Berlin (pag) – „Health Security ist ein in Deutschland bislang im Wesentlichen unbeachtetes Thema“, stellt Charité-Chef Prof. Heyo Kroemer fest. Der Vorsitzende des ExpertInnenrats „Gesundheit und Resilienz“ kritisiert anlässlich der siebten Stellungnahme des Gremiums, dass Deutschland „nicht gut auf das Management von Großschadenslagen“ vorbereitet sei, die das Gesundheitswesen betreffen und eine koordinierte Zusammenarbeit zwischen verschiedenen staatlichen Stellen erfordern.
Der Titel der siebenseitigen Stellungnahme lautet: „Resilienz und Gesundheitssicherheit im Krisen- und Bündnisfall“. Die Autoren weisen darauf hin, dass militärische Konflikte zukünftig für Deutschland und Europa nicht ausgeschlossen werden könnten. Deshalb müssten sie in der Ausgestaltung der Gesundheitssicherheit in Deutschland mitberücksichtigt werden. Insgesamt raten die Experten dazu, das Aufrechterhalten der Gesundheitssicherheit nicht nur auf reaktiv technische Handlungen zu begrenzen, wie etwa Cyberabwehr bei Cyberangriffen. Vielmehr müsse die Bevölkerung frühzeitig, proaktiv und umfassend vorbereitet werden. Im Repertoire der Maßnahmen werden zuerst die erforderlichen gesetzlichen Regelungen angemahnt. Gemeint ist insbesondere das Gesundheitssicherstellungsgesetz. Das Gesetzesvorhaben liegt seit dem Ampel-Bruch allerdings auf Eis. Den Experten zufolge soll das Gesetz die zivile und militärische Gesundheitsversorgung verzahnen und die jeweiligen Aufgaben zuteilen. Zudem sei eine personelle Reserve zu schulen, die im Krisenfall verstärkend helfen kann.
Starke Fragmentierung
Prof. Leif-Erik Sander, Mitglied des ExpertInnenrats und Klinikdirektor der Infektiologie der Charité, konstatiert: „Neben der in weiten Teilen unzureichenden Infrastruktur erschwert vor allem die starke Fragmentierung von Expertisen und Zuständigkeiten eine effektive Vorbereitung des Gesundheitswesens auf Sicherheitskrisen.“ Sander macht einen Bedarf an gezielten Investitionen und einer koordinierten, intensiven Vorbereitung aller relevanten Akteure aus. Dies erfordere neben klaren gesetzlichen Regelungen eine politische Prioritätensetzung für Gesundheitssicherheit.
Die Experten mahnen an, sich „unverzüglich“ den nötigen Vorbereitungs- und Organisationsaufgaben zu widmen. Der ständige Gast des ExpertInnenrats, Generalstabsarzt Dr. Hans-Ulrich Holtherm, ergänzt, dass das Gesundheitswesen bereits heute regelmäßig hybriden Attacken, wie etwa Cyberangriffen auf die IT-Systeme, ausgesetzt sei. „Um gegen solche und weitere, im Rahmen von Krisensituationen mögliche Risiken vorbereitet zu sein, ist eine resiliente Ausgestaltung des Gesundheitssystems in Deutschland notwendig.“
Augsburg (pag) – Ein Medizinethik-Team der Universität Augsburg hat für den britischen Nuffield Council on Bioethics (NCOB) einen umfassenden Bericht erarbeitet, der die ethischen Herausforderungen, die durch den Klimawandel für die Gesundheit entstehen, beleuchtet. Der Report soll als Grundlage für ethisch fundierte Politikgestaltung dienen.
Der NCOB ist Großbritanniens führendes unabhängiges Forschungs- und Politikzentrum in der Bioethik. Der Bericht für den Rat nimmt die tiefgreifenden Auswirkungen des Klimawandels auf die globale Gesundheit in den Blick, insbesondere für benachteiligte Bevölkerungsgruppen, und diskutiert ethische Prinzipien wie Gerechtigkeit, Solidarität und intergenerationelle Verantwortung. Prof. Verina Wild vom Institut für Ethik und Geschichte der Gesundheit in der Gesellschaft an der Medizinischen Fakultät der Universität Augsburg hat mit einem Team den rund 60-seitigen Bericht verfasst. Sie hebt die besondere Verantwortung von Entscheidungsträgern hervor, nachhaltige und gerechte Lösungen zu entwickeln: „Klimawandel und seine Folgen treffen die Schwächsten in unserer Gesellschaft am härtesten.“ Ethisch fundierte politische Maßnahmen seien unverzichtbar, um soziale Ungleichheiten nicht weiter zu verschärfen.
Der Report bietet eine umfassende Analyse von sechs ethischen Ansätzen, darunter Rechte-basierte und Gerechtigkeitsansätze, integrierte Gesundheitskonzepte wie One Health und Planetary Health, indigene und nicht-westliche Perspektiven zur Mensch-Umwelt-Interaktion sowie professionelle Verantwortung von Gesundheitsfachkräften und anderen Berufsgruppen. Wild betont: „Es ist wichtig, den Klimawandel nicht nur als Umweltproblem zu betrachten, sondern seine Auswirkungen auf Gesundheit, soziale Gerechtigkeit und die globale Ungleichheit in den Mittelpunkt zu rücken.“
Die Analyse soll Akteurinnen und Akteure in Politik, Wissenschaft und Praxis eine Grundlage bieten, um unterschiedliche ethische Ansätze, die im Kontext von Klima- und Umweltveränderungen sowie Gesundheit relevant sind, kennenzulernen. Die zentralen Ergebnisse wurden im Beisein des Augsburger Teams am NCOB in London und in Online-Workshops vorgestellt und diskutiert. Auf dieser Basis wird der NCOB konkrete Empfehlungen zu ethisch basierter Politikgestaltung entwickeln. Der Bericht ist den Autoren zufolge auch für Fachleute aus anderen Ländern und Institutionen relevant.
Berlin (pag) – „Die Finanzierung von Gesundheit sollte grundsätzlich als Investition und nicht als Kostenfaktor betrachtet werden“, lautet eine der zentralen Botschaften eines Policy Briefs, den der Global Health Hub Deutschland und Healthy DEvelopments formuliert haben. Das Papier soll den politischen Dialog zu globaler Gesundheitsfinanzierung fördern.
