Berlin (pag) – Von Rissen im Fundament des Sozialstaates spricht Dr. Doris Pfeiffer kürzlich auf einer Veranstaltung des GKV-Spitzenverbandes. Aktuell explodierten die Kosten – dieser Entwicklung stehen nicht einmal steigende Leistungen gegenüber, kritisiert die Vorstandsvorsitzende des Verbandes, während Ökonom Prof. Marcel Fratscher für einen Ausbau des Sozialstaates wirbt.
Nur so könne die Gesellschaft leistungsfähig sein, so der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW). Die Grundlage für Deutschlands wirtschaftlichen Wohlstand seien der Rechtsstaat, die gute Wirtschaftsstruktur mit vielen mittelständischen Unternehmen und der starke Sozialstaat: „Diese drei Stärken sollten wir bewahren und weiter ausbauen“, so Fratscher, und prophezeit: „Wir werden einen immer größeren Teil unserer Wirtschaftsleistung in die Sozialsysteme stecken müssen – das ist die Realität.“
Was will sich die Gesellschaft leisten?
Die massiv steigenden Kosten in der Pflege, in der GKV, aber auch der Rente ergeben sich zwangsläufig aus der demografischen Entwicklung. Teil dieses Prozesses sei abzuwägen, was die Gesellschaft leisten könne und wolle und wie man die Daseinsvorsorge verbessern könne, ohne dass die Kosten explodieren. Aktuell sei die Antwort der Politik oft die Lösung der Beitragssatzerhöhungen. Dies mache Fratzscher große Sorge, da es sich dabei de facto um eine Umverteilung von Jung zu Alt handle. Außerdem gebe es eine natürliche Bremse, ab der man die Beiträge nicht mehr erhöhen könne, ohne der Wirtschaft zu sehr zu schaden. Das Sondervermögen sieht der Ökonom dagegen als einen „wirklichen Paradigmenwechsel“, der zeige: „Die Politik hat verstanden, dass deutlich mehr investiert werden muss. Dazu gehört auch der Gesundheitsbereich.“
Für GKV-SV-Chefin Pfeiffer geht das an der gesundheitspolitischen Realität vorbei: „Ich halte es für einen Fehler, jetzt einfach nur zu gucken, wie wir mehr Geld ins System geben.“ Man müsse sich viel mehr darüber unterhalten, ob das viele Geld wirklich sinnvoll, vernünftig und bedarfsgerecht eingesetzt werde. Das sei seit Jahren der entscheidende Punkt: „Wir geben immer mehr Geld aus, ohne dass man das Gefühl hat, dass die Versorgung besser wird.“ Ihr Eindruck: Seit gut zehn Jahren spreche man überhaupt nicht mehr darüber, wie man die Gesundheitsversorgung besser gestalten könne.
Pfeiffer weist darauf hin, dass Deutschland im Vergleich der OECD-Länder bei der Anzahl der Pflegekräfte und Ärzte deutlich über dem Durchschnitt liegt. Gleichzeitig hätten alle eine hohe Arbeitsbelastung. „Da müsse man fragen: Machen die alle etwas Sinnvolles?“ So sei es auch bei der Krankenhausreform. Dort seien die Ergebnisse immer dann gut eingeschätzt worden, wenn sie für die Kliniken gut gewesen seien. „Die Reform sollte aber nicht für die Krankenhäuser gut sein, sondern für die Patienten, damit diese gut versorgt werden“, betont die Kassenvertreterin. Sie wirbt für grundlegende Struktur- reformen, denn: „Wenn wir nicht jetzt mit mutigen Veränderungen beginnen, haben wir in zehn Jahren ein Riesenproblem.“
Berlin (pag) – Eine beginnende Zeitenwende im Gesundheitswesen beobachten die drei Professoren Christian Karagiannidis, Boris Augurzky und Mark Dominik Alscher. Um angesichts der vielfältigen Probleme weiterhin eine gute Gesundheitsversorgung sicherzustellen, brauche es tiefgreifende Reformen und eine gesamtgesellschaftliche Transformation. „Wir haben vier Jahre Zeit, um den Turnaround zu schaffen“, sagt Karagiannis bei der Vorstellung eines gemeinsamen Buches.
