWiG gilt hierzulande ein Gralshüter der evidenzbasierten Medizin. Welche Hürden haben Sie bei der Evidenzvermittlung in Richtung Politik als besonders hoch erlebt?
Ein evidenzbasiertes Gesundheitssystem zeigt ehrliches Interesse an qualifizierter Evidenz bei Systementscheidungen und im medizinischen Alltag. Dort, wo gesetzliche Regelungen diesen Bezug nicht ernst nehmen, besteht kein Anreiz eine gute Datenbasis zu schaffen. Die Unterschiede in der rechtlichen Regulierung zwischen Arzneimitteln und nicht-medikamentösen Interventionen machen dies drastisch deutlich. Deutschland leistet derzeit in sehr vielen medizinischen Bereichen keinen relevanten Beitrag für die Schaffung qualifizierter Evidenz. Studien werden nicht gemacht, notwendige Strukturen vernachlässigt. Die Idee, für eine medizinische Maßnahme in Studien grundlegende Evidenz zu generieren und sie gleichzeitig uneingeschränkt in der Versorgung einsetzen zu wollen, ist ein Widerspruch in sich. Es braucht dringend den politischen Willen, qualifizierte Evidenz zur Grundlage von Entscheidungen zu machen. Daraus muss ein neuer, sinnvoller gesetzlicher Rahmen entstehen, also die Schaffung von Anreizen und Strukturen, um den Begriff „evidenz-basiert“ im deutschen Gesundheitssystem wirklich mit Leben zu füllen.
Eine neue Richtschnur gesundheitspolitischen Handelns?
Berlin (pag) – Bei seinem Amtsantritt im Bundesgesundheitsministerium legt Prof. Karl Lauterbach die Richtschnur seines ministeriellen Handelns unmissverständlich offen. „Die Gesundheitspolitik kann aus meiner Sicht nur erfolgreich sein, wenn sie sich an der evidenzbasierten Medizin orientiert“, lauten seine programmatischen Worte.
Lauterbachs Verortung wird von vielen begrüßt. Dazu zählen dürfte die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften. Vor der Bundestagswahl hat sie in einem Positionspapier gefordert, dass sich die gesamte Gesundheitspolitik stärker als bisher an der evidenzbasierten Medizin orientieren müsse. Und das Deutsche Netzwerk Evidenzbasierte Medizin hat einige Wochen vor der Staffelübergabe im Ministerium fünf Forderungen an eine evidenzbasierte Gesundheitspolitik formuliert.
Neue Forschungskultur
Die EbM-Expertinnen und Experten verstehen evidenzbasierte Gesundheitspolitik dem Forderungspapier zufolge als Daseinsfürsorge anstatt Kommerzialisierung. Handlungsbedarf sehen sie auch bei der Aus-, Fort- und Weiterbildung. Eine weitere Forderung lautet: „Gesundheitsforschung fokussieren und Forschungskultur reformieren für ein ständig besser und evidenzbasierter werdendes Gesundheitssystem.“ Deutschland sei schwach darin, große und wichtige Fragen in der Gesundheitsversorgung durch gute Studien rasch zu beantworten, heißt es zur Begründung. Trotz vieler Initiativen habe auch die Forschung zu Corona-Themen „erhebliche Lücken“ offenbart. Das Netzwerk schlägt ein Zentrum zur Neuorganisation und Finanzierung klinischer Forschung vor. Am wichtigsten aber werde eine neue Forschungskultur bei Patienten, Forschenden, medizinischem Personal und Forschungsförderern sein. „Forschungsaktivitäten und das Mitwirken daran müssen zur normalen Routine werden auf dem Weg hin zu einem ständig besser und evidenzbasierter werdenden Gesundheitssystem.“
„Nicht in Stein gemeißelt“
Kritisch zu fragen ist aber auch, wie viel Evidenz bereits jetzt im Gesundheitswesen steckt – und konkret im GKV-Leistungskatalog. Forderungen nach dessen kritischer Sichtung und des konsequenten Ausschlusses von nicht evidenzbasierten Leistungen gibt es schon länger. Über die Aufnahme neuer Leistungen in den Katalog entscheidet der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA). „Wenn wir die Patientenversorgung zeitgemäß fortentwickeln wollen, dann müssen wir Entscheidungen treffen, auch wenn die Evidenz nicht in Stein gemeißelt ist“, sagt dessen unparteiischer Vorsitzender, Prof. Josef Hecken. Der Preis für diesen großen Entscheidungsspielraum: Das Gremium müsse immer wieder prüfen, ob neue medizinische Erkenntnisse es nötig machen, Entscheidungen aufzuheben oder zu ändern, betont Hecken auf einem Rechtssymposium des Ausschusses vor einiger Zeit.
