Jugendliche für HPV-Impfungen an Schulen

Heidelberg (pag) – Drei Viertel der Jugendlichen sprechen sich für HPV-Impfungen an Schulen aus. Das offenbart eine repräsentative Umfrage des Deutsche Krebsforschungszentrums (DKFZ). Gleichzeitig zeigen aktuelle Krankenkassendaten, dass lediglich 27 Prozent der 15-jährigen Jungen und 54 Prozent der gleichaltrigen Mädchen vollständig gegen Humane Papillomviren (HPV) geimpft sind.

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Die Impfung ist wirksam gegen Gebärmutterhalskrebs, Krebs im Mund- und Rachenraum und im Genitalbereich. Zielgruppe der Impfung sind Kinder und Jugendliche im Alter von 9 bis 14 Jahren, ebenso 15- bis 18-Jährige, die verpasste Impftermine nachholen können.
Die Studie des DKFZ zeigt, dass die Impfung von weiten Teilen der Bevölkerung befürwortet wird: 68 Prozent der Befragten sprechen sich dafür aus, nur 23 Prozent lehnen sie ab und 9 Prozent sind unentschieden. Auffällig ist, dass die Zielgruppe der Impfung, Jugendliche im Alter von 14 bis 17 Jahren, diese auch in Form einer Schulimpfung begrüßen würden. 76 Prozent von ihnen sprechen sich bei der Umfrage dafür aus. „Erfahrungen aus Ländern wie Australien und England zeigen, dass HPV-Impfprogramme in Schulen die Impfquote erhöhen können“, sagt Nobila Ouédraogo, Public-Health-Experte vom DKFZ.
Besondere Aktualität hat die Studie vor dem Hintergrund eines deutlichen Impfrückgangs hierzulande. 25 Prozent weniger Impfdosen sind 2022 an Kinder und Jugendliche verteilt worden, zeigen Untersuchungen des Kinder- und Jugendreports der DAK. Besonders stark ist der Rückgang bei den 15 bis 17-jährigen Jungen: Bei ihnen sanken die HPV-Impfungen um 42 Prozent.

Impfskeptiker beim Bundespräsidenten

Berlin (pag) – Das Thema Impfpflicht erregt die Gemüter wie kein anderes. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier lädt Experten und Bürger ein, um öffentlich das Für und Wider zu diskutieren. Dabei kommen die unterschiedlichsten Argumente zur Sprache.

Steinmeier selbst will sich laut eigener Aussage nicht öffentlich positionieren – „aus Respekt vor dem politischen Prozess“. Zugleich wolle er in seiner Funktion als Bundespräsident die öffentliche Auseinandersetzung mit dem Thema einfordern. Denn: Die allgemeine Impfpflicht sei „kein gesetzgeberischer Alltag“.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier traf sich am 12. Januar 2022 zu einer Diskussionsrunde mit Bürgern und Bürgerinnen zu Pro und Contra einer Impfpflicht in Schloss Bellevue. Einige Diskussionsteilnehmer waren online zugeschaltet. © Imago Images, Chris Emil Janßen

Per Videoschalte dabei sind auch ausdrückliche Impf-Skeptiker und Gegner einer Impfpflicht. Eine von ihnen ist Gudrun Gessert, Lehrerin aus Baden-Württemberg. Aus ihrer Sicht habe die Impfung die in sie gesteckten Erwartungen bislang nicht erfüllen können. Gesserts Auftritt mündet daher in die These: „Die Impfpflicht ist nicht geeignet, um die Pandemie überwinden zu können.“ Sigrid Chongo, Leiterin eines Berliner Seniorenzentrums, hält dagegen und verweist auf ihre Erfahrungen aus der Praxis. Das Heim habe nach der Impfung der Senioren sehr viel weniger Probleme mit COVID-19 als zuvor. Das zeige, dass die Impfung wirkt. Prof. Kai Nagel von der TU Berlin bekräftigt die Ausführungen. Er verweist auf deutliche Unterschiede zwischen den Bundesländern hinsichtlich der Intensiv- und Sterbefälle. Diese seien auch auf die Impfquoten zurückzuführen, betont der Experte zur Erstellung von Mobilitätsmodellen zur Ausbreitung des Coronavirus.

Medizinische Debatte ohne Mediziner

Über die praktischen Hindernisse und den gesellschaftlichen Nutzen einer möglichen Impfpflicht wird in der Runde dennoch weit weniger gestritten als zu erwarten gewesen wäre. Stattdessen verliert sich die Diskussion bisweilen in medizinischen Details rund ums Impfen selbst – über deren genaue Bedeutung allerdings keiner der geladenen Gäste letztgültig Auskunft geben kann.

Die Befürchtung der Impfgegnerin Gessert, wonach als Reaktion auf die bereits beschlossene einrichtungsbezogene Impfpflicht schon bald noch mehr Pflegekräfte ihrem Beruf den Rücken kehren könnten, stößt bei den anwesenden Praktikern auf geringen Widerhall. Die Gründe für einen vorzeitigen Abschied aus dem Pflegeberuf lägen in der Regel woanders, erklärt Ellen Schaperdoth, Krankenpflegerin an der Uniklinik Köln. Viele fühlten sich aufgrund der chronischen Personalnot schon lange überlastet.

Cornelia Betsch, Professorin für Gesundheitskommunikation an der Uni Erfurt, plädiert derweil für mehr Solidarität auch jenseits einer Impfpflicht. Sie sagt: „Es ist eine egoistische Entscheidung, sich nicht impfen zu lassen.“ Würden sich alle Menschen nach diesem Muster verhalten, würde das die Kliniken geradewegs in die Überlastung führen.

Neue Dynamik in der Gesundheitspolitik

Die Großbaustellen der kommenden Jahre

Berlin (pag) – In der neuen Legislatur sind die frisch gewählten Politikerinnen und Politiker mit den altbekannten Problemen des Gesundheitswesens konfrontiert. Die Pandemie hat jedoch nicht nur wie das oft genannte Brennglas gewirkt und Schwierigkeiten noch deutlicher hervorgestellt, sondern bisweilen auch neue Perspektiven eröffnet.

Dafür ist Impfen eines der besten Beispiele. Eigentlich schien das Thema mit dem 2019 verabschiedeten Masernschutzgesetz politisch weitgehend abgehakt, rangierte unter ferner liefen. In der Pandemie nun kommt Impfstoffen eine überragende Bedeutung zu; fasziniert verfolgt die Öffentlichkeit, wie die Vakzine in einem Tempo ent-wickelt und zugelassen werden, das noch vor nicht allzu langer Zeit an Science-Fiction erinnert hätte.
Deutschland will im Falle neuer
Pandemien gerüstet sein und möglichst schnell Impfstoffe produzieren können. Deshalb sollen mit fünf Pharmaherstellern Bereitschaftsverträge geschlossen werden. Und am Paul-Ehrlich-Institut hat das Zentrum für Pandemieimpfstoffe und Therapeutika (Zepai) im Oktober seine Arbeit aufgenommen. Spannend zu beobachten wird sein, wie sich das neu erwachte Interesse auf andere Impfungen jenseits von COVID-19 auswirken wird. Hier besteht zum Teil erheblicher Handlungsbedarf. Zur Erinnerung: Die HPV-Impfquoten für Mädchen liegen in Baden-Württemberg beispielsweise derzeit deutlich unter 40 Prozent.