„Die Gesundheit der Zukunft“ heißt die Publikation, welche die drei kürzlich bei der Robert Bosch Stiftung in Berlin vorgestellt haben. Deren Zweck umreißt Intensivmediziner Karagiannidis mit wenigen Worten: Die Politik brauche konkrete Reformvorschläge. Alles, was auf der Metaebene bleibe, versickere häufig. Daher will er das Buch als eine Art Bauplan für eine bessere Zukunft verstanden wissen.
Das deutsche Gesundheitswesen ist dem Mediziner zufolge ein System der absoluten Extreme. Extrem viele Arzt-Patienten-Kontakte, extrem viele Krankenhausbetten. Sehr viele Ressourcen werden hineingesteckt, aber am Ende komme „nicht so viel heraus, wie wir uns wünschen“, so Karagiannidis. Das liege nicht an einzelnen Playern, sondern am Gesamtsystem. Sein Credo: Mehr Geld werde die Probleme nicht lösen, sondern nur tiefgreifende Strukturreformen.
Vollkasko mit Selbstbeteiligung
Dafür werden im Buch zahlreiche Vorschläge unterbreitet. Einer der zentralen, den Krankenhausexperte Prof. Boris Augurzky an dem Abend vorstellt, lautet zum Thema Finanzierung: „Vollkasko mit statt ohne Selbstbeteiligung“. Die Experten plädieren dafür, die Vollkaskoversicherung im Gesundheitswesen um eine nach oben gedeckelte und sozial gestaffelte Eigenbeteiligung zu ergänzen. Konkret heißt es im Buch: „Pro Jahr sollten die ersten Ausgaben für Gesundheitsdienstleistungen bis maximal zur Höhe von einem Prozent des beitragspflichtigen Einkommens selbst bezahlt werden.“ Die Autoren rechnen vor, dass die Beitragsbemessungsgrenze (BBG) zur GKV in diesem Jahr bei 66.150 Euro liege. Der maximale Selbstbehalt betrage demnach 661,50 Euro pro Jahr für GKV-Versicherte mit einem Einkommen auf oder oberhalb der BBG. „Für die meisten Versicherten wird er teils deutlich niedriger liegen.“ Bei einem beitragspflichtigen jährlichen Einkommen von 25.000 Euro belaufe sich der maximale Selbstbehalt auf 250 Euro pro Jahr. Damit werde eine soziale Abfederung erreicht, heißt es weiter. Außerdem werden mitversicherte Familienangehörige als Einheit betrachtet, der Selbstbehalt beziehe sich daher auf die Familie als Ganzes.
QALYS moralisch geboten
Darstellung der QALYs für zwei Personen. Person A (blaue Fläche, ohne Behandlung) hat weniger QALYs als Person B (beige Fläche, mit Behandlung). Quelle: wikimedia, Jmarchn, CC BY-SA 3.0
Das Buchkapitel, in dem für die Selbstbeteiligung geworben wird, steht unter dem Titel „Wie wir das künftige System finanzieren“. Darin wird auch klargestellt, dass eine stärkere Steuerfinanzierung kein Heilmittel gegen ungebremste Ausgaben darstelle. Langfristig können sich die Autoren dagegen eine Zusammenführung von GKV und PKV vorstellen. Eine weitere Forderung von ihnen lautet: „Jede medizinische Maßnahme muss auf ihre Kosteneffizienz überprüft werden.“ Dafür bringen sie die sogenannten qualitätsadjustierten Lebensjahre (Quality Adjusted Life Years) ins Spiel.