Systemische Unwuchten
Im Rahmen des AMNOG-Verfahrens – wenn der Zusatznutzen neuer Arzneimittel in Relation zum bisherigen Therapiestandard bewertet wird – geschieht dies etwa mittels Beschlüssen, die der G-BA befristet. Auch kann der Hersteller aufgrund neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse eine erneute Nutzenbewertung beantragen. Dies ist erst kürzlich bei einer Therapie des Knochenmarkkrebses geschehen. Der Hersteller nahm den dritten Datenschnitt einer Studie zum Anlass, um eine erneute Bewertung zu beantragen. Das Ergebnis: Das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) sieht nun anstelle eines Anhaltspunktes für einen geringen Zusatznutzen einen Anhaltspunkt für einen beträchtlichen Zusatznutzen.
Ein großes Gefälle nimmt Dr. Monika Lelgemann zwischen der Bewertung von Arzneimitteln und von nichtmedikamentösen Leistungen wahr. Bei neuen Untersuchungs- und Behandlungsmethoden sei die Evidenz „zu oft unzureichend“, so Lelgemann, die wie Hecken ein unparteiisches Mitglied des G-BA ist. Auch der Leiter des IQWiG, Prof. Jürgen Windeler, macht auf die Unterschiede in der rechtlichen Regulierung zwischen Arzneimitteln und nicht-medikamentösen Interventionen aufmerksam (lesen Sie dazu Seite XX).
Wettbewerb schlägt Evidenz
Das ist nicht die einzige Unwucht im System. Eine andere ist die Homöopathie. Hier stellt sich noch eindringlicher die Frage, ob in Sachen Evidenz im Versorgungsystem bisweilen mit zweierlei Maß gemessen wird. Die Krankenkassen, die einerseits beständig eine Verschärfung des AMNOG-Verfahrens fordern, finanzieren als Satzungsleitung Globuli, für deren Wirkung es keinerlei belastbare Belege gibt. Dazu muss man wissen, dass die Kassen mit der Homöopathie vor allem die freiwillig Versicherten adressieren, also die Gutverdiener. Mit anderen Worten diejenigen, die jede Kasse gerne zu ihren Versicherten zählen möchte. Streicht man diese Leistung – das wäre eine Aufgabe des Gesetzgebers –, dann beraubt man die Kassen um ein wichtiges Marketing-Instrument im Wettbewerb. Wie heikel dieses Thema ist, zeigt nicht zuletzt der Umstand, dass keine der von uns angefragten Krankenkassen oder deren Verbände bereit war, sich in dieser Angelegenheit öffentlich zu äußern.
Wird der neue Gesundheitsminister seine Evidenz-Agenda auch auf solch unerquickliche Streitpunkte ausweiten?
Was ist mit der Zuwendung?
Wie vielschichtig das Thema ist, zeigt eine Initiative des Deutschen Evangelischen Krankenhausverbandes (DEKV). Dieser verlangt einen Zuwendungsindex für die stationäre Patientenversorgung. Dieser solle in die Qualitätsmessung der Krankenhausversorgung eingeführt und in den Qualitätsberichten veröffentlicht werden. Nur so werde es gelingen, die Zeit zu finanzieren, die die Mitarbeitenden brauchen, um sich den kranken Menschen zuzuwenden. „Durch die Technisierung in der Medizin wird diese Zeit nicht anerkannt, nur was evidenzbasiert ist, findet Anerkennung und wird finanziert“, sagt der DEKV-Vorsitzende Christoph Radbruch. Um dies zu ändern will der Verband die professionelle Zuwendung im Krankenhaus so beschreiben, dass sie zu den evidenzbasierten Qualitätskriterien passt. Nach den Vorstellungen des Verbandes soll das Institut für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen einen solchen Zuwendungsindex entwickeln.
Das Datenproblem
Das kann dauern. Doch insbesondere beim Thema Datennutzung und Evidenz kann das Gesundheitswesen nicht einfach gemächlich weitertrotten. Prof. Christof von Kalle, Onkologe und Mitglied des Sachverständigenrats Gesundheit, betont gegenüber Gerechte Gesundheit mit Verweis auf die Pandemie, dass wissenschaftliche Daten aus Grundlagenforschung, translationaler und klinischer Forschung die einzige Chance seien, große Herausforderungen an das Gesundheitssystem „wirksam, human, sozial und wirtschaftlich“ zu bewältigen. Er bemängelt das Fehlen einer nachhaltig geförderten Infrastruktur für randomisierte klinische Studien und eine systematische digitale Gesundheitsdatenerfassung. „Dies hat unserer Bevölkerung geschadet.“
Eine evidenzorientierte Gesundheitspolitik muss sich dieser Herausforderung schnellstens stellen.
