Die Zeit der Klagen

Gesundheitspolitik vor dem Bundesverfassungsgericht

Berlin/Karlsruhe (pag) – Die Krankenkassen beklagen Zweckentfremdung ihrer Gelder, die Bundesländer fühlen sich bei der Klinikreform übergangen und die Pharmafirmen hadern mit den AMNOG-Leitplanken. Viele Akteure erwägen, zentrale Streitfragen nicht mehr nur auf dem politischen Parkett, sondern vor Gericht zu klären. Auch das Bundesverfassungsgericht wird zunehmend in gesundheitspolitische Grundsatzfragen involviert.

© iStock.com, deepblue4you
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Bei den meisten Gesetzen ist es nicht ungewöhnlich, dass es neben politischer Kritik auch rechtliche Bedenken gibt. Die derzeitigen Entwicklungen zeichnen allerdings ein zunehmend hitzigeres Stimmungsbild. Denn einige Stakeholder wollen es nicht mehr beim juristischen Säbelrasseln belassen, sondern stehen mit ihren Klagen schon in den Startlöchern. Ein aktuelles Beispiel für diese Entwicklung ist die Krankenhausreform. Diese könnte die Kliniklandschaft aller Bundesländer, die eigentlich für ihre jeweilige Krankenhausplanung zuständig sind, radikal verändern. Aus Sicht des Bundesgesundheitsministers Prof. Karl Lauterbach (SPD) benötigt das Krankenhausversorgungsverbesserungsgesetz (KHVVG) im Bundesrat aber keine Zustimmung. Gesetzgeberisch hat der Rat damit nur die Möglichkeit, den Vermittlungsausschuss einzuberufen, um Einfluss zu nehmen. Landespolitiker wie Baden-Württembergs Gesundheitsminister Manfred Lucha (Bündnis 90/Die Grünen) halten das für ein realistisches Szenario. Trotzdem sind die Mehrheiten im Rat bisher unklar.

Von links: NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann, Prof. Ferdinand Wollenschläger und Bundesgesundheitsminister Lauterbach © pag, Fiolka
Von links: NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann, Prof. Ferdinand Wollenschläger und Bundesgesundheitsminister Lauterbach © pag, Fiolka

Daneben liebäugeln einige damit, die Reform über den Rechtsweg zu stoppen. Der nordrhein-westfälische Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) hat schon im April mit dem Gang vor das Bundesverfassungsgericht (BverfG) in Karlsruhe gedroht, sollte der Bund das KHVVG als nicht zustimmungspflichtig verabschieden. Auch Bayerns Gesundheitsministerin Judith Gerlach (CSU) hat offen eine Klage angekündigt. Zusammen mit Schleswig-Holstein und Baden-Württemberg hat man sich Rechtsberatung durch den Juristen Prof. Ferdinand Wollenschläger von der Universität Augsburg geholt. Dessen Gutachten kommt zu dem Ergebnis, dass eine Verabschiedung ohne Zustimmung der Länder das Risiko einer formellen Verfassungswidrigkeit berge. Er verweist auf „durchgreifende Einwände“ hinsichtlich der Zuständigkeit des Bundes für das KHVVG, da es schwerpunktmäßig Versorgungsstrukturen regele und die Planungsbefugnis der Länder übermäßig beschneide.

Kassen hadern mit Transformationsfonds

Bauchschmerzen bereitet die Krankenhausreform auch der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) – konkret der Transformationsfonds für den Umbau der Kliniklandschaft, der jeweils zur Hälfte durch die Kassen und die Länder finanziert werden soll. Der GKV drohen jährliche Kosten von 2,5 Milliarden Euro. Um sich juristisch zu wappnen, hat der GKV-Spitzenverband bei der Sozialrechtlerin Prof. Dagmar Felix von der Universität Hamburg ein Rechtsgutachten in Auftrag gegeben. Das Ergebnis: Der Gesetzgeber darf strukturverbessernde Maßnahmen nicht aus Sozialversicherungsbeiträgen finanzieren: „Bei der Transformation der Krankenhausversorgung handelt es sich um eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, deren Umsetzung in keinem hinreichenden Bezug zur Sozialversicherung steht.“ Hält Lauterbach an seinen Plänen fest, „stünde der Rechtsweg zum Sozialgericht offen“.

Wie können sich Kassen wehren?

Wesentlich konkreter klingt es beim Vorstandsvorsitzenden des IKK e.V., Hans-Jürgen Müller. Für ihn ist die Klage beschlossenen Sache, kündigt er bei einem Presse-termin Ende August an. Auch dass dafür ein betroffener Versicherter gefunden wird, gilt als ausgemacht.
Müllers Kritik geht aber noch weiter: Er will grundsätzlich nicht für Staatsaufgaben aufkommen – Stichwort versicherungsfremde Leistungen – und erhält auf dem Pressetermin die Rückendeckung vom ehemaligen Präsi-
denten des Bundessozialgerichts, Prof. Rainer Schlegel. Dieser betont: „Es ist eine ganz zentrale Aussage des Bundesverfassungsgerichts, dass Beitragsmittel das Binnensystem der Sozialversicherung nicht verlassen dürfen.“ Das leite sich aus früheren Entscheidungen ab. In der Realität können sich die Kassen – bis auf ein sehr eingeschränktes Klagerecht vor Sozialgerichten – aber kaum gegen Übergriffe wehren: Aus Sicht des Grundgesetzes sind sie nämlich keine Grundrechtsträger. Der Weg einer Verfassungsbeschwerde ist damit versperrt. Lediglich einzelne Versicherte oder Arbeitgeber könnten klagen und bis vor das BverfG ziehen. Das habe aber nur Aussicht auf Erfolg, wenn ein Eingriff beitragssatzrelevant sei.
Der IKK e.V. will ein eigenes Klagerecht der Krankenkassen vor dem BverfG. Es geht um die Möglichkeit, gesetzgeberische Maßnahmen vom Gericht prüfen zu lassen. Institutionen wie Rundfunkanstalten oder Universitäten dürften längst für ihre Mitglieder Rechte beim Verfassungsgericht einklagen. „Warum sollte für Kassen etwas anderes gelten?“, fragt Schlegel.

Von links: Prof. Dagmar Felix, Hans-Jürgen Müller und Prof. Rainer Schlegel © privat, IKK e.V., Agentur Bildschön und BSG, PicturePeople Kassel
Von links: Prof. Dagmar Felix, Hans-Jürgen Müller und Prof. Rainer Schlegel © privat, IKK e.V., Agentur Bildschön und BSG, PicturePeople Kassel

Ein Problem mit mutmaßlich zweckentfremdenden Geldern hat auch die Pflege. Der Chef der DAK-Gesundheit Andreas Storm fordert die Rückzahlungen der Corona-Hilfen in Höhe von sechs Milliarden Euro. Ein ebenfalls von Felix erstelltes Gutachten belege, dass ein Ausbleiben der Rückzahlung verfassungswidrig sei. 2020 wurde die Pflegekassen verpflichtet, Zahlungen im Rahmen der Pandemiebewältigung an anspruchsberechtigte Pflegeeinrichtungen zu leisten. Finanziert wurde dies aus dem Ausgleichsfonds der sozialen Pflegeversicherung, also erneut aus Versicherungsbeiträgen.

Vier Pharmafirmen bald in Karlsruhe

Am weitesten auf dem Klageweg sind die Arzneimittel-
hersteller. Der Verband Forschender Arzneimittelher-
steller (vfa) informiert im November vergangenen Jahres, dass das Pharma-Unternehmen Ipsen Verfassungsbeschwerde gegen das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz (GKV-FinStG) eingereicht hat. Es ist nicht allein: Zuvor haben Roche, AbbVie und Johnson & Johnson Innovative Medicine (ehemals Janssen) geklagt. Die Grundkritik ist gleich: Sowohl die Neuregelung der Rabattfolgen einer Nutzenbewertung als auch der Zusatzrabatt auf Medikamentenkombinationen seien ein systemwidriger Eingriff in die etablierten Regeln der Arzneimittelerstattung. Wie etwa Ipsen mitteilt, sehe man den Gleichbehandlungsgrundsatz verletzt, da die sogenannten „AMNOG-Leitplanken“ medizinische Innovationen systematisch gegenüber Vergleichstherapien abwerteten. Der Zusatzabschlag sei zudem eine unzulässige Doppelregulierung. J&J Innovative Medicine sieht eine Reihe von Rechtsverstößen: „unter anderem die Berufsausübungsfreiheit, das allgemeine Gleichheitsgebot, die Rechtsschutzgarantie und das verfassungsrechtliche Bestimmtheitsgebot [würden] in nicht zu rechtfertigender Art und Weise“ verletzt.