QALYs sind für viele Akteure des Gesundheitswesens ein Schreckgespenst. Der Vorsitzende des Gemeinsamen Bundesausschusses, Prof. Josef Hecken, warnt seit Jahren vor deren Einführung, er lehnt QALYs als Rationierungsinstrument ab. Das Autorentrio verweist dagegen auf das britische NICE, das solche Bewertungen bereits seit Jahrzehnten durchführe. Dort werden neue Arzneimittel und neue Therapieformen ab einer bestimmten Summe an Kosten pro QALY nicht mehr verabreicht, außer in begründeten Sonderfällen. Augurzky, Alscher und Karagiannidis räumen ein, dass diese nüchterne Herangehensweise auf der Ebene eines Individuums moralisch fragwürdig erscheine. „Wenn man aber bedenkt, dass die Ressourcen, die für die Erbringung einer Leistung mit geringerem Nutzen aufgewandt werden, woanders fehlen, wo sie größeren Nutzen stiften könnten, wird klar, dass diese Vorgehensweise aus gesamtgesellschaftlicher Sicht dagegen moralisch sogar geboten ist.“
Was sind QALYs?
Mit QALYs kann man den Nutzen medizinischer Leistungen messen und mit anderen Leistungen vergleichen. Sie werden auch verwendet, um den erzielbaren Nutzen einer Leistung ihren Kosten gegenüberzustellen. Berücksichtigt werden die verlängerte Lebenszeit des Patienten durch die Therapie, aber auch die Lebensqualität in dieser Lebenszeit. Die Lebensqualität wird anhand eines Nutzwertfaktors bewertet, der zwischen null für die denkbar schlechteste und eins für die bestmögliche Lebensqualität liegt, heißt es in dem Buch. Der QALY errechnet sich aus der verbleibenden Lebenszeit multipliziert mit dem Nutzwertfaktor.
Das medizinisch Sinnvolle
Nach der Finanzierungsfrage nehmen die Autoren die „explodierenden Therapiekosten“ im folgenden Kapitel in den Blick. Explizit sprechen sie dort die jüngere Ärztegeneration an: Deren Aufgabe werde es sein, „kritisch zu hinterfragen, was medizinisch sinnvoll ist, und nicht, was technisch machbar ist“. Ein erster Schritt sei in diesem Zusammenhang die Einrichtung von allgemein-internistischen Stationen in den Krankenhäusern, wo die Spezialisten bei Bedarf hinzugeholt werden. Zur Eindämmung der Therapiekosten wird eine Reihe verschiedener Instrumente aufgezählt. Eine Auswahl:
Die Autoren nennen etwa Mengengrenzen. Dabei wird für bestimmte Eingriffe und Therapien je Leistungserbringer ein Gesamtbudget festgelegt, das nicht überschritten werden darf. Ergänzend brauche es Referenzgremien für Einzelfallentscheidungen, wenn der Deckel erreicht sei.
Konsequent sollen für neue Arzneimittel Kosten-Nutzen-Bewertungen angewendet werden. Diese Möglichkeit ist gesetzlich sogar möglich, doch zur Anwendung ist dieses Instrument bisher noch nie gekommen.
Die Experten plädieren außerdem dafür, das „Orphan-Drug-Privileg“ im Rahmen des AMNOG-Verfahrens zu streichen. Bislang gilt für Arzneimittel gegen seltene Leiden automatisch ein Zusatznutzen als belegt.
Ein weiteres Stichwort lautet Preisgrenze: Nach den Vorstellungen der Autoren definiert künftig der Gemeinsame Bundesausschuss, wie viel ein zusätzlich gewonnenes Lebensjahr kosten darf. „Dieser Wert dient den Pharmafirmen automatisch als Richtschnur für ihre Preisfestsetzung.“
Auch für andere Bereiche des Gesundheitswesens wie Prävention, Public Health oder Künstliche Intelligenz und elektronische Patientenakte unterbreiten die Autoren zahlreiche Reformvorschläge. Wie ein roter Faden zieht sich durch das Buch der Appell für tiefgreifende und notwendige strukturelle Umbauten. Diese seien bislang versäumt worden, weil das nötige Geld immer ausreichend vorhanden gewesen sei. Dies diente zur Lösung jedes Problems, „insbesondere auch, um Konflikten aus dem Weg zu gehen“, schreiben die Autoren. Damit ist nun Schluss. Karagiannidis, Augurzky und Alscher sind überzeugt, dass die „Goldenen Jahrzehnte des Gesundheitswesens“ mit schier unerschöpflichem Aufbau von neuen Angeboten, hohen Ausgaben und sehr hohen Gehältern jetzt ein jähes Ende finden.