Wiederholte Schocks wie die Pandemie und die von ihr ausgelöste Wirtschaftskrise hätten offengelegt, dass Gesundheitssysteme und -institutionen auf allen Ebenen akut unterfinanziert seien, heißt es in dem Policy Brief. Auch klimabedingte Krisen zeigten, dass Gesundheitssysteme flexibler, widerstandfähiger und gerechter werden müssen. Die Autoren sehen eine „seltene Gelegenheit für ein radikales Überdenken“ der Strukturen und Verfahren der Finanzierung der internationalen Zusammenarbeit im Gesundheitsbereich. Konkret empfehlen sie, dass Deutschland als „honest broker“ unter anderem mit Regierungen in Partnerländern, regionalen und globalen Entwicklungspartnern und dem Privatsektor daran arbeiten sollte, stabilere Bedingungen für Investitionen privater Unternehmen in gesundheitsbezogenen Lieferketten zu schaffen. Auch sollte sich die deutsche Regierung dafür einsetzen, dass die Investitionen des Privatsektors mit den Zielen für nachhaltige Entwicklung der Agenda 2030 in Einklang stehen und zu der Zielsetzung „Gesundheit für Alle“ beitragen. Die laufenden Bemühungen um eine Umstrukturierung der globalen Gesundheitsfinanzierungsarchitektur seien zu unterstützen, sodass neben den Gesundheitsministerien auch Regierungschefs in den politischen Entscheidungsprozess einbezogen werden.
Vorausgegangen ist den Empfehlungen ein Impulsdialog im Hub, an dem unter anderem Prof. Jayati Ghosh, Professorin für Wirtschaftswissenschaften an der Universität von Massachusetts in Amherst, teilgenommen hat. Sie betont ausdrücklich, dass Gesundheit nicht nur in die Zuständigkeit der Gesundheitsministerien falle, sondern auch in die der Finanzministerien, der Infrastrukturministerien, der Sozialministerien et cetera. Die Wirtschaftswissenschaftlerin ist auch Mitglied des WHO Council on the Economics of Health For All. Sie verlangt: „Wir müssen unser Verständnis von Gesundheit und auch unsere Wirtschaftssysteme entsprechend ändern.“
Hub und Healthy Der Global Health Hub Germany und Healthy DEvelopments organisieren gemeinsam Impulsdialoge zu globalen Gesundheitsthemen. Die Dialoge werden vom Bundesministerium für Gesundheit und dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) gefördert. Der Hub wurde 2019 gegründet, um die verschiedenen Akteure in einem unabhängigen Netzwerk zusammenzubringen und damit die Global Health Aktivitäten in Deutschland effizienter zu gestalten. Das Webportal Healthy DEvelopments ist eine gemeinsame Initiative des BMZ, der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit und der KfW Entwicklungsbank.
Dr. Marc Gitzinger mahnt rasche Reformen bei Antibiotika an
Berlin (pag) – Vor einer Krise ungeahnten Ausmaßes warnt Dr. Marc Gitzinger von Bioversys, sollte das Vergütungsproblem von neuen Antibiotika, die meist im Reserveschrank bleiben und an denen der Hersteller kaum etwas verdient, nicht bald gelöst werden. Für beispielhaft hält er ein Modell aus Großbritannien, das auf den sozioökonomischen Wert abstellt, den der Zugang zu wirksamen Antibiotika bietet.
Es gibt bereits neue Modelle zur Vergütung von Antibiotika. Als vorbildlich gilt Großbritannien. Was machen die Briten besser?
Gitzinger: Neue, hochwirksame Antibiotika sollen nur selten und gezielt verwendet werden. Bei niedrigen Stückpreisen kann sich diese nachhaltige Verwendung für die Hersteller, die hunderte Millionen für die Entwicklung ausgeben müssen, finanziell nicht lohnen. Bei sehr hohen Stückpreisen würden Anreize geschaffen, auch neue Antibiotika häufiger als angezeigt zu verwenden, da sich dann mehr verdienen lässt. Dieser Kreis muss gebrochen werden.
Und wie?
Gitzinger: Die Briten haben ein Vergütungsmodell entwickelt, welches den finanziellen Erfolg eines Antibiotikums vom Verkaufsvolumen entkoppelt. Wie bei Netflix wird für den Zugang zu einem neuen Reserveantibiotikum gezahlt. Die adäquate Verwendung wird dann – losgelöst vom Preis – durch die Ärzte entschieden, welche bestimmen, ob das Medikament für den Patienten aus medizinischer Sicht notwendig ist. Die Briten legen dabei den „Netflix-Preis“ über ein Punktesystem fest, mit dem sie erörtern, wie wichtig das Antibiotikum für die Gesellschaft ist und orientieren sich daran, dass die Vergütung ausreichend sein muss, dass es sich auch für die Hersteller lohnt, die hohen Entwicklungskosten und -risiken einzugehen. Das Model der Briten stellt auf den sozioökonomischen Wert ab, den der Zugang zu wirksamen Antibiotika hat.
Bei der Entwicklung neuer Antibiotika spielen mittlerweile viele Kleinstfirmen eine wichtige Rolle. Mit welchen Problemen kämpfen diese und wie ließen sich diese lösen?
Gitzinger: Kleine Firmen kämpfen vor allem mit der Finanzierung ihrer Forschung und Entwicklung. Gerade im Antibiotikabereich ist dies extrem, da Risikokapitalgeber neben dem technischen Entwicklungsrisiko derzeit auch ein Risiko beim Marktversagen auf sich nehmen. Dies kann nur durch Reformen beim Vergütungssystem nachhaltig gelöst werden. Die Zeit drängt! Es muss wieder eine gewisse Sicherheit geben, dass wenn ein neues Antibiotikum erfolgreich zugelassen wird, sich diese Investition auch finanziell gelohnt hat. Neben der Finanzierung, dem mit Abstand größten Problem, gibt es noch Folgeschwierigkeiten.
Welche sind das?
Gitzinger: Hierzu zählen die normalen wissenschaftlichen und regulatorischen Hürden ein neues Antibiotikum zur Zulassung zu bringen, allerdings wird dies in unserem Sektor durch akuten Mangel an Experten weiter verschärft. Dies liegt an der jahrelangen Vernachlässigung des Vergütungsthemas, wodurch immer weniger Firmen und Hochschulen das Feld als attraktiv angesehen haben. Die wenigen Firmen, die heute noch führend in der Entwicklung sind, müssen überleben, denn sonst droht uns eine Krise ungeahnten Ausmaßes. Antibiotikaresistenzen verschwinden nicht einfach und es dauert lange neue, wirksame Medikamente gegen die Vielzahl von infektiösen Bakterien zu entwickeln. Im Falle eines großen Ausbruchs wie bei COVID-19 wird es länger dauern, neue Antibiotika zu entwickeln – vor allem wenn die letzten Firmen gezwungen wurden, ihre aktuellen Entwicklungen aus finanziellen Gründen zu stoppen.
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Zur Person Dr. Marc Gitzinger ist CEO und Gründer von Bioversys, einer in Basel ansässigen Firma, die neue Antibiotika entwickelt. Er ist außerdem Präsident der BEAM Alliance, die Abkürzung steht für Biotech companies from Europe innovating in Anti-Microbial resistance research. Auch beim neu gegründeten Deutschen Netzwerk gegen Antimikrobielle Resistenzen (DNAMR) engagiert sich Gitzinger.