Kombi-Abschlag in Kraft

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Zum Hintergrund: Das GKV-FinStG ist seit November 2022 in Kraft. Um die Finanzlage der GKV zu stabilisieren, greift es in verschiedene Leistungsbereiche – und insbesondere in den Arzneimittelsektor – regulierend ein. Aktuell hat das Bundesgesundheitsministerium die Modalitäten des Kombi-Abschlags per Festsetzungsbescheid festgelegt. Der 20-prozentige Abschlag wird auf sämtliche vom Gemeinsamen Bundesausschuss benannten neuen Kombinationstherapien erhoben. 
Die Regelung wurde 2022 eingeführt, greift aber erst jetzt, da ursprünglich vorgesehen war, dass sich GKV-Spitzenverband und Pharmaverbände über das Prozedere selbst einigen. Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass J&J Innovative Medicine und Ipsen auch gegen das Arzneimittel-Lieferengpassbekämpfungs- und Versorgungsverbesserungsgesetz Verfassungs-beschwerde eingelegt haben.
Ob die Bundesländer klagen oder Lauterbach ihnen bei der Krankenhausreform doch noch entgegenkommt, bleibt abzuwarten. Die Kassen dürften auf jeden Fall weiter entschlossen bleiben, den Transformationsfonds zu verhindern. Bestärkt dürften sie sich durch die unlängst vom Schätzerkreis bekanntgegebenen drohenden und saftigen Beitragssatzerhöhungen fühlen. Ob sie ein Klagerecht für sich erreichen können, ist fraglich, aber zumindest bei den Sozialgerichten dürften einige Klagen folgen. Fest steht: Die kommenden Wochen und Monate bleiben im deutschen Gesundheitswesen äußerst konfrontativ.

Sisyphus lässt grüßen

Kampf gegen Fehlverhalten im Gesundheitswesen

Berlin (pag) – Gesundheitsausgaben von jährlich über 400 Milliarden Euro wecken Begehrlichkeiten. Abrechnungsbetrug und Korruption schädigen das Sozialsystem schätzungsweise um 14 Milliarden Euro pro Jahr. Das Problem ist bekannt, von Kranken- und Pflegekassen eingerichtete Stellen gehen gegen Fehlverhalten vor – aber das Ganze ist äußerst mühselig. Dabei gibt es einige Ideen für neue Formen der Bekämpfung.

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Seit 20 Jahren haben die gesetzlichen Krankenkassen die Aufgabe, gegen Fehlverhalten im Gesundheitswesen vorzugehen. Die Bundesregierung hat mit dem Gesundheitsmodernisierungsgesetz alle Kranken- und Pflegekassen verpflichtet, Stellen zur Bekämpfung von Fehlverhalten im Gesundheitswesen einzurichten. Ende 2023 nimmt der GKV-Spitzenverband das Jubiläum zum Anlass, das Thema bei einer Veranstaltung grundsätzlich zu diskutieren. Feierstimmung herrscht nicht, von einer eindeutigen Erfolgsgeschichte mag niemand so recht sprechen. Verbandsvorstand Gernot Kiefer stellt klar: „Es ist eine mühsame Angelegenheit.“ Man sei bei Weitem nicht auf dem Gipfel angekommen, sondern sei lediglich ein Stück des Weges gegangen. Besonders brisant: Durch Abrechnungsbetrug entsteht nicht nur ein finanzieller Schaden, sondern die Patienten erhalten als Folge nicht die Leistungen, die sie eigentlich benötigen. Die gemeinschaftlich von Arbeitgebern und Versicherten finanzierten Beitragsmittel werden statt für Kuration, Prävention und Rehabilitation für andere Zwecke verwendet, führt Kiefer aus und warnt vor einem Vertrauensverlust.

Mehr Zusammenarbeit

Er appelliert an die Anwesenden, einzelkassenorientierte Strategien kritisch zu reflektieren. Gebraucht werde außerdem ein gesetzlicher Rahmen, um stärker vernetzt zu arbeiten. Zwischen den Krankenkassen und den Kassenärztlichen Vereinigungen sollten Verbünde, Datenaustausch und ein gemeinsames Vorgehen organisiert werden. „Wenn sich diejenigen hochprofessionell organisieren, die das Gesundheitswesen systematisch schädigen wollen, dann kann die Antwort nicht sein, dass wir bei den Methoden bleiben, die sich traditionell ergeben haben.“ Kiefer wirbt dafür, neue Methoden und Techniken wie Datamining und Künstliche Intelligenz so einzusetzen, dass ein adäquates Gegengewicht und nachhaltiger Aufklärungsdruck erzeugt werden.
Stichwort KI: Der Digitalausschuss des Bundesamtes für Soziale Sicherung (BAS) hat sich bereits 2021 mit KI-Systemen zur Bekämpfung und Verhinderung von Fehlverhalten im Gesundheitswesen beschäftigt – etwa mit statistischen Modellen und Machine-Learning-Algorithmen, die Unregelmäßigkeiten etwa in Abrechnungsdaten erkennen und verfolgen können. Das BAS ist überzeugt, dass diese zu einer „neuen Qualität und Quantität der Fehlverhaltensbekämpfung“ führen. Aber ist das unter den bestehenden gesetzlichen Grundlagen zulässig?

Vom Einzelfall zum Muster

Die Bekämpfung und Verhinderung von Fehlverhalten im Gesundheitswesen ist in § 197a SGB V geregelt. Diese Vorschrift enthält die leistungsrechtliche Grundlage wie auch die datenschutzrechtliche Verarbeitungsbefugnis, erläutert das BAS. Es vertritt die Auffassung, dass diese Befugnis relativ weit gefasst sei. Der Verarbeitungsansatz werde jedoch grundlegend verändert: „von einer Kontrolle im Einzelfall nach Anzeigen Dritter hin zu einer Analyse der eigenen Bestände aufgrund von kassenübergreifend erstellten Verdachtsmustern“. Dies eröffne bei der Rechtsauslegung weite Beurteilungsspielräume. Aus Gründen der Rechtssicherheit sollte jedoch mit einer expliziten klarstellenden Erweiterung die gesetzliche Verarbeitungsgrundlage neu gestaltet werden, empfiehlt das Amt. Neben dem BAS beschäftigen sich mittlerweile auch Wissenschaftler mit dem Thema (siehe Infokasten).
KI ist nicht der einzige Hebel für eine effektivere Bekämpfung von Fehlverhalten. Von Kassenseite wird der wirksame Schutz von Hinweisgebern, sogenannten Whistleblowern, als wichtiger Baustein angesehen. Auch der Aufbau einer Betrugspräventionsdatenbank sei dringend notwendig. Diese soll personenbezogenen Betrugsfälle speichern, hat etwa Frank Firsching bereits vor zwei Jahren verlangt. „Es sollte zum Beispiel endlich zentral erfasst werden, wenn Pflegedienstbetreibern wegen Abrechnungsbetrug die Zulassung entzogen wurde“, so der Verwaltungsratschef der AOK Bayern. Es sei nicht tragbar, dass Betrüger einfach ein Bundesland weiterziehen und dort eine neue Zulassung beantragen oder in einer verantwortlichen Tätigkeit eingesetzt werden können, ohne dass die Kranken- und Pflegekassen über die kriminellen Vorgänge informiert sind. Voraussetzung für eine solche Datenbank ist nach Auffassung des GKV-Verwaltungsrates, dass die Bundesregierung sozialgesetzlich klarstellt, dass der Austausch von personenbezogenen Daten zur Verhinderung von Fehlverhalten im Gesundheitswesen auch unter Verwendung von Datenbanken zulässig ist, die von Dritten im Auftrag betrieben werden. So heißt es im Bericht des Vorstandes an den Verwaltungsrat über „Arbeit und Ergebnisse der Stelle zur Bekämpfung von Fehlverhalten im Gesundheitswesen“ für den Zeitraum vom 1. Januar 2020 bis zum 31. Dezember 2021.