Die Autoren
• Prof. Christian Karagiannidis ist praktisch tätiger Internist, Pneumologe und Intensivmediziner. Er ist Mitglied der Krankenhaus-Regierungskommission sowie an der Universität Witten/Herdecke.
• Prof. Boris Augurzky ist Gesundheitsökonom und gesundheitspolitischer Sprecher des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung RWI und ebenfalls Mitglied der Krankenhaus-Regierungskommission. Er leitet die hcb GmbH sowie die Rhön Stiftung.
• Prof. Mark Dominik Alscher ist Geschäftsführer des Bosch Health Campus mit dem Robert Bosch Krankenhaus.
Hamburg (pag) – Der zwölfte AMNOG-Report der DAK adressiert blinde Flecken der Arzneimittelpolitik. Die Autoren um Prof. Wolfgang Greiner, Universität Bielefeld, machen diese vor allem bei den Ausgaben für hochpreisige Arzneimittel im Krankenhaus sowie dem geplanten Abschlag auf Kombinationstherapien aus. Der Unparteiische Vorsitzende des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA), Prof. Josef Hecken, will der schwerfälligen Anwendungsbegleitenden Datenerhebung (AbD) durch eine zeitigere Evidenzgenerierung Beine machen.
Als „blinden Fleck des AMNOG“ identifiziert Hecken bei der Präsentation des Reports Gen- und Zelltherapien sowie die personalisierte Medizin. In diesen besonders kostenintensiven therapeutischen Situationen gebe es keine randomisierten kontrollierten Studien, sondern bestenfalls einarmige Studien. „Das bedeutet ganz konkret, dass wir immer häufiger in Situationen kommen, in denen wir eine Nutzenbewertung vornehmen müssen, ohne in irgendeiner Form über belastbare Evidenz zu verfügen – mit den entsprechenden Auswirkungen.“ Mit Letzterem meint Hecken, dass selbst bei keinem oder nicht quantifizierbarem Zusatznutzen hohe Kosten für die GKV entstehen.
Diese Evidenzlücke soll eigentlich die AbD schließen. Hecken sieht dabei jedoch folgendes Problem: Man könne die Hersteller nicht zwingen, sich bereits vor der Zulassung an den G-BA zu wenden, „damit schon dann potenzielle Endpunkte für eine AbD definiert und Studienprotokolle geschrieben werden können“. Der Kooperationszwang bestehe erst mit dem Beginn der Nutzenbewertung. Folglich vergehen bis zu ein-einhalb Jahre, in denen Patienten bereits behandelt werden und nicht in der AbD sind. „Die Evidenz bei diesen ohnehin wenigen Patienten geht in der Zeit verloren, in der wir Zirkusveranstaltungen machen, um uns mit dem pharmazeutischen Unternehmen und den Fachgesellschaften auf Endpunkte zu verständigen“, kritisiert der G-BA-Chef. Er schlägt vor, einen Kooperations- und Meldezwang für die Hersteller in der Präzulassungsphase zu installieren, damit bereits zu diesem Zeitpunkt wichtige Vorarbeiten geleistet werden können.
Black Box Krankenhaus
Bei der Präsentation des Reports werden weitere blinde Flecken diskutiert. Gesundheitsökonom Greiner nennt die stationären Umsätze hochpreisiger Arzneimittel. Diese finden faktisch in keiner Debatte Berücksichtigung, heißt es im Report, vor allem, weil belastbare Daten fehlten.
Der aktuelle Report legt hierzu zum zweiten Mal Auswertungen vor: Hochgerechnet auf alle GKV-Fälle mit NUB- bzw. ZE-Abrechnung eines nutzenbewerteten Arzneimittels fallen im Jahr 2023 Kosten in Höhe von mehr als 1,2 Milliarden Euro an – ein neuer Höchststand. NUB steht für neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden, ZE für Zusatzentgelt.