Komplizierte Gemengelage

Bei der Dauerbaustelle Krankenhaus braucht es einen langen Atem, wie die Reformbemühungen um die Notfallversorgung zeigen, die in den letzten Jahren kaum von der Stelle kamen. Die komplizierte Gemengelage erfordert viel politisches Geschick.
Blickt man auf Initiativen wie das DIVI-Intensivregister, so hat Corona im Klinikbereich mehr Transparenz gebracht – aus heutiger Sicht ist es nahezu unverständlich, warum es dafür eine Pandemie brauchte. Wenig ergiebig scheint hingegen weiterhin die Debatte um die richtige Anzahl von Krankenhäusern hierzulande zu sein. Dass es zu viele Häuser gibt, war vor der Pandemie weitgehender Konsens, jetzt sieht es anders aus. SPD-Gesundheitspolitiker Prof. Karl Lauterbach ist beispielsweise öffentlich zurückgerudert und findet nicht mehr, dass es in Deutschland zu viele Kliniken gibt. Fest steht, dass an einer stärkeren Spezialisierung und klaren Aufgabenteilung kein Weg vorbeiführt. Umso spannender ist es, die neue Krankenhausplanung in Nordrhein-Westfalen zu beobachten. In dem Bundesland hat Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) den Mut gehabt, sich von der starren Planungsgröße Bett zu verabschieden. 

Stichwort Öffentlicher Gesundheitsdienst (ÖGD), bei dem in den vergangenen Jahren stets nur eine Planungsvorgabe existiert zu haben schien: sparen. Es brauchte den Schock einer Pandemie, um der Sorge für die Öffentliche Gesundheit wieder Priorität einzuräumen. Denn dass der ÖGD nahezu kaputtgespart wurde, war in Fachkreisennun wirklich kein Geheimnis, sondern eine Tatsache, die schulterzuckend zur Kenntnis genommen beziehungsweise akzeptiert wurde.

Aufbruch beim ÖGD?

Jetzt die Kehrtwende mit dem Pakt für den Öffentlichen Gesundheitsdienst. Ob die darin enthaltenen Versprechungen wirklich umgesetzt werden können, bleibt abzuwarten. Das Gleiche gilt für die Frage, ob die Aufbruchsstimmung auch dafür genutzt wird, neue Kooperationen mit dem ambulanten und stationären Sektor, am besten auf digitalem Wege, auszuloten. Denn bisher agieren diese Systeme nebeneinander und nicht miteinander, was man sich angesichts der knappen Ressource Personal schon längst nicht mehr leisten kann. Wie das Interview mit der ÖGD-Vertreterin Dr. Ute Teichert und dem niedergelassenen Facharzt Dr. Dirk Heinrich zeigt, besteht bei den Beteiligten durchaus Bereitschaft, an einem Strang zu ziehen.

Aufbruch und Chance

ÖGD, Krankenhaus und Impfen – diese drei Themen standen im Mittelpunkt der ersten Experten-Talks, die Gerechte Gesundheit im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Aufbruch in eine neue Dynamik“ initiiert hat. Die Überschrift soll für Chancen stehen. Chancen darauf, Dinge besser, schneller, anders und neu zu machen. Über die zweite Halbzeit der Veranstaltungsreihe mit den Themen Lieferketten, Diagnostik und Digitalisierung werden wir in der nächsten Ausgabe berichten. Selbiges gilt für das Abschluss-Symposium, bei dem die neuen Gesundheitspolitiker zu den wichtigsten Botschaften der vorangegangenen Experten-Talks Stellung nehmen.
Die Politik ist in der Pandemie damit konfrontiert, dass Priorisierungs- und Verteilungsfragen bisher ungeahnte Dringlichkeit und Öffentlichkeit erfahren haben. Wer wird zuerst geimpft, wie sollen im Zweifelsfall intensivmedizinische Ressourcen priorisiert werden? Diese Herausforderungen haben nicht nur Beschäftigte des Gesundheitswesens und Politiker, sondern auch die breite Öffentlichkeit umgetrieben. Die Politik scheut es oft, sich mit diesen unangenehmen Themen zu beschäftigen. Gerne werden sie ausgelagert. Wohl auch deshalb waren in dieser Pandemie Medizinethiker so gefragt wie noch nie zuvor. Das entbindet die gewählten Volksvertreter allerdings nicht von der Verpflichtung, selbst Farbe zu bekennen.

Impfen – vom Mauerblümchen zum Heilsbringer

Experten sehen Handlungsbedarf beim Thema Daten

Berlin (pag) – Der erste Aufschlag der Veranstaltungsreihe von Gerechte Gesundheit widmet sich dem Impfen. Durch die Pandemie steht das Thema plötzlich im Zentrum des öffentlichen Interesses. Beim Online-Talk diskutieren die Experten unter anderem über mangelnde Daten, Impfbarrieren und die Unabhängigkeit der STIKO.

Die Impfstoffe gegen COVID-19 stehen „in einer historischen Kontinuität des Impfens“, sagt Prof. Eberhard Hildt vom Paul-Ehrlich-Institut (PEI). Es habe sich bereits vorher gezeigt, dass Impfen ein „sehr nachhaltiger Ansatz“ ist. Hildt nennt drei Faktoren, die maßgeblich dazu beigetragen haben, die Entwicklung der neuen Impfstoffe zu beschleunigen: die frühzeitige regulatorische Beratung der Firmen mit dem PEI, die Akzeptanz des Rolling-Review-Prozesses für klinische Studien und die internationale Harmonisierung von Studien.