Dunkelfeldstudie – ein Muss?

Bei der Veranstaltung des GKV-Spitzenverbandes Ende 2023 nimmt vor allem die Diskussion zu einer möglichen Dunkelfeldstudie breiten Raum ein. Gegenüber der Presseagentur Gesundheit fasst der dort anwesende Rechtswissenschaftler Prof. Kai-D. Bussmann, der bereits mehrere Erhebungen dieser Art durchgeführt hat, deren Vorteile knapp zusammen: „Erstens Aufhellung des Dunkelfelds durch repräsentative Erhebung von Daten zu Verbreitung, Schadensvolumen und Begehungsmuster, zweitens Screening der eingesetzten Ressourcen zur Aufdeckung bei den Stellen für Fehlverhalten und der Ermittlungsbehörden, Analyse der Aufklärungserfahrungen und -quoten und drittens Schaffung einer breiten fachinternen und öffentlichen Awareness.“
Johanna Sell vom Bundesgesundheitsministerium (BMG) klingt bei der Debatte nicht überzeugt. Sie will vor allem mehr Effizienz in der Fehlverhaltensbekämpfung durch verbesserte gesetzliche Regelungen. Eine Dunkelfeldstudie sieht sie erst als zweiten Schritt. Sell kündigt bereits im November an, dass im geplanten Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetz einige neue Regelungen untergebracht werden sollen. Details sind zwei Monate später im Referentenentwurf nachzulesen. Vorgesehen ist etwa, die Landesverbände der Krankenkassen ausnahmslos in der Fehlverhaltensbekämpfung einzubeziehen, um „insbesondere kleinere Krankenkassen bei dieser Aufgabe zu unterstützen“. Datenübermittlungsbefugnisse sollen zudem erweitert und die Voraussetzungen für eine KI-gestützte Datenverarbeitung gesetzlich klargestellt werden. Der Gesetzgeber will außerdem den GKV-Spitzenverband verpflichten, auf Grundlage eines externen Gutachtens ein Konzept für eine bundesweite Betrugsdatenbank vorzulegen.
Immerhin, es bewegt sich etwas.

 

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Kriminelle Netzwerke
Das Projekt KriminelleNetzwerke entwickelt ein IT-Werkzeug, mit dem die Ermittlungsarbeit der Polizei unterstützt wird. Liegt ein Anfangsverdacht für Betrug oder Korruption im Gesundheitswesen vor und wurden Daten als Beweismittel gesichert, sollen mit Hilfe von KI Beziehungsgeflechte und Netzwerkstrukturen sichtbar gemacht werden. Dazu zählen E-Mails, Telefonverbindungen, Chatverläufe und Abrechnungsdaten. Die vorliegenden Datensätze werden analysiert und als Basis für die Erarbeitung von Merkmalen, die kriminelle Netzwerke charakterisieren, genutzt. Die zu entwickelnde KI-Anwendung wird mit Hilfe dieser Merkmale auf die Erkennung verdächtiger Netzwerke trainiert. Die Ergebnisse werden graphisch dargestellt, um die Beziehungen innerhalb des Netzwerkes abzubilden. Projektpartner sind neben dem GKV-Spitzenverband unter anderem das Fraunhofer-Institut für Techno- und Wirtschaftsmathematik und das Polizeipräsidium Oberbayern Süd. © istockphoto.com, wildpixel

„DMP sind Teil der Trägheit des Systems“

Prof. Lutz Hager zur umfassenden Reformbedürftigkeit der Programme

Berlin (pag) – Man habe zugelassen, dass die DMP Staub ansetzen, sagt Prof. Lutz
Hager, Vorstandsvorsitzender des Bundesverbandes Managed Care (BMC), kürzlich.
Als der Verband das Impulspapier DMP 2.0 vorstellt, lässt Hager keinen Zweifel daran, dass er für frischen Wind bei den strukturierten Behandlungsprogrammen sorgen will. Wie das funktionieren soll, erzählt der Politologe im Interview.

Sie kritisieren die DMPs als festgefahren. Wer oder was ist der größte Bremsklotz?

Hager: Zunächst von der positiven Seite: Disease-Management-Programme sind zu einem wichtigen Baustein in der Versorgung von Menschen mit chronischen Erkrankungen geworden und erreichten 2022 über 7,2 Millionen Menschen mit chronischen Erkrankungen.

Aber?

Hager: Die Einschreibezahlen sind aufgrund fehlender Anreize in den letzten Jahren im Durchschnitt nur geringfügig gestiegen – bei steigender Prävalenz der Erkrankungen. Viele neuere Erkenntnisse zu den Chancen von Selbstmanagement sind nicht eingeschlossen und die Prozesse sind für alle Beteiligten umständlich. Zudem kommen die neu beschlossenen DMP nicht in der Versorgung an, da – bis auf wenige Ausnahmen – regionale Vertragsabschlüsse dazu fehlen. Die DMP sind Teil der Trägheit des Systems – dabei ist die Vermeidung und Versorgung von chronischen Erkrankungen entscheidend für die Zukunftsfähigkeit unseres Gesundheitssystems.

Prof. Lutz Hager wurde im April 2022 zum Vorstandsvorsitzenden des Bundesverbands Managed Care (BMC) gewählt. Der Politologe ist seit 2021 Professor für Management im Gesundheitswesen an der SRH Fernhochschule – The Mobile University, Riedlingen. Zuvor war er unter anderem Geschäftsführer der IKK Südwest und arbeitete als Unternehmensberater bei McKinsey & Company. © pag, Fiolka

Der BMC hat eine Reihe von Reformvorschlägen präsentiert. Wo ist der Innovationsbedarf besonders groß?  

Hager: Bei den Vorschlägen, die wir formuliert haben, konzentrieren wir uns auf drei Bereiche: Zum einen ist es für den Erfolg der Programme unabdingbar, dass Patientinnen und Patienten aktiver in die Behandlung einbezogen und in ihrem Selbstmanagement unterstützt werden. Dafür braucht es Anreize für mehr Eigenverantwortung und Patientenbeteiligung. Digitale Tools wie DiGA (Digitale Gesundheitsanwendungen, Anm. d. Red.), die Integration von PROMs und PREMs in den Versorgungsprozess sowie daran gekoppelte Feedbackschleifen können hierfür einen wichtigen Beitrag leisten. Darüber hinaus müssen die Prozesse rund um die Behandlung, Beratung und Betreuung optimiert werden. Die Einbindung digitaler Möglichkeiten wie beispielsweise ein kontinuierliches Symptommonitoring, eine Anbindung an die elektronische Patientenakte sowie Einrichtung eines nationalen DMP-Registers zu Forschungszwecken sind hierbei wichtige Schritte. Und nicht zuletzt müssen die Rahmenbedingungen vereinfacht und um zusätzliche Anreize für eine qualitätsorientierte Versorgung erweitert werden. Insbesondere sollten DMP-Verträge auf Bundesebene geschlossen und Maßnahmen zur Evaluation und Qualitätssicherung kassenartübergreifend und bundesweit vereinheitlicht werden.  

Lohnt sich eine Modernisierung der DMP überhaupt noch oder ist der Ansatz mittlerweile nicht mehr zeitgemäß?

Hager: Im Gegenteil: Wir haben einen enormen Erkenntnisfortschritt darüber gewonnen, wie Lebensstilinterventionen und ein strukturiertes Selbstmanagement Menschen dazu befähigt, mit ihrer chronischen Krankheit umzugehen und ihre Alltagsroutinen an ihre spezifische Krankheitssituation anzupassen. Im telemedizinischen Lebensstil-Interventions-Programm TeLIPro konnte beispielsweise nachgewiesen werden, wie Menschen mit Diabetes mellitus Typ 2 durch telemedizinische Betreuung und Coaching eine signifikante Reduktion des HbA1c, Gewichtsreduktion sowie eine Verbesserung der kardiovaskulären Risikofaktoren erreichten. Bei einem Teil der Patientinnen und Patienten führte die Teilnahme an dem Programm sogar zu einer Diabetesremission.