Strittige Evidenz bei Orphans
Für Orphan Drugs sollen die gleichen Regeln bei der Nutzenbewertung gelten wie für alle anderen Arzneimittel, fordert jüngst das IQWiG. Es befürchtet, dass die derzeitigen, weniger strengen Bewertungsmaßstäbe für Arzneimittel gegen seltene Leiden irreführende Signale in die Versorgungspraxis senden. Der fiktive Zusatznutzen – bei Orphans gilt dieser als automatisch belegt – verhindere, dass zwischen Orphan Drugs mit und ohne echten Fortschritt unterschieden werden kann.
Berlin (pag) – „Wir wollen schauen, wie es um die Gerechtigkeit im Gesundheitswesen steht.“ Mit diesen Worten eröffnen die zwei Moderatorinnen, beide Schülerinnen der Berliner Rahel-Hirsch-Schule, eine Veranstaltung mit Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe. Die Diskussion ist Teil des gesundheitspolitischen Forums, das das Oberstufenzentrum für Gesundheit/Medizin kürzlich zum ersten Mal veranstaltet hat. Das Thema: „Gerechte Verteilung von Geldern und Ressourcen im Gesundheitswesen?“
Konkrete und verständliche Antworten werden vom Podium gewünscht, machen die Schüler gleich zu Beginn der Debatte klar, an der neben dem Minister auch Sylvia Gabel vom Verband medizinischer Fachberufe, Knut Lambertin, DGB, sowie Werner Mall von der AOK Nord-Ost teilnehmen. Sie stehen Rede und Antwort zu Themen wie Versorgung im Alter und berufliche Aufstiegschancen, die zuvor von den Schülern in Workshops vorbereitet wurden. Zu Beginn geht es um Unterschiede zwischen gesetzlich und privat Versicherten. Die Ungleichbehandlung fange bereits im Wartezimmer an, konstatieren die Moderatorinnen. DGB-Vertreter Lambertin weist allerdings darauf hin, dass es auch bei der Privaten Krankenversicherung Patienten zweiter Klasse gebe – nämlich jene, die im Basistarif seien. „Die Crux ist, dass die ungleiche Vergütung bei den Ärzten der Ausgangspunkt für den ungleichen Zugang zur Gesundheitsbehandlung ist.“ Besonderes Interesse haben die Auszubildenden an Berufsperspektiven und den Aussichten für medizinische Fachberufe. „Aufstiegsfortbildung ist möglich, aber auch immer eine Frage des Geldes“, sagt Sylvia Gäbel. Sie appelliert, diese finanziell besser zu unterstützen. „Wir erfahren durchaus Wertschätzung, aber davon kann ich nicht einkaufen gehen.“ Ein weiteres Thema ist die betriebliche Gesundheitsförderung. Kassenvertreter Werner Mall sieht dort deutlichen Verbesserungsbedarf: „Wir sind weit davon entfernt, dass das Thema Gesundheit bei allen in der Arbeitswelt angekommen ist.“ Insbesondere für Pflegekräfte sei es eine Herausforderung, gesund im Beruf zu bleiben, erläutert er den Schülerinnen und Schülern. Um Pflege geht es auch, als über die Versorgung im Alter diskutiert wird. „In den Heimen müssen sich viel zu wenige Pflegekräfte um viel zu viele Menschen kümmern. Was dürfen wir erwarten, wenn wir alt geworden sind?“, fragen die Schüler. Gröhe glaubt, dass man hierzulande auch in Zukunft eine der leistungsfähigsten Pfleginfrastrukturen haben werde und verweist auf die jüngsten Reformgesetze. Weniger optimistisch klingt er, als er auf Prävention angesprochen wird. Eine gesunde Lebensweise lasse sich eben nicht befehlen. Speziell zum Thema Impfen echauffiert sich der Minister: „Ein deutscher Wissenschaftler bekommt den Nobelpreis dafür, dass er eine Impfung gegen Gebärmutterhalskrebs entdeckt. Und wir haben eine beschämend niedrige Impfrate bei uns.“