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Mangel an Daten

Die Entscheidungen für die laufende Impfkampagne basierten hauptsächlich auf Real World Data aus Israel, die laut Hildt „sehr, sehr hilfreich“ sind. Aber auch in Deutschland gebe es klinische Studien, aus denen Schlussfolgerungen gezogen werden könnten. Er betont: „Wir gehen nicht blind in die Zukunft, wir treffen evidenzbasierte Entscheidungen.“
Die Zahlen seien zu Beginn der Impfkampagne sehr gut erfasst gewesen, wirft Prof. Rüdiger von Kries von der Ständigen Impfkommission (STIKO) ein. Doch als die Impfungen in die Praxen verlagert wurden, sei die Datenerhebung schlechter geworden, da vonseiten der niedergelassenen Ärzte Druck ausgeübt worden sei, weniger protokollieren zu müssen. „Da gibt es sicherlich Handlungsbedarf und man würde sich wünschen, dass die Politik da auch langfristige Strukturen etabliert.“ Der Bundesminister solle sich nicht von Ärztelobbys „kleinquatschen lassen“, fordert von Kries.
Auch sein Kollege vom PEI sieht bei der Datengenerierung noch Luft nach oben. Er wünscht sich mehr belastbare Daten für Bewertungen, um frühzeitig Signale erkennen zu können. Um eine Lösung zu finden, müssten alle Player an einem Tisch zusammenkommen.

Keine Propagandaabteilung

Durch die Pandemie hat sich die Arbeit der Kommission verändert, berichtet von Kries. „Üblicherweise trifft sich die STIKO zwei- bis dreimal im Jahr, jetzt haben wir Konferenzen im Wochenrhythmus gehabt.“ Das sei viel mehr Arbeit, nicht nur für die Mitglieder, sondern insbesondere für die Geschäftsstelle. Diese sei hochprofessionell, arbeite allerdings am Anschlag. Derzeit werde sie durch Drittmittel finanziert, hier wünscht sich von Kries eine Verstetigung der Finanzierung, um die Geschäftsstelle zu stärken.
Die Politik hat in letzter Zeit viel Druck auf die STIKO ausgeübt, schneller ihre Empfehlungen auszusprechen. „Es scheint diesen Herren das Vertrauen in legitimierte Strukturen egal zu sein“, bemängelt von Kries. 
Er plädiert für eine „evidenzbasierte Gesundheits-politik“. Die Unabhängigkeit der STIKO müsse gewährleistet werden, dazu sei die jetzige Struktur optimal. Die Sitzungen seien deshalb so fruchtbar, weil Experten aus verschieden Bereichen zusammensitzen und Evidenz bewerten. Es könne nicht das Ziel sein, „die STIKO in ein Bundesministerium zu verwandeln, das waltungsbefugt für Minister arbeitet und letztendlich eine Propagandaabteilung für die Ministerien darstellt“. Die Ansiedlung am RKI mache jedoch Sinn, um sich mit anderen Gesundheitsakteuren zu vernetzen.

Barrieren abbauen

Aus psychologischer Sicht beeinflussen vier Faktoren die Impfbereitschaft eines Menschen: Vertrauen in Sicherheit und Effektivität der Impfung, Einschätzung von COVID-19 als ernsthafte Erkrankung, Abwägen von Vor- und Nachteilen der Impfung, Verantwortungsgefühl für die Gemeinschaft. Aber „Impfbereitschaft führt nicht immer zur Impfung“, berichtet Philipp Sprengholz von der Universität 
Erfurt bei dem Experten-Talk. Grund dafür seien Barrieren wie Arbeitszeiten, kein fester Hausarzt oder Sprachschwierigkeiten. Der Psychologe plädiert darum dafür, zunächst Barrieren abzubauen und aufzuklären und erst danach mit positiven oder negativen Anreizen zu werben.

Praxisferne der Entscheider

Dass die Niedergelassenen nicht von Anfang an in die Impfkampagne eingebunden waren, bemängelt Hausärztin Prof. Nicola Buhlinger-Göpfarth: „Wir haben am Anfang nur zugeschaut.“ Problematisch seien die überbordende Bürokratie und schlechte Kommunikation gewesen. Auch die „fehlende Digitalisierung und Praxisferne der Entscheider“ hätten den Roll-out behindert. Die Medizinerin ist optimistisch, dass der Rückgang der Routine-Impfungen während der Pandemie wieder aufgeholt werden kann. „Ich erlebe umgekehrt eine zunehmende Sensibilisierung der Menschen für das Thema Impfen.“ Große Hoffnungen setzt sie auf den digitalen Impfpass, der Praxen und Patienten entlasten könnte.

Screenshots und Tweets vom Experten-Talk am 3. September, von links: Prof. Eberhard Hildt vom Paul-Ehrlich-Institut, Prof. Rüdiger von Kries von der Ständigen Impfkommission und Philipp Sprengholz von der Universität Erfurt. © screenshots pag

Einhellige Ablehnung der Impfpflicht

Eine Corona-Impfpflicht lehnen die Experten ab. „Das werden wir in der STIKO sicher nie fordern“, betont von Kries. Autonomie sei ein hohes Gut. Hildt könnte sich höchstens vorstellen, in einzelnen Bereichen wie Pflegeheimen oder im Gesundheitswesen eine verpflichtende Impfung von den Angestellten zu verlangen. Sprengholz vermutet, dass sich die Menschen in diesem Fall ihre Freiheit an anderer Stelle zurückholen würden und beispielsweise die Influenza-Impfung ausfallen lassen würden.

 

Weiterführender Link:

Die ca. zweistündige Veranstaltung ist in der Mediathek der virtuellen Veranstaltungsplattform hinterlegt und kann dort, wie alle andere Veranstaltungen der Reihe, nach Registrierung bzw. Anmeldung angesehen werden: https://gerechte-gesundheit-virtuell.de/programm/vk/1-archiv/

 

Impfstoff: Forschung, Priorisierung, Transparenz

Berlin (pag) – Um die Impfstoffentwicklung zu beschleunigen, stellt die Bundesregierung bis zu 750 Millionen Euro zur Verfügung. Damit sollen Studien- und Herstellungskapazitäten erweitert bzw. gesichert werden. Wissenschaftler mahnen, dass dabei die Transparenz nicht auf der Strecke bleiben darf. Auch an Priorisierungskonzepten wird mittlerweile gearbeitet: Wer soll zuerst geimpft werden, lautet die spannende Frage.

Es sei nicht damit zu rechnen, dass unmittelbar ausreichend Impfstoff für die gesamte Bevölkerung zur Verfügung stehe, schreibt die Bundesregierung in einer Antwort auf eine Anfrage der AfD-Fraktion. Daher werde es erforderlich sein, Bevölkerungsgruppen zu definieren, die von einer Impfung besonders profitieren würden, etwa vulnerable Personen oder medizinisches Personal. Die Ständige Impfkommission beim Robert-Koch-Institut sei beauftragt worden, ein „risikoorientiertes Priorisierungskonzept“ zu entwickeln.