Auch der geplante Kombiabschlag wird als blinder Fleck gesehen. Im Mai hat das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) eine Regelung dafür festgelegt. Allerdings wären damit lediglich 65 Prozent aller Personen mit einer Kombinationstherapie identifiziert worden, was zu Einsparungen von 99 Millionen Euro jährlich führte, heißt es. Das Fazit der Reportautoren: Der Vorschlag des BMG könnte zu einer pragmatischen Identifikation der Kombinationstherapien führen und wäre grundsätzlich geeignet, zu höheren Einsparungen beizutragen. Dennoch würden auch diese nicht ausreichen, um die im Gesetz formulierten Einsparziele von jährlich 185 Millionen Euro zu erreichen.
Heidelberg (pag) – Der Anspruch auf Teilnahme am Brustkrebs-Screening wird in Deutschland ausschließlich über das Alter der Frauen definiert. Gesundheitsökonomen des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ) errechnen, dass ein personalisiertes, risikobasiertes Mammographie-Screening bei vergleichbaren Kosten einen höheren gesundheitlichen Gewinn erzielen könnte.
Frauen zwischen 50 und 69 Jahren werden alle zwei Jahre zum Mammographie-Screening eingeladen. In den vergangenen Jahren konnten Wissenschaftler immer genauer aufklären, wie individuelle Risikofaktoren die Wahrscheinlichkeit einer Brustkrebserkrankung beeinflussen. Ist es daher sinnvoll, allein das Alter zur Definition der Screeninggruppe heranzuziehen?
„Um ein optimales Nutzen-Schaden-Verhältnis zu erreichen, sollte die Häufigkeit der Untersuchungen neben dem Alter auch an das individuelle Risikoprofil der Frauen angepasst werden“, sagt Prof. Michael Schlander, Leiter Gesundheitsökonomie am DKFZ. Dass ein solches „risikobasiertes“ Brustkrebs-Screening auch ökonomisch eine gangbare Alternative sein könnte, konnten die Wissenschaftler des Zentrums mit einer systematischen Literaturauswertung zeigen. Zehn in der aktuellen Arbeit ausgewertete Studien unterschieden sich hinsichtlich der Risikofaktoren, die sie berücksichtigen. Am häufigsten wurden neben dem Alter die Brustdichte, familiäre Risiken, frühere gutartige Brusterkrankung, reproduktive Faktoren, Lebensstilfaktoren, genetische Risikoprofile (SNPs) sowie die Wahrscheinlichkeit einer Mutation in den „Brustkrebsgenen“ BRAC1 und 2 zur Risikostratifizierung genutzt. Die DKFZ-Forscher verglichen die Kosteneffektivität. Das Ergebnis: Programme, bei denen Frauen mit geringen Risiken seltener, Hochrisiko-Frauen aber häufiger untersucht wurden, erwiesen sich gegenüber einem rein altersbasierten Screening (oder gar keinem Screening) als kosteneffektiver. Das bedeutet, dass bei gleichen Kosten das risikobasierte Screening einen höheren gesundheitlichen Gewinn erzielen kann – bezogen auf die Gruppe aller gescreenten Frauen.
„Ein personalisiertes Screening erschien in unserer Auswertung als wirtschaftlich effiziente Alternative zu einem rein altersbasierten Brustkrebs-Screening“, erklärt Schlander. Der Gesundheitsökonom schränkt allerdings ein, dass aufgrund der Heterogenität der ausgewerteten Einzelstudien eine abschließende Beurteilung noch nicht möglich sei. So haben beispielsweise einige der Einzelstudien die Kosten für die Bestimmung der individuellen Risikofaktoren der Frauen nicht berücksichtigt. Studienleiter Dr. Shah Alam Khan ergänzt: „Bevor das altersbasierte Screening durch eine andere Methode ersetzt wird, sind weitere Untersuchungen notwendig.“ Dabei sollten auch neue Technologien miteinbezogen werden, wie etwa die 3-D-Mammographie oder spezielle MRT-Untersuchungsverfahren.•
Wiesbaden (pag) – Im Pandemie-Jahr 2020 sind die Gesundheitsausgaben auf einen Rekordwert von über 425 Milliarden Euro gestiegen. Das geht aus einer Schätzung des Statistischen Bundesamtes hervor.