Die Gefahr von Antibiotikaresistenzen wird massiv unterschätzt
Berlin (pag) – Zunehmende Antibiotikaresistenzen gelten als stille Pandemie. Obgleich daran weltweit über eine Million Menschen jährlich sterben, scheint das bislang lediglich Experten zu alarmieren. Die Prognosen sind düster, die Appelle an die Politik, zu handeln, werden immer drängender.
An dramatischen Äußerungen zur Lage fehlt es nicht. Auf die Liste der zehn größten Gefahren für die globale Gesundheit hat beispielsweise die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die zunehmenden Resistenzen gesetzt. Die Welt könnte ins Vor-Penicillin-Zeitalter zurückfallen, 100 Jahre medizinischer Fortschritt würden zunichte gemacht, mahnt WHO-Generalsekretär Dr. Tedros Adhanom Ghebreyesus bereits vor zwei Jahren.
Resistenz bleibt unerwähnt
Dr. Tim Eckmanns, beim Robert Koch-Insitut für die Überwachung von Antibiotikaresistenzen und -verbrauch zuständig, ordnet bei einer Veranstaltung im Jakob-Kaiser-Haus des Bundestags vor einigen Wochen die Situation ganz grundsätzlich ein: Weltweit seien 2019 einer systematischen Analyse zufolge 1,27 Millionen Menschen wegen einer Antibiotikaresistenz gestorben. Bei weiteren 4,95 Millionen, die ebenfalls an antibiotikaresistenten Erregern gestorben sind, sei unklar, ob die Resistenz oder der Erreger alleinige Ursache war. Rechnet man diese Zahlen zusammen, so sind deutlich mehr Menschen wegen einer Antibiotikaresistenz gestorben als an Malaria und HIV/Aids zusammen. Von einer stillen Pandemie spreche man auch deshalb, erläutert Eckmanns, weil dem nicht jedes Mal ein Name gegeben werde. „Die Leute sterben an einer Sepsis oder an einer Pneumonie und die Antibiotikaresistenz wird dabei nicht erwähnt.“ Der Public-Health-Experte verweist auf einen bekannten Report zu dem Thema von Dr. Jim O´Neill aus dem Jahr 2014. Demnach werden die Todesfälle wegen Resistenzen auf zehn Millionen in 2050 steigen – wenn man nicht gegengesteuert. Die Kosten veranschlagt der Ökonom in diesem Szenario auf 100 Billionen Dollar global. „Wir müssen handeln“, sagt Eckmanns.
Raus aus dem Kreisverkehr
Apropos Handeln: Bei der Veranstaltung im Bundestag stellt sich das neu gegründete Deutsche Netzwerk gegen Antimikrobielle Resistenzen (DNAMR) vor. Forscherinnen und Forscher öffentlicher Einrichtungen, Start-ups und Pharmaindustrie haben sich als Bündnis zusammengeschlossen, um „mit einer Stimme zu sprechen und die Politik zu involvieren“, wie es Co-Sprecher Prof. Achim Hörauf ausdrückt. Mit seinem Team entwickelt er an der Universität Bonn neue Antibiotika. Aus der universitären Forschungsperspektive sagt er: „Wir wollen als Forscher erfolgreich Antibiotika entwickeln, stehen aber vor dem Problem, was wir mit einem guten Kandidaten machen, wenn die Industrie das Ganze nachher aus finanziellen Erwägungen nicht mehr aufgreifen kann.“ Der Markt in der EU müsse so gestaltet werden, dass sich Antibiotikaforschung wieder lohnt, sagt er in Richtung Politik. „Wir dürfen nicht noch ein paar Jahre im Kreisverkehr bleiben, sondern müssen zu einer Lösung kommen“, fordert Hörauf.
„Furchtbar fragil“
Das verlangt auch Dr. Marc Gitzinger. Der Gründer und CEO von BioVersys, der ebenfalls dem Netzwerk angehört, sagt: „Wenn wir verantwortungsvoll neue Antibiotika verwenden wollen, dann dürfen wir sie nicht verkaufen und das ist ein Problem.“ Gitzinger berichtet aus der Perspektive der kleinen und mittleren Unternehmen (KMU), die mittlerweile bei der Entwicklung neuer Antibiotika eine entscheidende Rolle spielen. Der WHO zufolge sind 80 Prozent der heutigen Entwicklungsbeispiele von KMU. Oft handele es sich um Kleinstunternehmen mit fünf Mitarbeitern, berichtet Gitzinger. „Das ist alles furchtbar fragil: Wir haben null Einnahmen, alles investiert über Investoren und Forschungsgelder.“
In dieser Hinsicht hat sich mittlerweile einiges getan: Nach Angaben des Bundesforschungsministeriums beteiligt sich die Bundesregierung von 2018 bis 2028 mit bis zu 500 Millionen Euro an verschiedenen Programmen. Dazu gehören etwa die „Global Antibiotic Research and Development Partnership“ (GARDP), der „Cobating Antibiotic Resistant Bacteria Biopharmaceutical Accelerator“ (CARB-X), die nationale Wirkstoffinitiative sowie die „European and Developing Clinical Trials Partnership“ (EDCTP). Antibiotikaforschung ist zudem ein Schwerpunkt des Deutschen Zentrums für Infektionsforschung (DZIF), das von Bund und Ländern finanziert wird.
Gitzinger zufolge hat die Forschungsförderung bewirkt, dass die präklinische Forschung wieder neue Innovationen bringe. Weiterhin bestehe jedoch das Problem, dass die Pipeline heute noch immer viel zu „dünn“ sei, es zu wenig neue Medikamente für die Vielzahl von verschiedenen Infektionen gebe. Der Hauptgrund dafür sei, dass sich der Privatsektor fast komplett aus dem Feld der Antibiotika verabschiedet habe, weil es keinen funktionierenden Markt gebe. „Verschwindend gering“ sei das Interesse daran im Vergleich zu Krebs oder der Immunologie, konstatiert der Unternehmer. Er fordert von der Politik neue Vergütungssysteme, die es dem Privatsektor wieder ermöglichten, das Entwicklungsrisiko auf sich zu nehmen, aber im Erfolgsfall auch vergütet zu werden.