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Regierung will kein Bremsklotz sein

Unterdessen drückt Anja Karliczek bei der Entwicklung der Vakzine auf die Tube: „Wo wir beschleunigen können, wollen wir beschleunigen“, sagt die Bundesforschungsministerin bei der Vorstellung des „Sonderprogramms Impfstoffentwicklung und -herstellung“. Mehr Tempo bei der Erforschung eines Corona-Impfstoffes bedeutet: Die verschiedenen Phasen der klinischen Studien werden teilweise nicht wie bisher nacheinander durchgeführt, sondern gekoppelt. Dadurch wird der erfolgversprechende Impfstoffkandidat schneller an vielen Freiwilligen getestet, wovon sich die Forscher wichtige Erkenntnisse erhoffen. Die Regierung will kein Bremsklotz sein. „Wir wollen größere Probandenzahlen ermöglichen“, sagt Karliczek. Früher als gewöhnlich sollen beispielsweise Gesundheitspersonal oder Risikogruppen in die Studien eingeschlossen werden –„natürlich auf freiwilliger Basis“, wie die Ministerin betont.

Angesichts der beschleunigten Zulassungsverfahren fordern Wissenschaftler des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen und der Cochrane Collaboration, dass alle klinischen Studienberichte zu Covid-19-Arzneimitteln und -Impfstoffen mit dem Tag der Marktzulassung veröffentlicht werden. In einem Brief an die Europäische Arzneimittelagentur heißt es, dass rasche und vollständige Verfügbarkeit der Informationen wichtig sei, „um diese Präparate weiter zu bewerten und die Entwicklung weiterer Wirkstoffe zu beschleunigen“.

Für die Impfstoffentwicklung und Herstellung stellt der Bund mit dem Sonderprogramm 750 Millionen Euro zur Verfügung. Bis zu 500 Millionen Euro aus dem Haushalt können von Entwicklern für die Ausweitung der Studienkapazitäten abgerufen werden. Der Rest ist für die Schaffung der dafür nötigen Herstellungskapazitäten reserviert. Mit dem Geld können etwa Ausgangsmaterialien für die Impfstoffe rechtzeitig beschafft oder Abfüll-Verträge mit Dienstleistern frühzeitig geschlossen werden. Laut Karliczek ergänzt das nationale Sonderprogramm die internationalen Anstrengungen Deutschlands bei der Entwicklung eines Impfstoffes. Auf der sogenannten Geberkonferenz der EU Anfang April hat die Bundesregierung zugesagt, 525 Millionen Euro bereitzustellen.

Weiterführender Link
Die Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der AfD: https://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/190/1919097.pdf

Neue Versorgungswege von Ärzten für Ärzte

Dr. Annegret Elisabeth Schoeller über Impfen außerhalb der Praxis

Berlin (pag) – Wie sieht es mit Impfungen außerhalb der klassischen Arztpraxis aus? Was tut sich bei Betriebsärzten und beim Öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGD)? Über Neuerungen berichtet die zuständige Bereichsleiterin der Bundesärztekammer, Dr. Annegret Elisabeth Schoeller.

Dr. Annegret Elisabeth Schoeller © privat
Dr. Annegret Elisabeth Schoeller © privat

Impfungen werden nahezu ausschließlich von niedergelassenen Ärzten durchgeführt. Wie sieht es mit Ärzten aus anderen Versorgungssektoren aus?

Dr. Annegret Elisabeth Schoeller: Es stimmt, traditionell impfen heutzutage weitestgehend die niedergelassenen Ärzte. Damit aber das Impfen aus ärztlicher Hand umfassend in Lebenswelten und Arbeitswelt durchgeführt werden kann, sollen auch Ärztinnen und Ärzte aus anderen Versorgungssektoren allgemeine Impfungen durchführen – wie Betriebsärztinnen und Betriebsärzte in der Arbeitswelt und Ärztinnen und Ärzte im Öffentlichen Gesundheitsdienst in Lebenswelten.

Das scheint bisher kaum der Fall zu sein.

Schoeller: Bis zu den 1990er-Jahren impften auch Ärzte im ÖGD flächendeckend Kinder, Jugendliche, Erwachsene und ältere Menschen. Aufgrund von Einsparmaßnahmen im Öffentlichen Gesundheitsdienst wurde es immer weniger. Die Situation bei Betriebsärzten ist dagegen so, dass sie schon immer auf Veranlassung der Arbeitgeber Impfungen durchführen, um die Beschäftigten vor Gefahren durch die Tätigkeit schützen zu können. Aber nun gibt es eine wichtige Neuerung.

Und zwar?

Schoeller: Erst jetzt können Verträge nach Paragraph 132e SGB V zur Durchführung von allgemeinen Impfungen mit den Gesetzlichen Krankenkassen geschlossen werden. Damit erübrigt sich das Ansinnen von Apotheker-Berufsverbänden, ebenfalls impfen zu wollen.

Was sind das für Verträge?

Schoeller: Der Paragraph 132e SGB V sieht vor, dass Krankenkassen oder Kassenverbände mit Kassenärztlichen Vereinigungen, geeigneten Ärzten, wie Betriebsärzten sowie „Einrichtungen mit geeignetem ärztlichen Personal“ oder auch mit dem Öffentlichen Gesundheitsdienst Verträge zur Durchführung von Schutzimpfungen schließen können. Diese Regelung stammt aus dem Präventionsgesetz.

… das in seinen wesentlichen Teilen im Juli 2015 in Kraft getreten ist. Warum wird diese Regelung erst jetzt umgesetzt?

Schoeller: Es mussten noch redaktionelle Folgeänderungen in Paragraf 140a SGB V „Besondere Versorgung“ und Paragraph 295a SGB V „Abrechnungsstellen“ vorgenommen werden. Das ist im Rahmen des Terminservice- und Versorgungsgesetzes geschehen. Dennoch waren die Ärzte nicht untätig: Es wurden in den letzten Jahren neue Versorgungswege von Ärzten für Ärzte geschaffen. Sie sind nun bereit, zu starten.

Also kommt etwas in Bewegung?

Schoeller: Die DGAUM, die Deutsche Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin, hat bereits Selektivverträge mit einzelnen Krankenkassen geschlossen. Für die Abrechnung von (betriebs-)ärztlichen Impfleistungen und Impfstoffen hat die Gesellschaft eine Abrechnungsstelle vorgesehen. In diesem Rahmen wird den Betriebsärzten unter dem Namen „DGAUM-Selekt“ ein geschütztes Onlineportal zur Verfügung gestellt, das die Verwaltung und Abrechnung von Leistungen für die GKV, für die Selbstzahler im Kostenerstattungsverfahren sowie für PKV-Versicherte aus einer Hand ermöglichen kann. Auch der Bundesverband der Ärztinnen und Ärzte im ÖGD loten derzeit aus, wie sie den gesetzlichen Rahmen des Präventionsgesetzes mit Leben füllen können.