Dennoch nimmt der Anteil von Menschen mit chronischen Erkrankungen weiter zu.

Hager: Das stimmt. Schätzungsweise 40 Prozent der Bevölkerung haben zwischenzeitlich eine oder mehrere chronische Erkrankungen. Und die Krankheitslast steigt, sogar in früheren Lebensjahren. Laut einer Studie der Medizinischen Hochschule Hannover hat sich der Anteil adipöser Menschen im Alter zwischen 25 und 55 Jahren im Zeitraum von 2004 bis 2020 fast verdoppelt. Das ist besorgniserregend, da Adipositas weitere Erkrankungen wie Diabetes oder Bluthochdruck begünstigt und uns daher vor zukünftige Versorgungsherausforderungen stellt. Dabei ist das soziale Gefälle besonders erschreckend: Besonders benachteiligte Bevölkerungsgruppen sind betroffen und diese Gruppen werden auch in der Gesundheitsversorgung nicht ausreichend berücksichtigt. Gerade diese Menschen profitieren daher am meisten von einer strukturieren Behandlung, die zudem „niedrigschwellig“, also attraktiv und erreichbar sein muss.

Was muss konkret passieren?  

Hager: Hier müssen wir im Gesundheitswesen eine „Extra-Meile“ gehen und eine Neuausrichtung der DMP ebnet diesen Weg dorthin. Dazu gehören im Übrigen auch klarere und stärkere Anreize oder sogar Verpflichtungen zur Teilnahme für alle Beteiligten. In dieser Ausrichtung sind DMP ein Kernelement eines solidarischen Gesundheitssystems.

Wie muss das Versorgungsystem aufgestellt sein, damit eine gute Versorgung chronisch kranker Patienten zukünftig sichergestellt ist?

Hager: Unsere Gesundheitsversorgung ist noch immer nicht ausreichend auf die Anforderungen einer Gesellschaft des längeren Lebens eingestellt. Chronische Erkrankungen sind eng mit Lebensstil und Alter verbunden und begleiten Menschen Jahre und Jahrzehnte. Unser Gesundheitssystem ist aber ereignisbezogen und reaktiv – dann, wenn eine Erkrankung eskaliert. Wir brauchen daher neue Versorgungskonzepte, die proaktiv auf Patientinnen und Patienten zugehen und ihr soziales Umfeld einbeziehen. Gesunderhaltung rückt in die Mitte der Gesellschaft – und verbindet Menschen; Gesundheit betrifft uns alle. Wir sollten viel mehr pädagogisch denken – gerade dort, wo wir Menschen heute nicht erreichen. Zudem muss die Versorgung multiprofessionell und einrichtungsübergreifend ineinandergreifen. Solche Netzwerke sollten nicht nur klassische Akteure der Gesundheitsversorgung und Pflege einbeziehen, sondern auch den Bereich der Sozialversorgung und des Quartiersmanagements. Und zu guter Letzt müssen wir frühe Risikofaktoren ernst nehmen und von dort systematisch in passende Angebote überleiten.

Update erforderlich

Haben Disease Management Programme den Anschluss verloren?

Berlin (pag) – Die Disease-Management-Programme, kurz DMP, werden 20 Jahre alt.
Anfangs wurden sie von der Ärzteschaft als Kochbuchmedizin attackiert, mittlerweile haben sie sich längst im Versorgungsalltag etabliert. Aber die strukturierten Behandlungsprogramme scheinen in die Jahre gekommen zu sein. Experten verlangen ein grundsätzliches Update

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Die DMP hätten den Anschluss verloren, das Thema sei auf verschiedenen Ebenen festgefahren, kritisiert kürzlich der Bundesverband Managed Care (BMC) bei der Vorstellung eines Impulspapiers mit dem Titel DMP 2.0. Für den Vorstandsvorsitzenden des Verbandes, Prof. Lutz Hager, ist die Modernisierung der Programme alles andere als eine gesundheitspolitische Randnotiz. „Das ‚make or break‘-Thema für Gesundheitsversorgung in einer Gesellschaft längeren Lebens sind die chronisch degenerativen Erkrankungen, die auf uns alle mehr oder weniger unweigerlich zukommen.“ 

Mutig und disruptiv

Die DMP sind stehengeblieben, findet Hager. Daher müsse einerseits „mutig und disruptiv“ in die Zukunft gedacht werden, auf der anderen Seite seien sowohl die Teilnehmer der etablierten Programme als auch die beteiligten Akteure mit in die neue Welt zu nehmen. So beschreibt der Professor für Management im Gesundheitswesen den anspruchsvollen Spagat, den es zu meistern gilt, wenn die Programme wirklich nachhaltig reformiert werden sollen.

In dem Impulspapier des Verbandes wird daher auch keine Fundamentalkritik geäußert. Die DMP seien wertvoll, heißt es dort. „In der derzeitigen Ausgestaltung helfen sie, durch einen koordinierten arzt- und sektorenübergreifenden Betreuungsprozess, die Qualität und Wirtschaftlichkeit der Versorgung zu verbessern.“ Bei den Teilnehmerinnen und Teilnehmern bestehe eine hohe Zufriedenheit. Beispielhaft verweist der BMC auf das DMP Diabetes mellitus Typ 2: Dort sind 93,1 Prozent der Patienten mit ihrer Versorgung zufrieden bis vollkommen zufrieden. Auch bei den Ärzten ist das Feedback wohlwollend, auch wenn die Zustimmung nicht ganz so deutlich ausfällt: 59 Prozent der befragten Hausärztinnen und Hausärzte bewerten das DMP als positiv, lautet das Fazit einer Studie der Universitätsmedizin Mainz.

Zur Wirkung der Behandlungsprogramme wird auf das geringere Sterberisiko verweisen. Der Elsid-Studie des Universitätsklinikums Heidelberg zufolge sind im Vergleich zu 15 Prozent der Nicht-Teilnehmenden 8,8 Prozent der Teilnehmenden im DMP Diabetes mellitus Typ 2 verstorben. Beim DMP Koronare Herzkrankheit (KHK) hat eine 2020 im European Journal of Health Economics veröffentliche Studie eine verbesserte leitliniengerechte Medikation sowie ein reduziertes Sterberisiko nachgewiesen.

Potenzial nicht ausgeschöpft

Ein wichtiges Argument für die strukturierten Programme sind nicht zuletzt auch die niedrigeren Behandlungskosten. Diese lagen für Teilnehmende im DMP Diabetes mellitus Typ 2 von 2005 bis 2007 im Durchschnitt 1.000 Euro unter den Behandlungskosten der Kontrollgruppe.

Trotz dieser an sich erfreulichen Bilanz sieht der BMC die DMP seit einigen Jahren stagnieren, „das Potenzial ist längst nicht ausgeschöpft“. Das lässt sich unter anderem an den Teilnehmerzahlen ablesen. Beispiel COPD: Von geschätzten 2,6 Millionen Patienten hierzulande sind nur rund 715.000 in das Programm eingeschrieben. Gerade einmal rund 1,9 Millionen KHK-Patienten nehmen das DMP in Anspruch, obwohl in Deutschland rund 4.9 Millionen Personen an der Koronaren Herzkrankheit leiden. Hinzu kommt, dass dem BMC zufolge die Einschreibezahlen in den letzten Jahren im Durchschnitt nur im einstelligen Prozentbereich gestiegen sind. Eine weitere Baustelle ist die stockende Implementierung neuer Programme (siehe Infokasten „Neue DMP haben es schwer“).

Der BMC macht sich deshalb für ein digitales Update der Programme stark und sieht darin ein großes Potenzial für konkrete Verbesserungen in der Versorgung. Die Integration digitaler Lösungen könnte zum Beispiel Prozessabläufe unterstützen, gleiches gelte für die praxis-, berufsgruppen- und sektorenübergreifende Kommunikation. Auch zusätzliche Möglichkeiten der strukturierten Datenerhebung – Stichwort Patient-Reported Outcome Measures (PROMs) – sieht der Verband.