Die Ausgaben wären damit 14,3 Milliarden Euro oder 3,5 Prozent höher als im Jahr zuvor. Derzeit sei es jedoch schwierig, einen „coronaspezifischen Anteil“ an den geschätzten Gesundheitsausgaben zu ermitteln. Zu den wenigen Ausnahmen zählen die knapp 1,6 Milliarden Euro aus der Liquiditätsreserve des Gesundheitsfonds, die teilweise durch den Bund erstattet werden. Diese Ausgaben beinhalten Ausgleichszahlungen an Krankenhäuser für freigehaltene Betten (700 Millionen Euro), Kosten für Schutzmasken nach der Coronavirus-Schutzmasken-Verordnung (491 Millionen Euro) sowie für Tests im Sinne der Coronavirus-Testverordnung (286 Millionen Euro).
Weitere coronaspezifische Ausgaben fallen für Tests an, die im Rahmen der vertragsärztlichen Versorgung durchgeführt wurden (419 Millionen Euro), sowie für Erstattungen für außerordentliche Aufwendungen in der Pflege (731 Millionen Euro). Ausgleichszahlungen für pandemiebedingte Einnahmeausfälle beispielsweise der Krankenhäuser sind nicht in der Gesundheitsausgabenrechnung verbucht, da diese Ausgleichszahlungen definitorisch nicht als gesundheitsrelevant gelten. Für sie wurden im Jahr 2020 aus der Liquiditätsreserve des Gesundheitsfonds 10,6 Milliarden Euro aufgewendet und größtenteils durch den Bund erstattet.
Neben diesen vorläufigen Schätzungen gibt das Statistische Bundesamt auch die endgültigen Zahlen für die Gesundheitsausgaben 2019 bekannt. Diese belaufen sich auf 410,8 Milliarden Euro – knapp fünf Prozent mehr als im vorangegangenen Jahr – und überschreiten damit erstmals die 400-Milliarden-Euro-Marke. Mit 56,7 Prozent ist die gesetzliche Krankenversicherung auch 2019 größter Ausgabenträger im Gesundheitswesen. Es folgen die privaten Haushalte und Organisationen ohne Erwerbszweck mit 13,3 Prozent sowie die soziale Pflegeversicherung mit 10,3 Prozent. Auf die private Krankenversicherung entfallen 8,4 Prozent der Gesundheitsausgaben.
Kamenz (pag) – Die Gesundheitsausgaben in den Ländern betrugen im Jahr 2018 rund
391 Milliarden Euro. Damit verzeichneten sie innerhalb von zehn Jahren einen Zuwachs um fast 124 Milliarden Euro bzw. 46 Prozent.
Die Arbeitsgruppe „Gesundheitsökonomische Gesamtrechnungen der Länder“ hat außerdem berechnet, dass sich in der sozialen Pflegeversicherung die Ausgaben in diesen zehn Jahren im Mittel der Länder mehr als verdoppelt haben. Sie stiegen im Jahr 2018 auf knapp 40 Milliarden Euro.
Die Gesundheitsausgaben in den Ländern lagen 2018 zwischen 2,9 Milliarden Euro in Bremen und 85,5 Milliarden Euro in Nordrhein-Westfalen. Im Vergleich zum Vorjahr betrug der Anstieg durchschnittlich vier Prozent. Für Sachsen wurde die geringste Zunahme von 2,9 Prozent ermittelt. In Hamburg hingegen war der größte Anstieg mit 4,7 Prozent zu verzeichnen. Die Pro-Kopf-Ausgaben variierten im Jahr 2018 zwischen 4.282 Euro in Bremen und 5.059 Euro in Brandenburg. Der größte Anteil der Gesundheitsausgaben entfiel auf die gesetzliche Krankenversicherung. Deren Anteil an den Gesundheitsausgaben insgesamt lag im Jahr 2018 zwischen 54,1 Prozent in Bayern und Hamburg und 64,2 Prozent in Sachsen und Sachsen-Anhalt. Betrachtet man den Anteil der Gesundheitsausgaben am Bruttoinlandsprodukt (BIP), so wurde für 2018 in Hamburg mit 7,2 Prozent der geringste und in Brandenburg mit 17,6 Prozent der höchste Anteil ermittelt.