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ZUR PERSON
Dr. Annegret Elisabeth Schoeller ist als Bereichsleiterin in der Bundesärztekammer für Arbeitsmedizin, öffentlicher Gesundheitsdienst, Rehabilitation sowie für Impfungen, Hygiene und Pandemieplanung zuständig. Zuvor arbeitete sie unter anderem im Öffentlichen Gesundheitsdienst und am Institut für Hygiene und Arbeitsmedizin, Gelbfieberimpfstelle der Universität-Essen-Gesamthochschule. Die Fachärztin für Arbeits- und Umweltmedizin ist unter anderem Mitglied des Expertenbeirats Influenza des Robert Koch-Instituts und der Nationalen Lenkungsgruppe Impfen der Gesundheitsministerkonferenz.

„Es muss einfacher werden, geimpft zu werden“

Prof. Cornelia Betsch über Verbesserungsbedarf im Versorgungssystem

Berlin (pag) – Wie lassen sich Impfraten steigern? Die Gesundheitskommunikationsexpertin Prof. Cornelia Betsch sieht viele Möglichkeiten, das Versorgungssystem zu verbessern und macht konkrete Vorschläge. Über eine Impfpflicht sollte erst nachgedacht werden, wenn diese Optionen ausgeschöpft sind, findet sie – nicht zuletzt, weil eine Pflicht unbeabsichtigte Nebenwirkungen haben könnte.

Prof. Cornelia Betsch © Marco Borggreve

Wie impffreundlich ist das hiesige Versorgungssystem, wo sehen Sie den größten Verbesserungsbedarf?

Prof. Cornelia Betsch: Praktische Barrieren sind ein wichtiger Grund für fehlende Impfungen. In der Arztpraxis können zahlreiche Maßnahmen ergriffen werden, um die Abläufe zu vereinfachen. Ich denke an das Impfen ohne Termin und an Impfsprechstunden am Abend oder am Wochenende. Erinnerungs- oder Recallsysteme durch Praxen gelten als sehr wirksam. In der Praxis aufgehängte Poster können den Patienten einladen, mit dem Arzt zu dem Thema ins Gespräch zu kommen. Im nächsten Schritt ist dann eine vertrauensvolle Gesprächsführung von großer Bedeutung.

Und über die Arztpraxis hinausgedacht?

Betsch: Ganz grundsätzlich muss es unser Versorgungsystem einfacher machen, geimpft zu werden. Neben fachübergreifendem Impfen sind ein aufsuchendes Impfen oder Impfen an anderen Orten wie in Apotheken wichtige Stichwörter. Sinnvoll können auch einfache Verhaltensanstöße, sogenannte Nudges, sein.

Was können diese bewirken?

Betsch: Eine Studie aus den USA hat gezeigt, dass die Impfrate signifikant stieg, wenn Patienten einen vordefinierten Impftermin erhielten. Möglich ist auch der Versand von Impfaufrufen, bei denen direkt ein Termin – z.B. auf Postkarten – eingetragen wird. Solche Verhaltensanstöße können von einzelnen Praxen, aber auch auf größerer kommunaler oder nationaler Ebene angewendet werden. In den Niederlanden registriert ein nationales Datenbanksystem gegebene und verpasste Impfungen, sodass individualisierte Erinnerungsbriefe verschickt werden.

Hierzulande wird dagegen über eine Impfpflicht gegen Masern diskutiert.

Betsch: Das erleben wir nicht zum ersten Mal. Politiker sagen Impfpflicht in die Kamera, die Medien rotieren – und am Ende passiert nichts. 2015 wurde die Beratungspflicht vor dem Kindergarteneintritt eingeführt. Mir ist allerdings keine Evaluation dieser Maßnahme bekannt, möglicherweise liegen da einfach noch keine Daten vor. Wichtig ist aber, auch die Erwachsenen im Blick zu behalten, denn auch sie sind zum Beispiel von Masern-Ausbrüchen betroffen.

Warum raten Sie von einer Impfpflicht ab?

Betsch: Über eine Impfpflicht sollte erst ernsthaft geredet werden, wenn die vielen Möglichkeiten, das System zu verbessern, ausgeschöpft sind. Und dazu gehört, sehr genau zuzuhören, warum Menschen sich nicht impfen lassen. Genau dort muss man dann ansetzen. Außerdem ist bei einer teilweisen Impfpflicht zu erwarten, dass freiwillige Impfungen weniger wahrgenommen werden, insbesondere von unsicheren oder skeptischen Menschen. Somit kann sich zwar die Impfquote für die Pflichtimpfung erhöhen, andere Impfquoten könnten aber leiden. Last but not least: Wie sollen die Ärzte argumentieren, wenn die Masern-Impfung Pflicht ist und der Rest jetzt bitte freiwillig genauso erfolgen sollte? Die Gespräche zwischen Ärzten und Patienten werden dadurch sicher nicht einfacher.

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ZUR PERSON
Prof. Cornelia Betsch hat an der Universität Erfurt eine DFG-Heisenberg-Professur für Gesundheitskommunikation. Zu ihren Forschungsinteressen zählen: evidenzbasierte Gesundheitskommunikation, individuelle und soziale Aspekte bei Gesundheitsentscheidungen, die Psychologie des Infektionsschutzes vor allem im Bereich Impfen und umsichtigem Gebrauch von Antibiotika sowie Risikowahrnehmung und -kommunikation im Gesundheitsbereich. Sie berät und arbeitet mit der Bundeszentrale für Gesundheitliche Aufklärung, dem Robert Koch-Institut und der Weltgesundheitsorganisation zusammen.

 

Bereit zum Impfen?

Über Zwänge, Barrieren und Vertrauen

Berlin (pag) – In den vergangenen Wochen war ein Schauspiel mit Déjà-vu-Charakter zu beobachten: wieder einmal Masernausbrüche, wieder einmal der Ruf nach einer Impfpflicht. Dieses Mal scheint die Politik geneigt, eine solche Pflicht tatsächlich zu etablieren. Damit stellt sich die Frage: Löst diese wirklich alle Probleme oder werden dadurch nicht gemachte Hausaufgaben des Systems kaschiert und schlimmstenfalls sogar neue Probleme geschaffen?

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Diverse Politiker, Ärzteorganisationen und andere Experten haben sich in jüngster Zeit zu einer Masern-Impfpflicht geäußert. Der SPD-Politiker Prof. Karl Lauterbach befürwortet sie, ebenso wie die FDP und der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte. Die Grünen lehnen dagegen eine solche Pflicht ab, auch der Präsident des Robert Koch-Instituts (RKI) hält nicht viel davon. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) wiederum befürwortet eine Impfpflicht in Schulen und Kitas. Bereits sein Vorgänger im Amt, Hermann Gröhe (CDU), hatte das Thema auf dem Tisch, nachdem in Berlin ein Kleinkind an Masern gestorben war. Als Konsequenz führte Gröhe eine Impf-Beratungspflicht vor dem Kindergarteneintritt ein. Über deren Wirkung ist bisher öffentlich nichts bekannt. Jetzt ist die Diskussion wieder aufgeflackert – neben Masernausbrüchen dürfte dazu auch beigetragen haben, dass die Weltgesundheitsorganisation jüngst Impfgegner zur globalen Bedrohung erklärt hat.