Die Politik hat offenbar ebenfalls die Chancen erkannt. Der vom Bundeskabinett beschlossene Entwurf für das Gesetz zur Beschleunigung der Digitalisierung des Gesundheitswesens (Digital-Gesetz) sieht die Einführung eines digitalen DMP für Patienten mit Diabetes mellitus Typ 1 und Typ 2 vor.  

 

© Bundesverband Managed Care

 

Ein erster Modernisierungsschritt, doch der BMC hat eine wesentlich umfassendere DMP-Reform im Blick. Idealerweise würde diese auf drei Ebenen ansetzen:

  • Patienten sollten aktiver an der Behandlung beteiligt und in ihrem Selbstmanagement unterstützt werden
  • Teambasierte, interprofessionelle und digital gestützte Versorgungsansätze als Hebel, um Prozesse rund um die Behandlung, Beratung und Betreuung zu optimieren
  • Vereinfachte Rahmenbedingungen und zusätzliche Anreize für eine qualitätsorientierte Versorgung

Handlungsfeld 1: Patienteneinbindung stärken
Kompetenzen zum Selbstmanagement aufbauen, Anreize für mehr Eigenverantwortung und Patientenbeteiligung setzen, Einbindung von Digitalen Gesundheitsanwendungen, Videoschulungen, lauten einige der Vorschläge des BMC. Dieser plädiert auch dafür, Patient-Reported Outcome Measures (PROMs) und Patient-Reported Experience Measures (PREMs) in den Versorgungsprozess zu integrieren.

Handlungsfeld 2: Prozesse verbessern
Digital unterstütztes Monitoring, Unterstützung durch Praxisverwaltungssysteme und Krankenhausinformationssysteme, individuelle Therapiepläne mittels KI, DMP-Daten in der elektronischen Patientenakte zusammenführen, DMP-Register, integrierte Versorgung stärken, Multimorbidität einbeziehen sowie das Ein- und Ausschreibemanagement überarbeiten – diese Stichwörter zeigen die vielschichtigen Reformoptionen auf.

Handlungsfeld 3: Verträge, Finanzierung und Steuerungsinstrumente überarbeiten
Dieses Handlungsfeld wartet mit dicken Brettern auf, die der BMC bohren will: DMP-Rahmenverträge auf Bundesebene schließen, Mehrfacheinschreibungen vergüten, Evaluation und Qualitätssicherung vereinheitlichen, Outcome-orientierte Vergütungselemente integrieren.

Die skizzierten Handlungsfelder zeigen, dass es um einen vielschichtigen Reformprozess geht, dessen vollständige Umsetzung in der aktuellen Legislaturperiode illusorisch sein dürfte. Allerdings werden die DMP bereits beim Digital-Gesetz mitgedacht und auch in einem Impulspapier aus dem Bundesgesundheitsministerium zu Herz-Kreislauf-Krankheiten werden einige aufschlussreiche Änderungen zu den Programmen angekündigt (siehe Infokasten „BMG will DMP stärken“). Insofern bewegt sich durchaus etwas.

 

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Neue DMP haben es schwer
Dem BMC zufolge kommen die DMP, die der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) neu beschlossenen hat, nicht in der Versorgung an. So habe der Ausschuss beispielsweise die Anforderungen für die DMP zu Herzinsuffizienz (2018), Depression (2019), chronischer Rückenschmerz (2019), Osteoporose (2020) und rheumatoide Arthritis (2021) bereits festgelegt. Aber: Regionale Vertragsabschlüsse zu diesen Indikationen stehen bis auf wenige Ausnahmen derzeit aber noch aus, kritisiert der Verband. Darüber hinaus gestalte sich die Weiterentwicklung bestehender DMP als „komplex und schwierig“, denn Verfahrensprozesse im G-BA nehmen viel Zeit in Anspruch und erfordern die Beteiligung einer großen Anzahl von Akteuren, heißt es im Impulspapier des Bundesverbandes Managed Care. Der Verband weist außerdem darauf hin, dass als zulassungspflichtige Behandlungsprogramme die DMP unter der Aufsicht des Bundesamts für Soziale Sicherung stehen. Das ziehe aufwändige Genehmigungsverfahren nach sich.

 

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BMG will DMP stärken
Derzeit kursiert ein vierseitiges Impulspapier aus dem Bundesgesundheitsministerium. Darin heißt es: „Ziel der Initiative des Bundesministeriums für Gesundheit zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen ist es, durch ein Bündel an Maßnahmen die Früherkennung und die Versorgung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu verbessern.“ Eines der Handlungsfelder lautet: Stärkung von Disease-Management-Programmen. Demnach soll die sogenannte Programmkostenpauschale gestrichen werden, dafür erfolgt eine Berücksichtigung der programmbedingten Leistungsausgaben im Risikostrukturausgleich. Auch das Zulassungsverfahren durch das Bundesamt für Soziale Sicherung steht auf der Streichliste. Die Krankenkassen werden verpflichtet, innerhalb einer festgelegten Frist mit den Leistungserbringern Verträge zur Umsetzung der DMP zu schließen. „Hierfür wird ein Konfliktlösungsmechanismus eingerichtet“, heißt es. Außerdem werden die Vertragspartner für die DMP Diabetes Typ 1 und Typ 2 sowie für Koronare Herzkrankheit in die Pflicht genommen, Elemente einer qualitätsorientierten, erfolgsabhängigen Vergütung in den Verträgen zu regeln.

 

 

Evidenzbasierte Medizin allein reicht nicht

Berlin (pag) – Die Deutsche Krebsgesellschaft (DKG) spricht sich dafür aus, die Abläufe im Innovationsfonds transparenter und ergebnisorientierter zu gestalten. Auf der Veranstaltung „Brennpunkt Onkologie“ kritisiert DKG-Generalsekretär Dr. Johannes Bruns, dass ein klarer Mechanismus fehle, wie für den Transfer empfohlene Projekte in die Regelversorgung überführt werden“. Und Versorgungsforscher Prof. Holger Pfaff bringt den Ansatz EbM + ins Spiel.

Der Wissenschaftler von der Universität zu Köln adressiert auf der Veranstaltung mehrere Herausforderungen, die der Fonds zu künftig zu meistern hat. Pfaff fragt beispielsweise: „Wird die Umsetzung und damit die machtpolitische und gesellschaftliche Akzeptanz von neuen Versorgungsformen bei der Planung und Antragstellung genügend mitbedacht?“ Eine weitere Frage vom ehemaligen Vorsitzenden des Fonds-Expertenbeirats lautet: „Leistet die evidenzbasierte Medizin (EbM) einem Strukturkonservatismus Vorschub und erschwert damit die Einführung von Versorgungsinnovationen?“

Pfaff mahnt eine bessere theoretische Fundierung der geplanten neuen Versorgungsformen im Innovationsfonds an. Derzeit basierten viele Projekte auf Ideen oder einer „gefühlten Plausibilität“ und seien damit bereits durchsetzungsfähig. Damit werde die Macht des Narrativs missachtet. Pfaff: „Wir brauchen Theorien als Landkarten, die uns zeigen, wo es ungefähr sinnvoll ist, etwas zu planen“. Randomisierte klinische Studien verführten dazu, einfach zu machen.

                                                                                      Bestmögliche statt höchste Evidenz

Die Weiterentwicklung des Innovationsfonds im Blick: Holger Pfaff und Ursula Marschall © pag, Fiolka

Der Versorgungsforscher empfiehlt daher einen Dreiklang aus erstens Theoriearbeit (Identifizierung nützlicher Theorien und Ableitung möglicher Kausalmechanismen zur Erklärung eines Phänomens oder von Interventionswirkungen), zweitens EbM+ (Überprüfung von Thesen über Kausalmechanismen durch mechanistische Studien) sowie drittens EbM (Durchführung von künstlichen und natürlichen Experimenten, um die Wirksamkeit einer Maßnahme/Implementierungsstrategie zu ermitteln). Außerdem plädiert er dafür, dass bei Innovationsfondsprojekten in Zukunft die in dem gegebenen Gesundheitssystem bestmögliche Evidenz angestrebt werden solle. Die höchste Evidenz solle dabei als Richtschnur dienen.