Entscheidend dafür ist, die Vergütung vom Verkaufsvolumen zu entkoppeln. Entsprechende Modelle müssen nicht erst mühsam entwickelt werden, sie existieren bereits. Gitzinger nennt das Subscription-Modell, bei dem Staaten den Zugang zu einem neuen Antibiotikum erwerben und zwar unabhängig vom Volumen. Institutionen wie das Robert Koch-Institut oder Experten der Krankenhäuser entscheiden dann, wann das neue Mittel adäquat eingesetzt wird (siehe Abbildung). Bei der Transferable Exclusivity Extension (TEE) geht es dagegen im Wesentlichen um einen Gutschein, den eine Firma erhält, die ein neues Antibiotikum entwickelt hat. Diesen kann sie selbst verwenden oder an einen anderen Hersteller weiterverkaufen, der ein hochlukratives Medikament hat und mit dem Kauf eine längere Marktexklusivität erwirbt, erläutert Gitzinger. Für die EU-Ebene sei eher das TEE-Modell geeignet findet er, nationale Regelungen sollten ergänzend etabliert werden. Wichtig sei, dass endlich nachhaltig und sinnvoll gehandelt werde, appelliert er an die Politik und erinnert daran, dass die meisten modernen medizinischen Eingriffe – vom Kaiserschnitt bis zur Krebstherapie – nicht ohne den Zugang zu wirksamen und funktionierenden Antibiotika funktionierten. „Es geht damit um nichts weniger als das Bestehen unseres modernen Gesundheitssystems.“
• Falscheinsatz in der Humanmedizin: In vielen Ländern sind Antibiotika ohne Rezept erhältlich. Patienten schlucken sie wie Bonbons, auch wenn sie gar nicht wissen, ob überhaupt eine Bakterieninfektion vorliegt. Dazu kommt, dass die Medikamente zu kurz genommen werden. Nicht alle Erreger werden getötet, was die Bildung von Resistenzen begünstigt. Auch in Deutschland werden Antibiotika zu oft falsch eingesetzt.
• Massive Nutztierhaltung: Antibiotika eignen sich in der Tiermast nicht nur zur (prophylaktischen) Behandlung kranker Schweine, Rinder, Hühner oder Puten. Sie befördern offenbar auch das Wachstum. Dieser Einsatz zwecks Mästung ist in der Europäischen Union immerhin seit 2006 verboten. Seit diesem Jahr ist die prophylaktische Gabe von Antibiotika europaweit unzulässig. Von den Ställen können resistente Erreger oder Antibiotika selbst auf vielfältige Weise in die Umwelt gelangen.
• Ein weiterer Weg, über den Antibiotika in die Umwelt gelangen, sind die Kläranlagen. Denn der menschliche Organismus verstoffwechselt antimikrobielle Wirkstoffe nur zum Teil und scheidet einen nennenswerten Anteil wieder aus. Von der Toilette geht’s in die Kläranlage und von dort aus wieder in die Gewässer sowie mit dem Klärschlamm in die Böden. „Abwässer aus Krankenhäusern oder Privathaushalten können also zur Resistenz-Problematik beitragen“, heißt es in dem DART-2020-Bericht (Deutsche Antibiotika-Resistenzstrategie).
• Daneben entpuppen sich manche Antibiotika-Produktionsstätten, vor allem in Asien, als Resistenz-Quelle, weil Abfälle und Abwässer nicht ordnungsgemäß entsorgt werden. Keime werden aber auch durch den weltweiten Handel von Tieren und Lebensmitteln sowie durch Fernreisende um die Erdkugel transportiert. 34 Prozent der Globetrotter kehren mit Darmbakterien heim, die Stoffe produzieren können, welche Antibiotika wirkungslos machen.
Ilka Wölfle über mehr Gemeinsamkeit und Koordination in der EU-Gesundheitspolitik
Ilka Wölfle behält für die deutsche Sozialversicherung die europäische Gesundheitpolitik im Blick, denn auch in Brüssel werden entscheidende Weichen der nationalen Gesundheitspolitik gestellt. Corona hat dafür gesorgt, dass in der EU gemeinsame gesundheitspolitische Anliegen besser koordiniert werden sollen. Welche Rolle dabei die Gesundheitsunion spielt, erklärt die Europa-Expertin im Interview.
Inwiefern liefert die Coronakrise ein „Window of opportunity“ für eine kohärentere europäische Gesundheitspolitik?
Wölfle: Während der Corona-Krise haben sich einige Schwachstellen der europäischen Gesundheitspolitik offenbart: Auf europäischer Ebene gab es seit jeher eher ein Nebeneinander an fragmentierten Projekten, die nicht immer ausreichend koordiniert waren. In der Pandemie war das natürlich fatal. Für Brüssel war die Situation ein Augenöffner, denn globale Krisen – die eben nicht an der Grenze enden – können nur gemeinsam bewältigt werden. Hier gilt es Kräfte zu bündeln, ohne zu sehr in die nationalen Kompetenzen einzugreifen. Der Ruf nach einer besseren Koordination von gemeinsamen gesundheitspolitischen Anliegen wurde lauter. Konsequenterweise ist daraus die Gesundheitsunion entstanden.
Wie schätzen Sie die von Frau von der Leyen angekündigte europäische Gesundheitsunion ein? Und wie bewerten Sie deren konkreten Umsetzungsschritte?
Wölfle: Sie möchte die Rolle der EU in der Koordinierung von gesundheitspolitischen Themen stärken, um so schneller auf globale Gesundheitsgefahren reagieren zu können, wie etwa auf Covid. Das Vorhaben ist zu begrüßen, denn es geht um eine bessere Koordinierung zwischen den Mitgliedstaaten. Allerdings sehen wir auch kontroverse Diskussionen, vor allem wenn es um die Verteilung der Kompetenzen zwischen den Mitgliedstaaten und der EU geht. Aber das liegt in der Natur der Sache.
Sehen Sie die Gefahr von Doppelung bürokratischer Mechanismen und möglichen Zielkonflikten zwischen Gesundheitsunion und dem EU4Health-Programm?
Wölfle: Beides ist eng miteinander verzahnt. EU4Health stellt Gelder für Projekte der Gesundheitsunion zu Verfügung, etwa zu grenzüberschreitenden Gesundheitsgefahren. EU4Health ist somit ein wichtiger Baustein für die Europäische Gesundheitsunion.
Was macht für Sie eine progressive europäische Gesundheitspolitik aus? Wird eine solche gegenwärtig praktiziert oder setzt man bei der künftigen Gesundheitsunion zu einseitig auf grenzüberschreitende Gesundheitsgefahren und Krisenmanagement?
Wölfle: Für mich bedeutet eine progressive Gesundheitspolitik nicht notwendigerweise mehr Rechtssetzung aus Brüssel, sondern vielmehr eine gemeinsame Strategie, mehr Koordination und mehr gemeinsame Initiativen – auch losgelöst von der Pandemie. Davon profitieren dann auch andere EU-Mitgliedstaaten, deren Gesundheitssystem nicht so ausgebaut ist wie das deutsche. Im Mittelpunkt sollten immer die Interessen der Versicherten und deren Zugang zu einer guten Gesundheitsversorgung stehen.