Impflücken, über die kaum einer spricht

Bei der hektischen und oft auch sehr emotional geführten Debatte über eine mögliche Impfpflicht sind momentan noch viele wichtige Fragen offen. Zum Beispiel: Geht es um eine allgemeine Impfpflicht oder nur um eine für bestimmte Einrichtungen oder Bevölkerungsgruppen? Welche Impfungen sollen miteingeschlossen werden? Um diese Punkte zu klären, ist eine unaufgeregte Analyse notwendig, wo hierzulande überhaupt die drängendsten Impfherausforderungen bestehen. Eine Expertenanhörung des Deutschen Ethikrats hat dazu kürzlich aufschlussreiche Erkenntnisse gebracht.

Der Vortrag von PD Dr. Ole Wichmann, beim RKI für Impfprävention zuständig, macht deutlich, dass die Impfraten von Kindern gegen Masern nur ein Problem von vielen sind – und möglicherweise nicht das schwerwiegendste. Der Experte weist etwa auf den geringen Anteil von Mädchen hin, die gegen potenziell krebsauslösende HPV-Viren geimpft sind. „Wir liegen da mit einer Impfquote bei 14-jährigen Mädchen von 31 Prozent viel zu niedrig, um einen Public-Health-Effekt zu haben.“

Außerdem sei bei der Influenza-Impfung von Senioren der Bundesdurchschnitt der Geimpften von 48 Prozent im Jahr 2008 auf mittlerweile 35 Prozent gesunken – jedes Jahr seien es ein paar Prozentpunkte weniger. Bezogen auf Masern sind es übrigens auch die nach 1970 geborenen Erwachsenen, bei denen der Nationale Aktionsplan „zur Elimination der Masern und Röteln in Deutschland“ besonderen Handlungsbedarf sieht.

Einheitliche Kommunikation? Fehlanzeige

Von der Beratungspflicht zur Impflicht? Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) und sein Vorgänger im Amt, Hermann Gröhe (CDU).
Von der Beratungspflicht zur Impflicht? Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) und sein Vorgänger im Amt, Hermann Gröhe (CDU).

Bei der Anhörung geht es aber nicht nur um Impflücken der Bevölkerung, sondern auch um das hiesige Impfsystem. Bis der Wirkstoff dem Patienten gespritzt wird, sind eine Vielzahl von Akteuren involviert, neben dem Hersteller gehören dazu: das Paul-Ehrlich-Institut, die Ständige Impfkommission, Bundesländer, Gemeinsamer Bundesausschuss, Krankenkassen. Und bei der Kommunikation spielen auch noch Fachgesellschaften, das RKI, die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung sowie die Ärztekammern eine Rolle. Wichmann vermisst in diesem Konzert eine konzertierte Strategie: „Wenn viele Akteure unterschiedlich kommunizieren, trägt das nicht zu einer hohen Akzeptanz bei.“

Die wichtigsten Botschafter

Während bei der Kommunikation möglicherweise (zu) viele mitmischen, sieht es bei der konkreten Umsetzung der Impfung komplett anders aus: Diese obliegt nahezu ausschließlich niedergelassenen Ärzten. Sie sind deshalb auch die wichtigsten Impfbotschafter. Befragungen zeigen, dass es ein entscheidender Faktor für die Akzeptanz der Impfung ist, ob die Patienten von ihrem Arzt darauf angesprochen werden. Doch wie oft passiert das im Praxisalltag? Laut einer Umfrage unter 700 Allgemeinmedizinern mit einer eher positiven Einstellung zum Thema sprechen etwa 60 Prozent ihre Patienten aktiv auf Impfungen an. 80 Prozent erheben bei neuen Patienten routinemäßig den Impfstatus, Infomaterialien legen 90 Prozent aus. Aber: Nur 40 Prozent der Praxisinhaber nutzen Erinnerungssysteme und nur um die 10 Prozent bieten dafür extra Sprechstunden an, zum Beispiel am Abend, um Impfwillige besser zu erreichen.

Zu viele „missed opportunities“

Erreichbarkeit ist ein wichtiges Stichwort, wenn es um Impfhürden im System geht, ein anderes lautet „missed opportunities“. Wichmann vom RKI beschreibt exemplarisch eine solche verpasste Gelegenheit: „Wenn zum Beispiel die Eltern mit dem Kind zum Kinderarzt gehen und dann festgestellt wird, dass sie nicht geimpft sind, dann kann zwar der Kinderarzt häufig impfen, aber nicht abrechnen.“ Vergleichbar ist die Situation, wenn der Gynäkologe feststellt, dass der Ehemann der Patientin keine Keuchhustenimpfung mehr hat. Ob ein so genanntes fachfremdes Impfen erlaubt ist, entscheiden die Kassenärztlichen Vereinigungen.

Es gibt also noch Luft nach oben. „Unser Versorgungssystem muss es noch einfacher machen, geimpft zu werden“, appelliert etwa Prof. Cornelia Betsch, Professorin für Gesundheitskommunikation an der Universität Erfurt (lesen Sie dazu das Interview auf Seite 18). Auf der Ebene der Praxen bedeutet das, Impfen ohne Termin oder Impfsprechstunden am Abend anzubieten. Damit lassen sich Impfwillige besser erreichen als von ihnen zu verlangen, sich gesund und zur Arbeitszeit ins Wartezimmer zu setzen. Als besonders wirksam gelten Erinnerungs- oder Recallsysteme. Lohnenswert ist es sicherlich auch, über eine aktivere Rolle der Betriebsärzte und des Öffentlichen Gesundheitsdienstes (ÖGD) nachzudenken – nach dem Motto: Impfen vor Ort. Beim ÖGD müssten dafür allerdings Infrastrukturen wieder aufgebaut werden, die in der Vergangenheit konsequent kaputt gespart wurden. Noch radikaler wäre es in unserem arztzentrierten System, auch andere Professionen wie Apotheker mit dieser Aufgabe zu betrauen. Solche Vorschläge lösen zwar regelhaft den Widerspruch von Ärztevertretern aus, dennoch plant das Bundesgesundheitsministerium, dass Apotheker künftig die Bevölkerung gegen Influenza impfen dürfen. Das zumindest sieht ein Gesetzentwurf des Ministeriums zur Stärkung der Apotheke vor Ort vor (siehe Infokasten links unten).

