Heilendes Kapital

Berlin (pag) – Die Private Krankenversicherung (PKV) startet mit „Heal Capital 2“ die zweite Runde ihres Wagniskapitalfonds für digitale Gesundheitsinnovationen. Rund 100 Millionen Euro sollen investiert werden. Laut dem Direktor des PKV-Verbandes, Dr. Florian Reuther, soll es ein Fonds der gesamten Gesundheitswirtschaft werden.

„Heal Capital 2“ soll ein Fond der gesamten Gesundheitswirtschaft werden, so PKV-Verbandschef Dr. Florian Reuther © © iStock, sorbetto
„Heal Capital 2“ soll ein Fond der gesamten Gesundheitswirtschaft werden, so PKV-Verbandschef Dr. Florian Reuther © © iStock, sorbetto

Anders als beim Vorgänger sind bei „Heal Capital 2“ neben der PKV auch weitere Investoren wie der European Investment Fund (EIF) beteiligt. Die PKV will ihre Rolle als „Innovationsmotor“ ausspielen. Man unterstütze Start-ups, die in einer frühen Phase am Markt seien. „Diese werden nicht nur mit Kapital ausgestattet. Sie erhalten Know-how beim Zugang in die klinische Versorgung und bei Fragen der Erstattung“, betont Reuther den „einzigartigen“ Charakter des Fonds. „Heal Capital 1“ prüft seit 2019 über 5.000, vor allem europäische Start-ups aus Diagnostik, Therapie oder Infrastruktur. Der Aufbau des ersten Fonds ist mittlerweile abgeschlossen. Er wird wohl rund 25 Unternehmen fördern und eine Größe von 150 Millionen Euro erreichen. Mit „Heal Capital 2“ startet jetzt eine neue Förderrunde.

Die Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesfinanzministerium, Katja Hessel (FDP), lobt den Vorstoß: „Wir brauchen Wagniskapital für die digitale Gesundheitsversorgung.“ Es brauche bessere Rahmenbedingungen für den Einsatz von privatem Kapital, um Investitionen zu fördern. Johannes Virkkunen, Bereichsleiter Life-Science
und Healthcare beim EIF, erläutert: „Wir sehen in Europa eine sehr hochwertige Wissenschaft mit vielen Talenten und einer ähnlichen Zahl an Veröffentlichungen und Patenten wie in den USA.“ Trotzdem werde vier bis fünfmal weniger in die Kommerzialisierung von Innovationen im Gesundheitsbereich investiert. Die bayerische Gesundheits- und Digitalministerin Judith Gerlach (CSU) ergänzt, dass die Refinanzierung letztlich durch Gelder der Krankenkassen erst am Ende einer für Start-up-Verhältnisse langen Reise stehe. Aber auch das Ökosystem um die Gründer müsse stimmen: „Es geht eben nicht nur um Geld, sondern auch oft einfach darum, überhaupt erst Zugang zum Markt zu bekommen.“

Zi informiert über DiGA

Mit digitalen Gesundheitsinnovationen setzt sich auch das Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung (Zi) auseinander. Es hat sein Informationsportal kvappradar zu Gesundheits-Apps um zwei weitere Gutachten zu Digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA) erweitert. Unter www.kvappradar.de stehen wissenschaftliche Bewertungen der beiden DiGA „HelloBetter Stress und Burnout“ und „Selfapys Online-Kurs bei Depression“ zum Abruf bereit. Gegenstand der Begutachtung sind unter anderem Wirkevidenz und Versorgungsbedarf. Das Informationsportal ist seit Dezember 2021 online. Im Unterschied zu App-Stores bietet das Zi dort unter anderem Informationen, ob eine App ein Medizinprodukt ist und wie häufig die referenzierten Diagnosen vorkommen beziehungsweise welche Kriterien für die Diagnosevergabe zugrunde gelegt werden.

Aktuell verfügt die Datenbank über 3.400 Gesundheits-Apps, die mehrheitlich aus der Gesundheitsförderung und Prävention stammen. Darunter befinden sich auch alle 64 derzeit im offiziellen DiGA-Verzeichnis des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) gelisteten Digitalen Gesundheitsanwendungen.

Plädoyer für regionalen Kollektivvertrag


Berlin (pag) – Der Transfer erfolgreicher Projekte des Innovationsfonds in die Regelversorgung ist holprig. Das Deutsche Netzwerk Versorgungsforschung (DNVF) vermisst „klare rechtliche Regelungen für die Zulassung innovativer Versorgungsmodelle“. In einem Positionspapier unterbreiten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mehrere Reformvorschläge. Dazu gehören regionale Kollektivverträge.

Das Positionspapier gibt Empfehlungen, wie das Regelungsdefizit beim Transfer Neuer Versorgungsformen (NVF) in die Regelversorgung überwunden werden kann. Dem DNVF zufolge liegt das Kernproblem des Fonds in dem nicht ausreichend definierten und strukturierten Prozess des Übergangs von erfolgreich evaluierten innovativen Versorgungsmodellen in die Regelversorgung. Der Innovationsausschuss sollte einen weitergehenden gesetzlichen Auftrag erhalten, die Umsetzung der Ergebnisse der Rückmeldungen zu moderieren und weiter zu verfolgen, heißt es. Das gegenwärtige Regelungsdefizit limitiere den Erfolg des Fonds und gefährde langfristig die Umsetzung von dringend notwendigen Verbesserungen im Gesundheitssystem.