Und die Gesundheitsunion?
Wölfle: Mit der wird nun ein Schritt in die richtige Richtung gegangen. Die Initiative beschränkt sich nicht nur auf Gesundheitsversorgung in Zeiten von Covid. Der Blick ist viel weiter gerichtet, z.B. auf Lieferengpässe, auf die Versorgung von Krebspatientinnen und -patienten und die Nutzung von Gesundheitsdaten für gemeinsame Zwecke wie die Forschung.
Gesundheit ist Aufgabe der Nationalstaaten. Der EU wurden aber in diesem Bereich eine Reihe von Zuständigkeiten zugewiesen. Wird der Spielraum der Nationalstaaten zunehmend geringer?
Wölfle: Rechtlich gesehen spielt die EU in der Gesundheitspolitik eher eine ergänzende Rolle, da die Gesetze national ausgestaltet werden. Schaut man genau hin, wird schnell klar, dass auch viele auf nationaler Ebene geplante gesundheitspolitische Themen in Brüssel diskutiert werden. Zudem beobachten wir eine verstärkte Aufwertung von europäischen Initiativen.
Zur Person
Ilka Wölfle ist als langjährige Direktorin der Europavertretung der Deutschen Sozialvertretung mit dem Brüsseler Parkett sehr vertraut. Außerdem steht die Juristin als Präsidentin der European Social Insurance Plattform (ESIP) vor.
Nehmen wir einmal die europäische Arzneimittelagentur EMA oder die neue Agentur HERA, die für Krisenvorsorge und -reaktion bei gesundheitlichen Notlagen verantwortlich ist. Hier werden mehr und mehr Kompetenzen in Europa gebündelt. Des Weiteren sehen wir auch eine Zunahme an Verordnungen, d.h. Regelungen, die direkt auf nationaler Ebene anwendbar sind, wie etwa die Medizinprodukteverordnung. Früher war das Medizinprodukterecht in Richtlinien gegossen, d.h. der nationale Gesetzgeber hatte bei der Umsetzung mehr Spielräume. Nach derzeitigem Stand möchte Brüssel auch für den europäischen Gesundheitsdatenraum eine Verordnung durchsetzen. Gerade deswegen sollten wir in jedem Fall verstärkt Brüssel im Blick behalten, da auch hier Weichen für die nationale Gesundheitspolitik gestellt werden.
Macht es für Akteure wie beispielsweise Patientenorganisationen mehr Sinn, ihre Themen in Brüssel als in Berlin zu adressieren?
Wölfle: Sowohl als auch! Denn Gesundheitspolitik spielt sich zunehmend auch auf EU-Ebene ab. Das haben wir gerade auch während der Pandemie gesehen. Nationale Themen werden oft auch in Brüssel diskutiert. Patientenorganisationen, die ihren Blick ausschließlich auf nationale Gesundheitspolitik richten, verpassen wohlmöglich wichtige Weichenstellungen und Diskussionsmöglichkeiten mit Politikerinnen und Politikern. Deshalb macht es Sinn, sich einem europäischen Dachverband anzuschließen, der ausschließlich Patienteninteressen vertritt. Patientinnen und Patienten können so viel stärker auftreten.
Einblicke und Ausblicke zur europäische Perspektive
Eine starke euopäische Gesundheitsunion ist die Vision von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, die sie 2020 in ihrer Rede zur Lsge der Nation verkündet hat. Stück für Stück wird diese momentan umgesetzt. Was sind die wichtigsten Programme, was kann Brüssel in puncto Gesundheit bewegen und warum wird das Thema meist „über Bande“ gespielt? Eine Übersicht.
Als Dr. Michael Horn vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) kürzlich auf einer Tagung über Arzneimittelengpässe spricht, berichtet er nicht nur von deutschen Plänen und Strategien, sondern wirbt vor allem für einen europäischen Weg: „Wenn wir tatsächlich Gehör finden wollen, macht eine europäische Initiative Sinn, wo Ideen gleichartig vertreten und umgesetzt werden.“ Das sorge für die nötige Schlagkraft, um die Versorgungssituation deutlich zu verbessern. Momentan sei die europäische Arzneimittelstrategie im Begriff, „mit Leben gefüllt“ zu werden, berichtet der Vorsitzende des BfArM-Beirats zur Bewertung der Versorgungslage mit Arzneimitteln. Diese adressiere die wesentlichen Punkte zu Engpässen: etwa diversifizierte und sichere Lieferketten, ökologisch nachhaltige Arzneimittel, Mechanismen für Krisenvorsorge und -reaktion sowie last but not least den Aufbau einer offenen strategischen Autonomie der EU.
Auf dem Weg zur Gesundheitsunion
Arzneimittelengpässe sind eine gesundheitspolitische Herausforderung, die neben der nationalen Betrachtung auch zwingend nach einer europäischen Perspektive verlangt. Im Rahmen der EU-Arzneimittelstrategie geht Brüssel dieses Problem – neben weiteren Themen – an. Besagte Strategie ist allerdings nur eine von drei Säulen der EU-Gesundheitsunion, die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ausgerufen hat. „Wir müssen eine starke Europäische Gesundheitsunion schaffen“, hat sie als Reaktion auf die Corona-Krise im September 2020 in ihrer Rede zur Lage der Union angekündigt.
Für Ilka Wölfle, Direktorin der Europavertretung der Deutschen Sozialversicherung, ist das ehrgeizige Vorhaben weniger eine Union als die Chance, „eine Vielzahl bereits existierender Teilstrategien aus den Bereichen Gesundheit, Digitales und E-Health zusammenzufassen“. Prof. Helmut Brand von der Universität Maastricht drückt es kritischer aus. Der Experte für europäische Gesundheitswissenschaften und Berater der Europäischen Kommission, sieht die Initiative zumindest in Teilen als eine Mogelpackung: „Was man vorher schon gemacht hat, bekommt einfach ein neues Label“.
Neben der Arzneimittelstrategie ist der europäische Plan zur Krebsbekämpfung ein weiterer Bestandteil der Gesundheitsunion. Diese mit vier Milliarden Euro ausgestattete Initiative stützt sich wiederum auf unterschiedliche Konzepte der Union, insbesondere zu Digitalisierung, Forschung sowie Innovation. Die EU-Länder sollen bei der Krebsbekämpfung unterstützt werden. Die dritte und zentrale Säule der Gesundheitsunion ist schließlich das Thema Krisenvorsorge und -reaktion. Die Pandemie habe gezeigt, wie wichtig eine Koordinierung zwischen den europäischen Ländern für den Gesundheitsschutz ist, argumentiert die EU. Eine konkrete Konsequenz dieser Erkenntnis ist, dass die Befugnisse der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) und des Europäischen Zentrums für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (ECDC) erweitert wurden. Außerdem wurde eine neue Agentur geschaffen, die die Krise bereits im Namen trägt: die Europäische Behörde für Krisenvorsorge und -reaktion bei gesundheitlichen Notlagen, kurz HERA (Health Emergency preparedness and Response Authority). HERA soll nichts weniger als die Gesundheitssicherheit in der EU vor und während Krisen besser koordinieren, EU-Mitgliedstaaten, Industrie und relevante Interessenträger an einen Tisch bringen sowie medizinische Gegenmittel entwickeln, herstellen, beschaffen, lagern und gerecht verteilen. Eine weitere noch umfassendere Aufgabe lautet: Stärkung der globalen Krisenreaktionsarchitektur im Gesundheitswesen.