Im Folgenden stellt Dr. Ursula Marschall, Forschungsbereichsleiterin Medizin und Versorgungsforschung des Barmer Instituts für Gesundheitssystemforschung, klar, dass die teils bestehenden Selektivverträge zwischen Krankenhäusern und Krankenkassen nur eine temporäre Lösung darstellten. „Ziel muss es aber sein, die Regelversorgung zu verbessern“. Dr. Johannes Bruns (DKG) mahnt eine höhere Verbindlichkeit für die jeweils adressierten Institutionen an, den Empfehlungen des Innovationsausschusses zu folgen. Zudem sollten längere Förderzeiträume ermöglicht werden.

 

GKV-Stabilisierung mit reichlich Zündstoff

Berlin (pag) – Mit dem Gesetzesentwurf „zur finanziellen Stabilisierung der gesetzlichen Krankenversicherung“ verlangt Gesundheitsminister Prof. Karl Lauterbach allen Akteuren des Gesundheitswesens viel ab. Besonders die Arzneimittelindustrie wird zur Kasse gebeten. Neben Milliarden-Zahlungen soll das AMNOG stark verändert werden.

Vorwürfe an den Vorgänger: Für das GKV-Minus macht Gesundheitsminister Prof. Karl Lauterbach Jens Spahn verantwortlich. © pag, Fiolka

Der GKV steht 2023 ein Defizit im Umfang von mindestens 17 Milliarden Euro ins Haus. Fachleute rechnen sogar mit bis zu 25 Milliarden Euro. Die pharmazeutische Industrie muss sich laut geplantem Gesetz unter anderem auf folgende Maßnahmen einstellen: Das Bundesgesundheitsministerium (BMG) will das Preismoratorium über den 31. Dezember 2022 um weitere vier Jahre verlängern. Außerdem verlangt Lauterbach der Industrie für 2023 und 2024 jeweils eine Milliarde Euro „Solidaritätsabgabe“ ab. (Nach Redaktionsschluss liegt ein Kabinettsentwurf vor: Darin findet sich die „Solidaritätsabgabe“ nicht
mehr, dafür aber ein erhöhter Herstellerabschlag um fünf Prozentpunkte.)

Stichwort AMNOG: Der zwischen GKV-Spitzenverband und Hersteller verhandelte Erstattungsbetrag für neue Arzneimittel soll künftig rückwirkend ab dem siebten Monat nach Inverkehrbringen des Medikaments gelten. Außerdem trifft das Gesetz Vorgaben für Erstattungsbeträge von Arzneimitteln, die nach dem Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses im AMNOG-Verfahren keinen, einen geringen oder einen nicht quantifizierbaren Zusatznutzen haben. Die Umsatzschwelle von Orphan Drugs für die Nutzenbewertung will Lauterbach von 50 auf 20 Millionen Euro reduzieren. Zudem wird für Arzneimittel mit neuen Wirkstoffen ein Kombinationsabschlag in Höhe von 20 Prozent auf den Erstattungsbetrag eingeführt.



Solidarausgleich zwischen Kassen

Auch die Krankenkassen müssen ihren Anteil leisten. Für sie ist ein „kassenübergreifenden Solidarausgleich“ vorgesehen. Dabei sollen in zwei Stufen die Finanzreserven, die abzüglich eines Freibetrags von zwei Millionen Euro 0,2 Monatsausgaben überschreiten, abgeschöpft werden.

Die gesetzliche Obergrenze für die Finanzreserven der Kassen soll von 0,8 auf 0,5 Monatsausgaben gesenkt werden. Diese Grenze gelte auch für das bestehende Anhebungsverbot für Zusatzbeitragssätze. Außerdem will das BMG eine Reduzierung der Obergrenze für die Liquiditätsreserve des Gesundheitsfonds von derzeit 0,5 auf 0,25 Monatsausgaben festlegen. Der Anstieg der sächlichen Verwaltungsausgaben der Kassen für 2023 dürfe nicht höher als drei Prozent gegenüber 2022 sein. Die Zuweisungen an die Kassen für Verwaltungsausgaben sollen um 25 Millionen Euro gemindert werden.

Vertragsärzte müssen künftig ohne die extrabudgetäre Vergütung für neue Patienten auskommen. Dabei handelt es sich um eine Regelung aus dem Terminservice- und Versorgungsgesetz, die eindeutig Lauterbachs Handschrift trägt. Im Krankenhaus sollen ab 2024 nur noch die Personalkosten qualifizierter Pflegekräfte, die direkt am Bett arbeiten, im Pflegebudget berücksichtigt werden.
Einen Schuldigen für das GKV-Defizit macht Lauterbach bei der Vorstellung der Eckpunkte aus: seinen Vorgänger Jens Spahn. Der habe teure Gesetze auf den Weg gebracht und Strukturreformen versäumt. Lauterbach habe das Minus zum großen Teil „geerbt“. Die Spahnsche Gesetzgebung hat zweifelsohne immense Kosten verursacht. Dass Lauterbachs Einfluss als damaliger Gesundheitsexperte im SPD-Fraktionsvorstand auf eben diese Gesetze nicht gering war, verschweigt der Minister an diesem Tag.

Genommedizin für alle?

Initiativen und Verzögerung auf dem Weg zur Regelversorgung

Berlin (pag) – Genommedizin hat das Potenzial, die Prävention, Diagnose und Behandlung von bestimmten Krankheiten entscheidend zu verbessern. Allerdings ist sie hierzulande noch nicht in der Regelversorgung angekommen. Zwei Initiativen leisten dafür derzeit die Vorarbeit und sollen künftig besser miteinander verzahnt werden. Doch der Weg zur flächendeckenden Teilhabe am medizinischen Fortschritt ist steinig.

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Die Genommedizin nutzt Sequenzinformationen für eine genetische Diagnostik und klinische Interpretation der individuellen Erbinformation. Ärztinnen und Ärzte können damit Krankheiten immer besser diagnostizieren sowie optimale Präventionsmaßnahmen und Therapien einleiten. Eine personalisierte Medizin, basierend auf Erkenntnissen der Analyse des individuellen Erbmaterials eines einzelnen Menschen, ist damit in greifbare Nähe gerückt. So erklärt das Bundesgesundheitsministerium (BMG) diesen innovativen medizinischen Ansatz, der bereits heute in Deutschland erfolgreich eingesetzt wird. Allerdings noch längst nicht bei allen Patienten, die davon profitieren könnten, denn regelhaft steht dieses Versorgungsangebot noch nicht zur Verfügung.

Als Wegbereiter dafür gilt die 2019 vom BMG gestartete und mit über acht Millionen Euro unterstützte Initiative genomDE. Sie soll Standards für den klinischen Einsatz von Genomdiagnostik, die qualitätsgesicherte Sequenzierung und die interdisziplinäre Auswertung der Sequenzdaten etablieren. Auch eine bundesweite Plattform für diagnostisch erhobene genetische Daten soll konzipiert und aufgebaut werden. Diese soll ein immer wieder postuliertes Ziel verwirklichen, nämlich Gesundheitsversorgung und Forschung miteinander zu verbinden.

Es hängt am Vertrauen

Bei dem genomDE-Symposium im Juli betont Petra Brakel, Leiterin der Unterabteilung Medizinprodukte, Apotheken und Betäubungsmittel im BMG, dass die datenbasierte Versorgung eine ganz grundlegende Voraussetzung habe: das Vertrauen aller Beteiligter – insbesondere aller Patientinnen und Patienten – in die sicherheitstechnischen, die datenschutzrechtlichen und ethischen Standards, die in diesem Verfahren eingesetzt werden. Dafür werde genomDE konkrete Lösungsansätze entwickeln.
Zur Anwendung kommen sollen diese in einem weiteren Projekt, dem Modellvorhaben Genomsequenzierung nach Paragraf 64e SGB V, das kurz vor Ende der vergangenen Legislatur mit dem Gesetz zur Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung auf die Schiene gesetzt wurde. Ziel dieses Projektes ist die Implementierung einer umfassenden Diagnostik und personalisierten Therapiefindung bei seltenen und onkologischen Erkrankungen mittels umfangreicher Genomsequenzierung – und zwar im Rahmen eines strukturierten klinischen Behandlungsablaufs. Die Regelung soll nach erfolgreicher Evaluation Eingang in die Regelversorgung erhalten. Die Laufzeit beträgt fünf Jahre.