Was bedeutet Regelversorgung?

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Derzeit seien Selektivverträge das Ziel von Innovationsfondsprojekten. „Selektivverträge sind jedoch ein Instrument des Wettbewerbs zwischen Krankenkassen und daher nach unserer Auffassung nicht das, was mit Regelversorgung gemeint sein sollte“, so die Forscher. Sie plädieren für die Übernahme erfolgreicher NVF-Projekte in den Kollektivvertrag. Aber: Bei einer starken regionalen Dimension oder noch nicht ausreichender Evidenz könnten die Projekte zunächst regional implementiert werden. Die derzeitige Selektivvertragsregelung sollte daher zu einem „regionalen Kollektivvertrag“ weiterentwickelt werden. Die Idee: ein Kontrahierungszwang für alle Krankenkassen, „sofern mindestens zwei Krankenkassen, die zusammen mindestens 40 Prozent der Versicherten repräsentieren, einer Überführung der NVF in die (regionale) Regelversorgung zustimmen“. Dabei müssten die zum Teil erheblichen Unterschiede zwischen den Kassen angemessen berücksichtigt werden. Ein solcher regionaler Kollektivertrag habe unter anderem folgende Aspekte zu regeln: Zu-gänglichkeit, Regionalität – im Sinne von Gesundheitsregionen – und Auswirkungen auf die Finanzierung der Krankenkassen, sprich Zu- und Abschläge. Ein „regionaler Transfer“ ist aus Sicht des Forschungsnetzwerks ein guter Zwischenschritt vor der Übernahme der NVF in die bundesweite Regelversorgung im Sinne eines Kollektivvertrags. Damit der Transfer auch reibungslos klappt, regen die Forscher an, bei positiver Empfehlung mit Beendigung des Projektes eine weitere Förderung einer Implementierungsphase zu ermöglichen.

Dadurch sollen konkrete Fragestellungen mit Bedeutung für den Transfer angemessen untersucht und beantwortet werden können.

Link zum Positionspapier

Lindemann C, Schunk M, Keßler L et al. Verbessert der Innovationsfonds die Versorgung? Eine kritische Bestandsaufnahme zum Stand der Implementierung erfolgreicher Innovationsfondsprojekte in die Versorgungspraxis. PDF, 21 Seiten

Alzheimer: Fortschritt als Stresstest

Berlin (pag) – Die Zahl der Alzheimerpatientinnen und -patienten nimmt zu, gleichzeitig werden innovative Therapien erwartet, die eine besondere Betreuung der Betroffenen erforderlich machen. Ärzteorganisationen sehen dringenden politischen Handlungsbedarf und vermissen eine gesellschaftliche Debatte zu den bevorstehenden Kosten.

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Die Therapiekosten seien hoch, ebenso die Anzahl derjenigen, die für diese Behandlungen infrage kommen, prognostiziert die Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN). Damit die Patienten von den Therapien profitieren, müsse die Behandlung so früh wie möglich einsetzen. Bei den ersten kognitiven Einschränkungen sei zu klären, ob tatsächlich Alzheimer zugrunde liege. Hierfür sei eine spezialisierte Diagnostik einschließlich Nervenwasser-Untersuchung erforderlich. Zwar rechtfertigten sogenannte Lumbalpunktionen keine stationäre Aufnahme, andererseits werden sie nicht flächendeckend in den Facharztpraxen angeboten, erläutert die Fachgesellschaft. Nach der Diagnostik warten weitere Herausforderungen: eine umfassende Patientenaufklärung über die Therapien, und die spezialärztlich überwachte Infusion der Medikamente. Die DGN sieht Diagnostik und Therapie als „Stresstest“ für die ambulanten neurologischen Versorgungsstrukturen – und zwar qualitativ und quantitativ. Bei Zulassung der neuen Alzheimer-Medikamente werden nicht nur ausreichend viele Infusionsplätze in Ambulanzen, Praxen und MVZs benötigt, „sondern auch speziell geschultes und ausgebildetes Personal sowie ein entsprechendes Frühdiagnostik-Angebot mit den dafür notwendigen Labor- und Bildgebungskapazitäten“, führt DGN-Generalsekretär Prof. Peter Berlit aus. Für Dr. Klaus Gehring, Vorsitzender des Berufsverbands Deutscher Nervenärzte (BVDN), wird zukünftig eine große Herausforderung, „all diese Menschen auch in der Fläche gut zu versorgen“.