Heidelberg (pag) – 158.448 Euro: So viel beträgt für Europäer der „Wert eines statistischen Lebensjahres“ (Value of Statistical Life Year, VSLY). Wissenschaftler des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ) haben diese Zahl ermittelt. Sie betonen insbesondere, dass das Ergebnis deutlich über den bislang international gebräuchlichen Referenzwerten liege.
Für die Berechnung haben Prof. Michael Schlander und sein Team die wirtschaftswissenschaftliche Literatur „zur impliziten oder expliziten Zahlungsbereitschaft für die Verringerung lebensverkürzender Risiken“ analysiert. Das Ergebnis ist ein internationaler Mittelwert (Median) von 164.409 Euro. Dabei bestehen erhebliche Unterschiede zwischen den einzelnen Weltregionen: So liegt der Wert in Asien bei 43.000 Euro, in Europa bei 158.448 Euro, für Deutschland bei 173.868 Euro und in Nordamerika erreicht er sogar 271.179 Euro. Diese Wertewurden über den Vergleich der Kaufkraft in Euro umgerechnet. Für eine bessere Vergleichbarkeit rechneten die Wissenschaftler sie auf das jeweilige Bruttosozialprodukt (BIP) pro Kopf um. Auch nach dieser Normierung bleiben signifikante Unterschiede bestehen: Während Asien und Europa mit einer Zahlungsbereitschaft für ein gewonnenes Lebensjahr mit dem 5,1-fachen bzw. 5,2-fachen des BIP/Kopf etwa gleichauf liegen, sind US-Amerikaner und Kanadier bereit, das 6,9-fache für ein gewonnenes Lebensjahr zu investieren. „Wirklich zwingende Erklärungen dafür, warum Nordamerikaner mehr für ein gewonnenes Lebensjahr zu zahlen bereit sind als der Rest der Welt, haben wir nicht“, sagt Michael Schlander. Laut Studien nehme in Ländern mit einem höheren verfügbaren Einkommen die Akzeptanz höherer Gesundheitsausgaben überproportional zu.
Dem DKFZ zufolge entsprechen die Werte einem Vielfachen der in der Gesundheitsökonomie derzeit üblichen Standards: So würden in England beispielsweise im Regelfall nur 20.000 bis 30.000 Pfund angesetzt, eine viel zitierte Empfehlung der Weltgesundheitsorganisation liege beim ein- bis dreifachen des BIP pro Kopf. Somit liefere die Untersuchung Hinweise darauf, dass die derzeit in vielen Ländern verwendeten Richtgrößen für den VSLY deutlich zu niedrig angesetzt sind. Schlander betont: „Unsere Ergebnisse könnten als Richtwerte dabei helfen, die Kosteneffektivität von medizinischen Leistungen zu beurteilen.“
REFERENZWERTE FÜR PREISFINDUNG
Um etwa bei der Preisfindung für Medikamente und medizinische Verfahren Grenzen setzen zu können, ist ein Referenzwert erforderlich. International wird dazu oft der sogenannte „Wert eines statistischen Lebensjahres“ herangezogen. Um die Zahlungsbereitschaft zu ermitteln, verwenden Ökonomen zwei verschiedene Ansätze. Bei den methodisch anspruchsvolleren Studien werden Menschen befragt, wie viel sie für eine Maßnahme zu zahlen bereit sind, die ihr Sterblichkeitsrisiko senkt – beispielsweise für die Anschaffung eines Airbags. Diese Methode funktioniert nur, wenn die Reduktion des Sterblichkeitsrisikos genau beziffert werden kann. Der andere Ansatz beruht auf indirekten Methoden, die Zahlungsbereitschaft wird aus beobachtetem Verhalten abgeleitet. Die Ökonomen untersuchen beispielsweise, um wie viel höher der Arbeitslohn ausfallen muss, damit Menschen eine riskantere Beschäftigung annehmen.