Nicht mit der Schrotflinte

BMG-Vertreterin Brakel hebt die Bedeutung des Modellvorhabens klar hervor: Man lege damit die Basis für eine innovative, bundesweit einheitliche und qualitativ hochwertige Genomdiagnostik bei seltenen und onkologischen Erkrankungen. „Wir stellen damit sicher, dass alle Versicherten der gesetzlichen Krankenversicherung und nicht nur diejenigen, deren Krankenkasse gegebenenfalls schon ein Projekt betreibt, Zugang zu diesen Versorgungsformen haben.“
Johannes Wolff vom GKV-Spitzenverband betont in seinem Vortrag vor allem den Modellcharakter. Man versuche, einen Startpunkt zu finden, es gehe aber nicht darum, eine Flächendeckung und Regelversorgung zu etablieren und alle denkbaren Indikationen einzubeziehen. Bezüglich der teilnehmenden Patienten weist Wolff darauf hin, dass der Erkenntnisgewinn „voraussichtlich wesentlich“ sein müsse: Klinisch relevanter Mehrwert für die Behandlung oder wesentliche Erkenntnis für die Diagnose lauten die Stichwörter. Das ist auch für die vorgesehene Evaluation von entscheidender Bedeutung, denn: „Je mehr wir mit der Schrotflinte auf das Thema Genomsequenzierung schießen, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass das Ergebnis nicht so überzeugend ist“, ist der Kassenvertreter überzeugt. Er empfiehlt, sich auf jene Bereiche zu konzentrieren, in denen den Patienten bei der Versorgung ein Nutzen entsteht, um gleichzeitig zu vermeiden, dass sie „genauso früh sterben, aber doppelt so teuer“ sind.

Ein herber Schlag

Wolff zufolge sind derzeit 20 Krankenhäuser an den Vertragsverhandlungen mit dem GKV-Spitzenverband beteiligt, nachdem anfangs 52 Anträge von 29 Kliniken eingegangen waren (27 für den Bereich Onkologie, 25 für seltene Erkrankungen). Ihm ist es wichtig hervorzuheben, dass es sich um ein dynamisches Vertragswerk handele. Beispielsweise kann der Kreis der teilnehmenden Häuser größer werden, auch der Beitritt der PKV ist gesetzlich vorgeschrieben. Anpassungen an andere Indikationen und neue Vergütungen sollen ebenfalls regelmäßig überprüft werden.
Der Startschuss für dieses mit Spannung erwartete Modellvorhaben soll allerdings nicht, wie ursprünglich vorgesehen, Anfang 2023 fallen. Wie auf dem Symposium bekannt gegeben wird, geht es erst im Januar 2024 los. Ein Jahr länger zu warten, mag für die Akteure des Gesundheitswesens hinnehmbar sein, für die betroffenen Patientinnen und Patienten ist es jedoch ein herber Schlag.

 

Infokasten: Stichwort wissensgenerierende Versorgung
Auf dem Symposium unterstreicht Dorothee Andres, ebenfalls BMG, dass  die Initiative genomDE das für das Modellvorhaben Genomsequenzierung  wichtige Konzept einer wissensgenerierenden Versorgung erarbeite. Auch Sebastian Semler, Geschäftsführer der Technologie- und Methodenplattform für die vernetzte medizinische Forschung, hebt hervor, dass die Basis von genomDE ein wissensgenerierendes Versorgungskonzept für Patientinnen und Patienten sein werde.Dieses werde die Nutzung von klinischen und assoziierten genomischen Daten für   die individuelle Behandlung sowie für die Forschung zur kontinuierlichen Verbesserung von Diagnostik und Therapie ermöglichen. Die notwendigen Eckpunkte für eine wissensgenerierende Versorgung erläutert auf der Veranstaltung der Onkologe Prof. Michael Hallek, Universitätsklinikum   Köln. Dazu zählt er neben dem spezifischen Wissen zu den jeweiligen Krankheitsbildern die Einbeziehung translationaler Spitzenforschung an großen, vernetzten Zentren sowie die Schaffung weiterer vernetzter Strukturen. Wichtig sei eine reibungsfreie Interaktion von Leistungserbringern und forschenden Einrichtungen. Digitalisierung und  Interoperabilität der Datenbewirtschaftung seien ebenfalls wichtige Bausteine, ebenso wie der Abbau bürokratischer Hürden und spezielle Managementkompetenzen.

Ohne Krankenversicherung: Braucht es eine Clearingstelle?

Wiesbaden (pag) – Die Zahl der Menschen, die keine Krankenversicherung besitzen, ist in den vergangenen vier Jahren gesunken. Mit unterschiedlichen Zahlen hatte das Statistische Bundesamt allerdings eine Zeit lang Verwirrung gestiftet.

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Alle vier Jahre erhebt das Bundesamt für Statistik im Rahmen des Mikrozensus Angaben zur Krankenversicherung der Befragten. Im August teilt die Behörde mit, dass im vergangenen Jahr 143.000 Bürger über keine Krankenversicherung verfügten – trotz der zehn Jahre zuvor eingeführten Versicherungspflicht. Diese Zahl ruft umgehend Politiker von Linke und SPD auf den Plan, denn vier Jahre zuvor waren es noch 79.000 Personen gewesen. Die Zahl derjenigen, die im Krankheitsfall nur unzureichend geschützt sind, hat sich demnach fast verdoppelt. SPD-Politikerin Bärbel Bas fordert daraufhin eine „Clearingstelle“, die Betroffenen helfen solle, ihren Versicherungsstatus zu klären, sowie einen Fonds, der in der Zwischenzeit die Behandlungskosten trage. Einen Monat später korrigiert allerdings das Bundesamt seine Angaben: Tatsächlich sei die Zahl der Menschen ohne Krankenversicherung zwischen 2015 und 2019 auf 61.000 zurückgegangen. Experten gehen jedoch von einer deutlich höheren Dunkelziffer aus. „Mein Eindruck ist, dass diese Zahl zu niedrig ist“, sagt etwa Yvonne Vollmer von der Verbraucherzentrale Hamburg. So bleiben zum Beispiel Wohnungslose bei der Haushaltsbefragung außen vor.

Wer ist nicht versichert?

Der offiziellen Statistik zufolge sind fast zwei Drittel der Betroffenen Männer, besonders oft handelt es sich um Selbstständige und mithelfende Familienangehörige sowie Nichterwerbspersonen. Die meisten Betroffenen seien jedoch schon vor langer Zeit – meist aufgrund von Beitragsrückständen – aus der Versicherung ausgeschieden und lebten seither ohne den Schutz. Nach heutiger Gesetzeslage ist eine Kündigung wegen ausbleibender Beiträge nicht mehr möglich. Die Angst vor extrem hohen Schulden sei einer der Hauptgründe dafür, dass Menschen nicht mehr in die Versicherung zurückkehrten, sagt Vollmer. 2013 schaffte die Politik mit dem Beitragsschuldengesetz kurzzeitig die Möglichkeit für einen Schuldenschnitt. Seither müssen neu Versicherte die versäumten Beiträge beziehungsweise Prämien zumindest in Teilen nachzahlen – hinzu kommen die regulären monatlichen Zahlungen, die gerade in der PKV hoch ausfallen können. „Allein die Kosten für den Basistarif überschreiten oft die geringen Einkünfte“, so Vollmer. Viele Betroffene fürchteten, abhängig von staatlichen Leistungen zu werden.