Nach vorne gestolpert
Die EU folgt damit Brand zufolge ihrem typischen Krisenmodus. „Wenn es ein Problem gibt, wird in Europa eine neue Agentur gegründet.“ Nach Contergan sei es die EMA gewesen, nach SARS das ECDC und Corona hat nun eben HERA aus der Taufe gehoben. Dass Europa meist nur in Krisen „voranstolpert“, ist unter Experten wohlbekannt. Mit der Coronakrise gebe es jetzt ein Window of Opportunity, etwas im Gesundheitsbereich zu bewegen, ist Brand überzeugt. Er warnt aber auch: „Dieses Fenster wird sich sehr schnell wieder schließen.“ Noch ist viel Bewegung in der europäischen Gesundheitspolitik. Da wäre auf Parlamentsebene etwa der neu eingerichtete Sonderausschuss für Corona. Der Sonderausschuss für Krebs hat dagegen gerade seine einjährige Arbeit mit einer Abschlussempfehlung beendet. Was außerdem auf der europäischen Gesundheitsagenda steht:
Die Evaluation der Patientenmobilitätsrichtlinie wird im zweiten Quartal fortgesetzt, Experten erwarten gesetzliche Änderungsvorschläge.
Stichwort Europäischer Gesundheitsdatenraum: Ein Verordnungsvorschlag der Kommission war eigentlich für April vorgesehen.
Da dieser jedoch vorher durchgestochen wurde, ist die offizielle Vorstellung auf Mai verschoben.
Europäische Strategie für Pflege und Betreuung: Die Vorschläge für die Ratsempfehlungen werden im dritten Quartal 2022 erwartet.
Für das vierte Quartal 2022 ist eine Ratsempfehlung zum Thema antimikrobielle Resistenzen geplant.
Im vierten Quartal sind zudem die Überarbeitung der allgemeinen Arzneimittelvorschriften, der Verordnung für Arzneimittel für Kinder und seltene Leiden sowie der Rechtsvorschriften über ergänzende Schutzzertifikate (SPC) vorgesehen.
EU-HTA: Die ersten Bewertungen starten zwar erst 2025, aber hinter den Kulissen wird bei EUnetHTA 21 eifrig an Methodik, Standards und Co. gearbeitet, auch der Gemeinsame Bundesausschuss ist in diesen Prozess involviert.
Unter ferner liefen?
In der europäischen Gesundheitspolitik kommen derzeit verstärkt Verordnungen anstatt von Richtlinien zum Einsatz, hat Wölfle von der Europavertretung der Deutschen Sozialversicherung beobachtet. Sie verweist auf die Medizinprodukte-Verordnung, die Verordnung über In-Vitro-Diagnostika, die am 26. Mai Geltung erlangt, die geplante Verordnung zum Gesundheitsdatenraum und die Verordnung über die Bewertung von Gesundheitstechnologien (HTA), der ein mehr als zähes Ringen vorangegangen war.
Mehr Verbindlichkeit sowie viele Initiativen, die derzeit unter dem Eindruck von Corona gebündelt werden, das sind aktuelle Kennzeichen der europäischen Gesundheitspolitik. Darüber hinwegtäuschen, dass dieses Politikfeld in Brüssel bislang meist „unter ferner liefen“ rangierte, können sie jedoch nicht so ganz. Fakt ist: In Sachen Gesundheit hat die EU kein besonders weitreichendes Mandat. Gesundheitspolitik ist die Angelegenheit der Nationalstaaten, eine Einmischung in deren Organisation und Finanzierung der medizinischen Versorgung ist tabu. Es gilt das Subsidiaritätsprinzip, wonach die EU nur dann ins (gesundheits-)politische Geschehen eingreifen darf, wenn die Angelegenheit nicht auf der einzelstaatlichen Ebene gelöst werden kann. Folgerichtig ist die Generaldirektion Gesundheit vergleichsweise klein, die zuständigen Kommissarinnen und Kommissare kommen meist aus kleineren Staaten wie Malta und Zypern. „Kein deutscher Kommissar würde je den Gesundheitsbereich übernehmen“, ist Brand überzeugt. Auch das EU-Gesundheitsprogramm sei bei der Kommission nie beliebt gewesen.
Zwar hat die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshof Ende der 1990er-Jahre in Sachen Patientenmobilität einiges und vor allem auch für EU-Bürger konkret Erfahrbares bewirkt, wenn man an die Kostenerstattung von Behandlungen im europäischen Ausland durch die heimische Krankenkasse denkt. Doch angesichts der überschaubaren Gestaltungsmöglichkeiten wird Gesundheit in Europa weiterhin meist über Bande gespielt. Von einer „Einmischungskompetenz“ spricht Brand. Diese geht auf den Maastrichter Vertrag zurück, mit dem vor 20 Jahren die Europäische Union begründet und in den die öffentliche Gesundheit aufgenommen wurde. Zwar ist der Geltungsbereich nicht sehr weit gefasst, dafür wurde eine klare Rechtsgrundlage für die Einführung gesundheitspolitischer Maßnahmen geschaffen. Im Vertrag von Amsterdam von 1997 wurden die Bestimmungen dann weiter gestärkt. Die vorrangige Zuständigkeit für Gesundheitsangelegenheiten blieb zwar bei den Mitgliedstaaten, doch der EU wurde mehr Gestaltungsspielraum eingeräumt. Sie konnte nun Maßnahmen mit dem Ziel erlassen, ein hohes Gesundheitsschutzniveau sicherzustellen (nicht mehr nur „dazu beizutragen“ wie zuvor). „Health in all policies“ Im Prinzip handelt es sich dabei um einen „Health in all policies“-Ansatz, die Beeinflussung gesundheitlicher Determinanten in Politikfeldern wie Umwelt, Ernährung oder Verkehr. Beim Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz und beim Verbraucherschutz, der den Gesundheitsschutz und die Sicherheit der Verbraucher einschließt, hat die EU weitergehende Kompetenzen. Unstrittig ist, dass sich durch EU-weites Vorgehen in vielen Bereichen – zum Beispiel bei der Nahrungsmittelsicherheit, der Infektionskontrolle, dem Nichtraucherschutz oder der Produktsicherheit – der Gesundheitsschutz für mehr als 500 Millionen Bürger deutlich verbessert hat. Ob die neu postulierte Gesundheitsunion tatsächlich zu einer kohärenten Gesundheitspolitik auf EU-Ebene führt, muss dagegen noch abgewartet werden.