Impfpflicht als ultima ratio

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Vieles spricht dafür, eine Impfpflicht erst als ultima ratio zu installieren. Zuvor sollten alle Anstrengungen darauf verwendet werden, das System tatsächlich impffreundlich zu gestalten. Hinzu kommt, dass eine solche Pflicht einen erheblichen Eingriff darstellt. Bei der Anhörung des Ethikrates wird der Vorsitzende des Gremiums, Prof. Peter Dabrock, grundsätzlich. Eine Impfpflicht tangiere im freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat hohe Rechtsgüter: das Persönlichkeitsrecht, das Recht auf die Integrität von Leib und Leben, aber auch die Erwartung an den Staat, Leib und Leben gegen unnötige und effektiv beherrschbare Gefahren zu schützen. „Welche wie eingriffstiefen Mittel darf der Staat einsetzen“, fragt der Theologe.

Akzeptanz nimmt bei Verpflichtung ab

Man kann es sich leicht machen und solche Überlegungen rasch abtun – wie jüngst in einem großen Artikel des „Spiegel“ geschehen. Doch selbst dann muss sich die Politik mit den unbeabsichtigten Nebenwirkungen einer solchen Verpflichtung auseinandersetzen. Studien belegen, dass bei verpflichtenden Impfungen die Akzeptanz für andere Impfungen abnimmt – das wäre eine fatale Entwicklung. Auch warnen Forscher, dass man womöglich das Mittelfeld verliert: jene Personen, die dem Impfen gegenüber zwar nicht unbedingt abgeneigt sind, vielleicht skeptisch denken, aber einem staatlichen Mandat sehr wohl abgeneigt wären. Es gilt daher sehr genau zu überlegen, welche Impfungen eine Pflicht künftig umfassen soll. Wie sieht es mit Strafen oder mit Incentivierungen aus? In Australien etwa gilt die Devise: „No Vaccination, No Pay“, dort sind Sozialleistungen an die Impfung gekoppelt. Wollen wir das hierzulande? Und soll es Ausnahmen geben – wenn ja, für welche Personenkreise?

Niedrige Impfrate wegen Vertrauensmangel?

Bei der Anhörung des Ethikrates wird deutlich: Ein Standardvorgehen für eine Impfpflicht gibt es nicht. Welches der beste Ansatz ist, darüber lässt sich trefflich streiten. Vor diesem Hintergrund sind die Ausführungen der Politologin Dr. Katharina Paul, Universität Wien, bedenkenswert. Sie führt das Ablehnen von Impfungen auf ein Infragestellen staatlicher Autorität, auf einen Vertrauensmangel gegenüber den Institutionen und der Industrie zurück. Ist diese Diagnose zutreffend, so muss bezweifelt werden, ob Zwang der richtige Weg ist, um Vertrauen zu gewinnen.

 

In den USA und anderen Ländern bereits heute möglich: Die Grippeimpfung in der Apotheke. © iStock.com, fstop123

IMPFEN – WEITERE INITIATIVEN DER REGIERUNG
Neben der Diskussion über eine mögliche Impfpflicht ist die Regierung auch anderweitig aktiv: Das Bundesministerium für Gesundheit will es Apothekern künftig ermöglichen, Grippeimpfungen vorzunehmen. Der Referentenentwurf zum „Gesetz zur Stärkung der Vor-Ort-Apotheken“ sieht regionale Modellprojekte mit fünfjähriger Laufzeit vor, für die Apotheker mit den Krankenkassen Verträge abschließen können. Außerdem müssen sie sich vorher ärztlich schulen lassen. Das kürzlich verabschiedete Terminservice- und Versorgungsgesetz schiebt Exklusivverträgen mit einzelnen Herstellern über saisonale Grippeimpfstoffe den Riegel vor. Die Apothekenvergütung wird neu geregelt. Das Gesetz enthält auch für Praxen in Bezug auf die Wirtschaftlichkeit bei der Verordnung saisonaler Grippeimpfstoffe eine wichtige Nachricht: Eine angemessene Überschreitung der Bestellmenge gegenüber den tatsächlich erbrachten Impfungen gilt grundsätzlich nicht als unwirtschaftlich. Unterdessen hat Brandenburg eine Masern-Impfpflicht für Kinder in Kitas beschlossen.

 

Gründe für die Impfentscheidung: das 5C-Modell

Das so genannte 5C-Modell beschreibt die wesentlichen psychologischen Gründe der Impfentscheidung

  1. Confidence beschreibt das Ausmaß an Vertrauen in die Effektivität und Sicherheit von Impfungen, das Gesundheitssystem und die Motive der Entscheidungsträger.
  2. Complacency beschreibt die Wahrnehmung von Krankheitsrisiken und ob Impfungen als notwendig angesehen werden.
  3. Constraints (auch Convenience) beschreibt das Ausmaß wahrgenommener struktureller Hürden wie Stress, Zeitnot oder Aufwand.
  4. Calculation erfasst das Ausmaß aktiver Informationssuche und bewusster Evaluation von Nutzen und Risiken von Impfungen.
  5. Collective Responsibility beschreibt das Ausmaß prosozialer Motivation, durch die eigene Impfung zur Reduzierung der Krankheitsübertragung beizutragen, und damit andere indirekt zu schützen, zum Beispiel kleine Kinder oder Kranke.

 

Die Tabelle ist einem Aufsatz von Prof. Cornelia Betsch u.a. im Deutschen Ärzteblatt (Jg. 116 / Heft 11 / 15. März 2019) entnommen.

„Höchste Zeit“: die HPV-Impfung für Jungen

Berlin (pag) – Die Ständige Impfkommission (STIKO) empfiehlt, ab Ende August auch Jungen im Alter zwischen neun und 14 Jahren gegen humane Papillomviren (HPV) zu impfen. Für überfällig halten viele Experten diesen Schritt. Warum hat es so lange gedauert?

HPV-Impfung: Derzeit sind die Impfraten „ernüchternd“, beklagen Experten. Ob das bei Jungen anders wird? © iStock.com, pinstock

„Das wurde auch höchste Zeit“, sagt Medizin-Nobelpreisträger Harald zur Hausen, einer der Wegbereiter der HPV-Impfung. Seit Langem gebe es zwingende Gründe, auch Jungen gegen HPV zu impfen. Männer seien wegen ihrer häufigeren Sexualkontakte die wichtigsten Verbreiter der Infektion. Eine Erstattung durch die Kassen hält zur Hausen für essenziell, um eine Herdenimmunität zu erreichen. Etwa 85 Prozent aller Jugendlichen müssten geimpft sein, um die Infektionskette zu durchbrechen, sagt er gegenüber dem Deutschen Krebsforschungszentrum.