Die Patientenbeauftragte der Bundesregierung, Prof. Claudia Schmidtke weist darauf hin, dass Krankenkassen verpflichtet sind, ehemalige Versicherte wieder aufzunehmen. „Es besteht zudem in der Regel die Möglichkeit, Ratenzahlungen zu vereinbaren oder in Härtefällen Beiträge zu stunden“, sagt sie. Damit will sich Bas nicht zufriedengeben. Es brauche „weitere Regelungen, um die Behandlung von Menschen ohne Krankenversicherung sicherzustellen“. Auch an ihrer Forderung nach einer bundesweiten Clearingstelle und einem Fonds zur Übernahme der Behandlungskosten hält sie trotz korrigierter Zahlen fest.

Mauerblümchendasein ade bei der Integrierten Versorgung?

Berlin (pag) – 20 Jahre nach Einführung der Integrierten Versorgung haben Selektivverträge noch immer nicht die erwünschte Systemwirkung erzielt. Trotzdem seien sie das wichtigste Instrument zur Überwindung der Sektorengrenzen, meint der Bundesverband Managed Care. Aktuell plant der Gesetzgeber, die Spielräume für Selektivverträge zu erweitern. Und auch in Sachen Transparenz tut sich etwas.

Mit der Integrierten Versorgung die Sektorengrenzen überwinden? Das scheint noch ein langer Weg zu sein. © iStockphoto, ferrantraite

Alle Selektivverträge und Verträge der hausarztzentrierten Versorgung hat das Bundesamt für Soziale Sicherung (BAS) in einer Liste auf seiner Internetseite veröffentlicht. Damit kommt das Amt einer Regelung aus dem Fairer-Kassenwettbewerb-Gesetz nach. Die Vertragstransparenzstelle soll die Datengrundlagen für den Risikostrukturausgleich sichern. Zugleich will das BAS Transparenz über die Verträge der Krankenkassen für Versicherte, Aufsichtsbehörden und die interessierte Fachöffentlichkeit schaffen. BAS-Präsident Frank Plate spricht von einem wichtigen Schritt für einen „fairen und transparenten Wettbewerb“ zwischen den gesetzlichen Krankenkassen. Das Verzeichnis soll im kommenden Jahr um weitere Angaben ergänzt werden – unter anderem wird die Art der beteiligten Leistungserbringer genannt.

Innovationen im Keim erstickt

Unterdessen kritisiert der Bundesverband Managed Care (BMC) die „sehr restriktive“ Prüfpraxis von IV-Verträgen durch das BAS. Innovationen und neue Denkansätze würden dadurch im Keim erstickt, schreibt der Verband in seiner Stellungnahme zum geplanten Versorgungsverbesserungsgesetz. Es sieht unter anderem vor, dass auch nicht-ärztliche Leistungserbringer an besonderen Versorgungsaufträgen beteiligt werden können. Auch regional begrenzte Versorgungsinnovationen werden ermöglicht. Vorgesehen ist ferner, dass der Nachweis der Wirtschaftlichkeit von Selektivverträgen innerhalb von vier Jahren entfällt. Und: Versicherungsübergreifende Versorgungsformen und eine Beteiligung an Versorgungsinnovationen anderer Träger, z.B. kommunaler Einrichtungen der Sozial- und Jugendhilfe, werden ermöglicht. Insgesamt begrüßt der BMC diese Reformen, kritisiert aber grundsätzlich, dass keine Anreize für die Skalierung erfolgreicher Projekte bestehen.

Zumindest an Denkanstößen für innovative Versorgungsformen scheint derzeit kein Mangel zu herrschen: Der Innovationsausschuss beim Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) hat 136 Ideenskizzen im Bereich neue Versorgungsformen erhalten. Antragsteller sind Universitäten, Krankenhäuser und Krankenkassen. Im Vergleich zu den früher eingereichten vollständigen Anträgen erhielt der Ausschuss deutlich mehr Skizzen. G-BA-Chef Prof. Josef Hecken führt die große Resonanz auf das neue zweistufige Verfahren zurück, das der Gesetzgeber im vergangenen Jahr eingeführt hat.

Weiterführender Link:
https://www.bundesamtsozialesicherung.de/de/vertragstransparenzstelle

 

Martin Litsch: „Wir ziehen alle an einem Strang“

Nachgefragt bei Martin Litsch, AOK-Bundesverband

 

Beim Segeln und auf hoher See heißt es: Not kennt kein Gebot. Gilt das gegenwärtig auch für die GKV?

Martin Litsch: Natürlich sind in dieser Krise von allen Beteiligten Schnelligkeit, Pragmatismus und Lösungsorientierung gefordert. Das bedeutet auch, dass das bisherige, teilweise hochkomplexe Regelwerk im Gesundheitswesen, so gut und sinnvoll es in normalen Zeiten ist, diesen Herausforderungen angepasst werden muss. Gerade geht es um eine größtmögliche Unterstützung für Krankenhäuser, Ärztinnen und Ärzte sowie Pflegefachkräfte, damit diese in der kritischen Lage weiter leistungsfähig bleiben. Und es geht um Kompensationen und Auffangnetze für Arbeitnehmer und Selbstständige sowie Unternehmen, die sich mitunter von jetzt auf gleich in schwierigen Situationen wiederfinden. Aus meiner Sicht ziehen alle hier gerade an einem Strang. Milliardenschwere Finanzhilfen werden durch die Bundesregierung und die Abgeordneten in Windeseile organisiert, Fristen und Vorschriften gelockert oder ausgesetzt. Der Rettungsschirm wird also weit aufgespannt. Ich hoffe natürlich, dass die Stabilität der Sozialversicherungssysteme dabei nicht aus dem Blick gerät.

Jede Not hat irgendwann auch ein Ende. Ist dann wieder „business as usual“ angesagt oder bleiben dauerhafte Änderungen im System?

Litsch: Gerade ist viel die Rede davon, dass nach Corona nichts mehr so sein wird wie früher. Wir erfahren auf drastische Weise, wie wichtig ein starkes Gesundheitswesen ist und vor allem, wie wichtig die Menschen sind, die darin arbeiten. Wir werden aus diesem Extrem auch wieder zurückkehren in einen Normalbetrieb. Geschäfte und Schulen werden wieder öffnen, die Produktion wieder hochfahren, das Leben weitergehen. Aber der ökonomische und mentale Einschnitt ist jetzt schon gewaltig und noch ist offen, wie wir diese Erfahrungen umsetzen.  

Und für das Gesundheitswesen?

Litsch: Für das Gesundheitswesen denke ich, dass das Ziel der größtmöglichen Effizienz hinterfragt wird. Und auch die Diskussion um die notwendige Modernisierung der deutschen Krankenhauslandschaft von nun an unter anderen Vorzeichen fortgeführt wird. All das ist angemessen mit Blick auf die Lage, in der wir uns derzeit befinden. Ich hoffe nur, dass wir nicht den Fehler machen werden, ausgeprägte Überkapazitäten mit guter Versorgungsqualität gleichzusetzen. Wie auch immer unser Weg aussehen wird, die finanziellen Ressourcen im Gesundheitswesen bleiben endlich. Dieser Rahmen gilt auch für den Normalbetrieb der Zukunft.

Wir fahren gerade das größte Modellprojekt für die Notfallversorgung. Können wir daraus Lehren für die geplante Gesetzgebung ziehen?

Litsch: Ich hätte auf dieses Modellprojekt gerne verzichtet, aber wo wir nun damit konfrontiert sind, werden wir nach der Krise natürlich auch unsere Erfahrungen nutzen. Inwiefern sich das bereits in der Gesetzgebung widerspiegeln wird, da möchte ich noch keine Prognose wagen. Sinnvoll wäre aber beispielsweise, dass wir die positive Dynamik der interprofessionellen und sektorenübergreifenden Zusammenarbeit zwischen niedergelassenen Ärzten, Krankenhausärzten, medizinischen Fachkräften und Pflegefachkräften mitnehmen, die wir gerade erleben. Davon können wir dauerhaft profitieren.

Zur Person:
Seit 2016 ist Martin Litsch Vorstandsvorsitzender des AOK-Bundesverbandes. Er ist unter anderem verantwortlich für die Geschäftsführungseinheiten Versorgung, Politik/Unternehmensentwicklung und IT-Steuerung sowie für den Bereich Medizin. Vor seinem Wechsel zum Bundesverband war Litsch acht Jahre lang Vorstandsvorsitzender der AOK Nordwest.