1993 veröffentlichte die Kommission eine „Mitteilung über den Aktionsrahmen im Bereich der öffentlichen Gesundheit“, so der sperrige Titel. Darin legt sie acht Aktionsbereiche fest – von der Gesundheitsförderung über Krebs und Arzneimittel bis hin zu seltenen Krankheiten. Diese Mitteilung war der Vorläufer der späteren mehrjährigen Gesundheitsprogramme. Diese sind jedoch stärker bereichsübergreifend und interdisziplinär zugeschnitten. Das derzeit laufende vierte Gesundheitsprogramm EU4Health (2021 bis 2027) verfügt über ein Volumen von 5,1 Milliarden Euro. Zum Vergleich: Das Vorgängerprogramm von 2014 bis 2020 belief sich auf 449 Millionen. EU4Health soll unter anderem die Gesundheitsunion finanziell unterstützen. Im Gegensatz zu den regulären Förderprogrammen ist die Union nämlich nicht mit eigenen Finanzmitteln ausgestattet. Aufgrund der zahlreichen inhaltlichen Überschneidungen zwischen EU4Health und Gesundheitsunion fragen Dr. Thomas Kostera und Uwe Schwenk von der Bertelsmann Stiftung, wie eine „Doppelung bürokratischer Mechanismen und mögliche Zielkonflikte“ vermieden werden sollen.
Berlin (pag) – Mehr als eine Milliarde Menschen in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen haben keinen Zugang zur medizinischen Grundversorgung, weil die ausreichende finanzielle Absicherung fehlt. Charité-Ärzte haben daher die digitale Gesundheitsplattform mTOMADY entwickelt. Über die Mobiltelefon-Infrastruktur kann Geld sicher und effizient für medizinische Behandlungen eingezahlt, angespart und abgerufen werden.
TOMADY bedeutet auf madagassisch „gesund und stark“. Das besondere an mTOMADY: Das Geld, das auf das Gesundheitskonto geladen wurde, ist ausschließlich für Gesundheitsdienstleistungen nutzbar.
Die Plattform ist in Madagaskar im Einsatz – einem der Länder, in denen die Assistenzärzte Dr. Julius Emmrich und Dr. Samuel Knauß ehrenamtlich arbeiten. Die herausfordernden Zustände im Gesundheitswesen sowie die neuen digitalen Entwicklungen in dem Land brachten sie auf die Idee, mTOMADY zu gründen. Das bedeutet auf madagassisch „gesund und stark“. mTOMADY funktioniert wie ein digitales Gesundheitsportemonnaie. Um es zu nutzen benötigt man lediglich einen Zugang zur örtlichen Mobiltelefon-Infrastruktur. Hierfür reicht eine einfache SIM-Karte. Bargeld kann man an sogenannten Mobile-Cashpoints, die man in Madagaskar an fast jeder Straßenecke findet, in Mobile Money umwandeln. Die Nutzer können effizient und sicher Geld über das Mobile Money-System auf ein Konto transferieren.
Unterstützung für Schwangere
Eine Besonderheit von mTOMADY ist, dass das Geld, das auf das Gesundheitskonto geladen wurde, ausschließlich für Gesundheitsdienstleistungen nutzbar ist. So ist sichergestellt, dass die Nutzer ein finanzielles Polster ansparen, das in prekären Situationen aufgrund von Krankheiten oder Unfällen Leben retten kann. Zusätzlich ist es möglich, eine Krankenversicherung über die Plattform abzuschließen. Ebenso können Spenden auf eine digitale Plattform eingezahlt werden, von denen alle Mitglieder von mTOMADY profitieren.
Aktuell arbeitet das Gesundheitsministerium von Madagaskar zusammen mit der Initiative daran, das Gesundheitsportemonnaie zu einem integralen Bestandteil der Gesundheitsversorgung des Landes weiterzuentwickeln. Angefangen hat mTOMADY mit der Unterstützung von schwangeren Frauen im zentralen Hochland. „In Madagaskar herrscht eine hohe Mutter- und Säuglingssterblichkeit, und nur wenige Geburten werden professionell durchgeführt“, begründet Julius Emmrich diese Wahl. Mittlerweile steht mTOMADY auch anderen Patientengruppen zur Verfügung. Außerdem sind Emmrich und Knauß dabei, mehrere Krankenkassen in Madagaskar in das System zu integrieren. Auch in Ghana und Uganda soll das digitale Gesundheitsportemonnaie eingeführt werden.
Emmrich und Knauß sind seit 2019 Teilnehmer des BIH Charité Digital Clinician Scientist-Programms, das ihnen ermöglicht, während der Facharztweiterbildung zum Neurologen mTOMADY zu entwickeln. Der Digital Health Accelerator des BIH förderte das Projekt von Juli 2018 bis Dezember 2020 mit rund einer Million Euro.
Berlin (pag) – Das Kabinett hat eine knapp 40-seitige Strategie der Bundesregierung zur globalen Gesundheit verabschiedet. Unter dem Titel „Verantwortung – Innovation – Partnerschaft: Globale Gesundheit gemeinsam gestalten“ wird ein Leitbild für die Zeit bis 2030 formuliert. Zur Halbzeit soll bereits eine Überprüfung stattfinden, der Opposition reicht das allerdings nicht.
„Ohne klaren Zeitrahmen und Überprüfungsmechanismen zur Erfolgsmessung ist die neue Strategie der Bundesregierung nur ein Tropfen auf den heißen Stein“, kritisiert der FDP-Bundestagsabgeordnete Prof. Andrew Ullmann. Die angekündigte Überprüfung zur Halbzeit sei zwar erfreulich, aber die Konkretisierung fehle. Der Gesundheitspolitiker schlägt unter anderem einen Überprüfungsausschuss vor. Dieser sei vom Unterausschuss globale Gesundheit des Deutschen Bundestages zu beauftragen.