Von diesem Ziel sei Deutschland allerdings meilenweit entfernt. „Ernüchternd“ nennt Prof. Catharina Maulbecker-Armstrong, TH Mittelhessen und Beirätin der Hessischen Krebsgesellschaft, die derzeitigen Impfraten. Obwohl die HPV-Impfung für Mädchen seit zehn Jahren von den Kassen bezahlt wird, sind laut Robert Koch-Institut nur 31 Prozent der 15-Jährigen und 43 Prozent der 17-Jährigen geimpft. In Australien liegt die Rate bei über 80 Prozent. Die Ursachen dafür sind vielfältig: Impfskepsis, Berichte über Nebenwirkungen und das Tabuthema Sexualität spielen eine Rolle. Auch das Manifest der 13 Wissenschaftler, die 2008 die Empfehlung für die Impfung wegen „Unsicherheiten in der Datenlage“ kritisierten, wabere immer noch durch die Presse, sagt Maulbecker-Armstrong auf dem Krebskongress. „Ich weiß nicht, ob diese Wissenschaftler die Position von damals noch vertreten würden“, die Studienlage habe sich wesentlich geändert.

Die Erklärung der STIKO

Einer der Mitinitiatoren des Manifestes ist Prof. Ansgar Gerhardus, Uni Bremen. Der Mediziner teilt gegenüber Gerechte Gesundheit mit, dass er sich in den letzten Jahren nicht intensiv genug mit der Impfung beschäftigt habe, um eine „ausreichend fundierte Einordnung der neuen Entwicklungen vornehmen zu können“. Prof. Wolf-Dieter Ludwig, Vorsitzender der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft und ebenfalls Mitunter-zeichner des Manifestes, denkt heute, „dass die inzwischen vorliegenden Daten aus diversen Studien die Impfung bei jungen Mädchen rechtfertigen“. Allerdings werde man erst in einigen Jahren wissen, ob dadurch das Auftreten von Zervixkarzinomen deutlich gesenkt werden kann. Die Preise für die Impfstoffe seien weiterhin zu hoch. Über die Impfung für Jungen habe er sich noch keine abschließende Meinung gebildet.

Zu spekulieren ist, ob die Preise bzw. die Kosten dafür verantwortlich sind, dass die Kassen das Thema erst entdecken und für PR-Zwecke nutzen, als die Empfehlung ins Haus steht. Obwohl der HPV-Impfschutz für Jungen schon seit Jahren von Wissenschaftlern und auch von ärztlichen Gesellschaften wie etwa den Urologen gefordert wird, hat die STIKO jetzt erst die Immunisierung empfohlen. Die Erklärung: Die Ausweitung der Zulassung auf die Indikation Analkarzinom und entsprechende Krebsvorstufen sei 2014 bzw. 2016 erfolgt. Erst danach habe man sich mit der Empfehlung befassen können, die wegen Literaturrecherchen und mathematischer Modelle mehr als zwei Jahre gedauert habe.

Impfen: Grippe, unterschätze Todesfälle und regionale Unterschiede

Berlin (pag) – Das Thema Impfen hat in jüngster Zeit für einige Schlagzeilen gesorgt: Dazu gehört die Nachricht, dass die Anzahl der jährlichen masernassoziierten Todesfälle deutlich unterschätzt wird, vor allem bei Kindern. Zudem hat die Ständige Impfkommission (STIKO) ihre Empfehlungen zur Impfung gegen saisonale Influenza aktualisiert.

Die STIKO rät zu einem quadrivalenten Influenza-Impfstoff mit aktueller, von der Weltgesundheitsorganisation empfohlener Antigenkombination. Sie weist darauf hin, dass bei der Entscheidungsfindung auch eine Stellungnahme des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) berücksichtigt wurde. Dieser entscheidet in den kommenden Monaten darüber, ob der Vierfach-Impfstofftyp Pflichtleistung in der gesetzlichen Krankenversicherung wird. Einzelne Kassen werben bereits mit der Kostenübernahme, die Ärztekammer Sachsen-Anhalt kritisiert wiederum die dreimonatige Zustimmungsfrist des G-BA: Das Zeitfenster für eine Grippeimpfung sei dann verstrichen. Die noch laufenden Rabattverträge machen die Angelegenheit noch unübersichtlicher.

Zu geringe Impfquoten bei medizinischem Personal

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In der ersten Ausgabe 2018 des epidemiologischen Bulletins problematisiert das Robert Koch-Institut (RKI) für einzelne Impfungen eine „erhebliche Varianz auf regionaler Ebene“. Die Influenza-Impfquote (Saison 2016/17) beträgt bei den 60-Jährigen und Älteren in den alten Bundesländern 29,8 Prozent, in den neuen Bundesländern liegt die Quote mit 50,9 Prozent erheblich höher. Ähnlich sieht es bei der Impfung gegen humane Papillomviren aus. Die Quote liegt in den alten Bundesländern bei 29,1 Prozent, in den neuen bei 46,2 Prozent. Im vergangenen Jahr hat das RKI auch die Influenza-Impfquoten beim Medizinpersonal als zu niedrig kritisiert. Eine in zwei Universitätskliniken durchgeführte Pilotstudie ergab, dass nur knapp 40 Prozent der Klinikmitarbeiter geimpft waren – 56 Prozent der Ärzte, 34 Prozent des Pflegepersonals und 27 Prozent in den therapeutischen Berufen.
Bei einer Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der FDP-Fraktion stehen dagegen insbesondere Masern im Mittelpunkt. Demnach wird die Anzahl der jährlichen mit der Krankheit assoziierten Todesfälle insbesondere bei Kindern deutlich unterschätzt.
Der Grund: Die Statistik berücksichtige nicht jene Kinder, die an einer masern-assoziierten subakuten sklerosierenden Panenzephalitis (SSPE) sterben. Dabei handelt es sich um eine Erkrankung des Gehirns, die Jahre nach der Maserninfektion vor allem bei solchen Kindern auftritt, die zum Zeitpunkt der Erkrankung besonders jung waren. Eine Impfpflicht lehnt die Regierung weiterhin ab. Anders sieht es in Frankreich aus: Dort wurde diese für die Jüngsten deutlich ausgeweitet. Vom 1. Januar an geborene Kinder müssen in den ersten zwei Lebensjahren gegen elf Krankheiten geimpft werden, darunter Keuchhusten, Masern, Röteln und Hepatitis B.

 

Weiterführende Links:

Antwort der Bundesregierung (Drucksache 19/320) „Defizite bei Impfquoten“ – http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/003/1900320.pdf

Epidemiologisches Bulletin, 4. Januar 2018 / Nr.1 – http://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Archiv/2018/Ausgaben/01_18.pdf?__blob=publicationFile

Wissenschaftliche Begründung für die Empfehlung des quadrivalenten saisonalen Influenzaimpfstoffs – http://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Archiv/2018/Ausgaben/02_18.pdf?__blob=publicationFile