Neben der Verbesserung der internationalen Gesundheitssicherheit ist es ein wesentliches Ziel der Strategie, die Weltgesundheitsorganisation (WHO) zu stärken. „Wir brauchen eine WHO, die Gesundheitsgefahren global vorbeugen und im Notfall schnell handeln kann“, sagt Bundesgesundheitsminister Jens Spahn. Deutschland macht sich unter anderem dafür stark, die WHO-Beiträge substanziell zu erhöhen, „auch um den Bereich des WHO-Notfallprogramms zur Vorbereitung und Reaktion auf Gesundheitskrisen zu stärken“, heißt es in der Strategie. Dort ist auch von einer Fokussierung auf Kernaufgaben die Rede. Eine weitere Institution, auf die in dem Papier ein Fokus gelegt wird, ist das Europäische Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (ECDC). Ferner werden mit der Strategie die Ziele und Prioritäten der Bundesregierung an neue Herausforderungen wie die Corona-Pandemie und den Klimawandel angepasst und weiterentwickelt.
Weiterhin kündigt die Regierung an, ihr Engagement bei Antibiotikaresistenzen fortzuführen. Betont wird: Deren Entstehung und Ausbreitung könne nur sektorübergreifend erfolgen, „wie im Rahmen der Tripartite Initiative von WHO, Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation (FAO) sowie der Weltorganisation für Tiergesundheit (OIE)“.
Zum Hintergrund Die Strategie wird an die Stelle des im Jahr 2013 verabschiedeten Konzeptes zur globalen Gesundheitspolitik treten, mit dem die Bundesregierung erstmals den deutschen Beitrag in diesem Politikfeld definierte. Der Prozess der Strategieentwicklung hatte im Juni 2018 offiziell begonnen.
Nachgefragt bei Maike Voss, Susan Bergner und Isabell Kump, Stiftung Wissenschaft und Politik
Berlin (pag) – Viele Staaten setzen auf ein nationales Krisenmanagement, doch die Global-Heath-Expertinnen Maike Voss, Susan Bergner und Isabell Kump erkennen auch eine Wiederbelebung der länderübergreifenden Zusammenarbeit. Dem ist jedoch ein Tiefpunkt der europäischen Solidarität vorangegangen.
Die Coronakrise zeigt eindrucksvoll, dass regionale Gesundheitskrisen rasch globale Dimensionen erreichen können. Ebola war bereits ein Warnschuss – reichen die seinerzeit gezogenen Konsequenzen nicht aus?
Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP):Das Ebolavirus und das neuartige Coronavirus sind natürlich nicht im Detail miteinander vergleichbar. Die Ausbrüche ereigneten sich in ganz unterschiedlichen Kontexten: auf der einen Seite drei westafrikanische Staaten, zum Teil nach Bürgerkriegen, mit schwachen Gesundheitssystemen und auf der anderen Seite die Region Hubei, eine Metropolregion der Handelsmacht China. Warnzeichen gab es in der Vergangenheit viele: So wurden nach dem SARS-Ausbruch 2003 die Internationalen Gesundheitsvorschriften der WHO reformiert – auch vor dem Hintergrund, Gesundheitssysteme weltweit besser auf zukünftige Pandemien vorzubereiten. Im vergangenen Jahr erst schätzte das Global Preparedness Monitoring Board, ein unabhängiges und internationales Expert*innengremium, das Risiko von Epidemien und Pandemien mit massiven ökonomischen und sozialen Folgen als akut ein. Das Problem liegt nicht in der Warnung.
SWP:… in der angemessenen Vorbereitung und Ausfinanzierung von öffentlichen und qualitativ hochwertigen Gesundheitssystemen – mit Zugang und finanzieller Absicherung im Krankheitsfall für alle Menschen.
Einerseits handelt es sich um eine globale Gesundheitskrise, andererseits findet das Krisenmanagement auf nationaler Ebene statt. Kommt dabei die länderübergreifende Zusammenarbeit und Hilfe zu kurz?
SWP:Zu Beginn des Ausbruchs sahen wir, dass viele Staaten versuchten, dem Covid-19-Ausbruch mit nationalen Antworten zu begegnen. Während sich diese Art von Krisenmanagement teils immer noch fortsetzt, sehen wir doch auch eine Wiederbelebung der länderübergreifenden Zusammenarbeit. So erließ Deutschland zunächst Exportverbote für medizinische Ausrüstung, stellte Italien nun aber sieben Tonnen an Hilfsgütern bereit. Wenngleich China und Russland selbst vom Ausbruch betroffen sind, schicken auch sie medizinisches Personal und Ausrüstung nach Italien. Auf ökonomischer Ebene verabschiedeten Länder eigene Wirtschaftshilfsprogramme, sind jedoch auch auf EU-Ebene und in den anderen Foren der G7 und G20 in Bewegung. Aktuell erhalten dabei die besonderen Situationen vulnerabler Gruppen wenig Aufmerksamkeit. Hier fehlen entwicklungspolitische und humanitäre Stimmen, die zum Beispiel auf Bedarfe von Menschen auf der Flucht aufmerksam machen. Über Finanzinstrumente der Weltbank und des IWF hinaus muss es kurzfristige Hilfen der internationalen Gemeinschaft für die Stärkung von bedarfsgerechten Gesundheitssystemen geben – in Europa aber auch darüber hinaus.
Ist die Kritik an den nationalen Alleingängen innerhalb der EU berechtigt oder ist das ein nachvollziehbares und effektives Krisenmanagement?
SWP:Die Kritik ist leider berechtigt, gerade zu Beginn des Ausbruchs erlebten wir eine Rückbesinnung auf nationalstaatliche Maßnahmen anstatt einer europäischen Antwort. Das ist im ersten Moment nachvollziehbar, aber erweist sich als kontraproduktiv. Grenzschließungen werden nicht von der WHO empfohlen, führen zu Lieferengpässen und betreffen besonders Personen, die aufgrund ihres Berufes auf offene Grenzen angewiesen sind, wie Saisonarbeiter*innen. Der Tiefpunkt der europäischen Solidarität zeigte sich, als auf den Ruf Italiens nach Schutzausrüstung von den EU-Staaten nicht reagiert wurde. Daraufhin trat China medienwirksam in das Vakuum und unterstützte Italien. Die Europäische Kommission versuchte jedoch von Anfang an als Gegengewicht zu einer sogenannten Re-nationalisierung zu fungieren, denn auch sie weiß: Gesundheitskrisen überwinden Grenzen und legen gemeinsame Verletzlichkeiten frei. Die EU braucht daher mehr Kompetenzen im Gesundheitsbereich, um ein koordiniertes Vorgehen in Krisenzeiten sicherzustellen. Gleichzeitig müssen Gesundheitssysteme innerhalb Europas gestärkt werden; sie sind die beste Prävention gegen Gesundheitskrisen.
Zur Institution:
Die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) berät politische Entscheidungsträger*innen zu Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik bzw. der internationalen Politik. Dabei richten sich ihre Angebote in erster Linie an Bundestag und Bundesregierung sowie für Deutschland wichtige internationale Organisationen wie EU, NATO und Vereinte Nationen. Maike Voss leitet bei der SWP das Global-Health-Team, dem auch Susan Bergner und Isabell Kump angehören.