Bezahlbarkeit sicherstellen

Die Deutsche Alzheimer Gesellschaft schätzt die Zahl der Demenz-Neuerkrankungen pro Jahr auf über 430.000 Fälle, etwa bei drei Vierteln aller Fälle liegt eine Alzheimer-Erkrankung zugrunde. Eine wissenschaftliche Arbeit aus 2023 rechnet vor, dass für eine Therapie mit dem Antikörper Lecanemab in 27 europäischen Ländern insgesamt 5,4 Millionen Patientinnen und Patienten infrage kommen, was zu jährlichen Therapiekosten in Höhe von 133 Milliarden Euro führen würde. Die jährlichen Therapiekosten pro Patientin/Patient werden auf knapp 25.000 Euro beziffert. In Abhängigkeit von der Zahl behandelter Patientinnen und Patienten pro Jahr würden Alzheimer-Therapeutika rasch Rang eins der verordnungsstärksten Arzneimittelgruppe belegen und noch vor den Ausgaben für Krebsmedikamente liegen. Hinzu kämen die erforderlichen Investitionen in die Versorgungsstruktur. Die DGN und die Berufsverbände sind sich daher einig: „Das sind Ausgaben, die gesamtgesellschaftlich konsentiert sein müssen und es fehlt eine öffentliche Debatte zu diesem wichtigen Thema.“ Sie sehen die Gesundheitspolitik in der Pflicht, denn es müsse geklärt werden, wie die Versorgung in der Fläche und die Bezahlbarkeit sicher gestellt werden können.

„Blended Intelligence“ als Goldstandard

Prof. Alena Buyx über KI in der ärztlichen Versorgung

Berlin (pag) – Die Ethikratsvorsitzende Prof. Alena Buyx ist zuversichtlich, dass in der Medizin die Integration von KI gut gelingen wird. Dennoch sei strategisches Nachdenken darüber notwendig, was Ärztinnen und Ärzte wirklich an Künstlicher Intelligenz benötigen. Bedarf sieht sie vor allem bei administrativ entlastenden Algorithmen.

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Revolutioniert der Einsatz künstlicher Intelligenz in der Medizin den Beruf des Arztes und der Ärztin?

Buyx: Im Augenblick gibt es erste Anwendungen, die bereits ziemlich stark in genuin ärztliche Tätigkeiten eingreifen. Einige funktionieren gut, vieles davon ist aber noch gar nicht in der Praxis angekommen, sondern noch experimentell. Das Wichtigste wäre meiner Ansicht nach aber, dass KI die Ärztinnen und Ärzte – und das gilt für die anderen Medizinberufe auch – von administrativen Verpflichtungen entlasten könnte. Es ginge somit darum, Algorithmen in der Klinik einzuführen, die administrativ wirklich mithelfen und nicht so sehr ins Zentrum der ärztlichen Tätigkeit hineingehen.

Aber die bereits existierenden Beispiele kommen eher aus dem bildgebenden Bereich. Bürokratie scheint noch ein Nischenthema zu sein, oder?

Buyx: Ja, davon gibt es zu wenig, wie ich finde. Bei der Befundung von Röntgenbildern bewegt man sich zum Beispiel in einer originär ärztlichen Tätigkeit. Gleichzeitig beklagen die Kolleginnen und Kollegen völlig zu Recht, dass die vielen, vielen administrativen Tätigkeiten sie davon abhalten, die Patienten und Patientinnen optimal zu versorgen. Noch dazu sind sie für die Administration ja eigentlich nicht ausgebildet. Es ist somit an der Zeit, strategischer darüber nachzudenken, was die Kolleginnen und Kollegen wirklich an Künstlicher Intelligenz benötigen.

Kennen Sie ein Beispiel, welches diese Bedürfnisse mitdenkt?

Buyx: Am Bayerischen Forschungsinstitut für digitale Transformation werden Algorithmen für die Pflegedokumentation auf Palliativstationen entwickelt.

Aber auch im psychotherapeutischen Bereich gibt es mittlerweile KI-Anwendungen, was ja auf den ersten Blick etwas überraschend ist.

Buyx: Ich finde es durchaus erstaunlich, dass so etwas sogar halbwegs funktioniert. Einen therapeutischen Chatbot zu haben, ist immerhin besser als gar nichts. Die Wartezeiten für Psychotherapien sind relativ lang. Außerdem sind Personen, die einen therapeutischen Bedarf haben, oft zurückhaltend und kommen erst spät in die Praxis. Chatbots, mit denen auch morgens um drei Uhr interagiert werden kann, ohne dass jemand etwas davon mitbekommt und ohne dass ein Antrag bei der Krankenkasse gestellt werden muss, können ein Einstiegsinstrument sein. In seiner Stellungnahme macht der Ethikrat aber sehr deutlich, dass solche Angebote nur Hilfsinstrumente sein können, um die Menschen überhaupt in die Nähe eines therapeutischen Geschehens zu bringen. In den USA gibt es Kliniken, die ihren Patientinnen und Patienten ausschließlich diese Art von Therapie anbieten, das ist problematisch.

Wenn wir über Hilfsinstrumente oder Dokumentationsassistenten sprechen, klingt das so, als ob die große KI-Revolution in der Medizin erst einmal ausbleibt.

Buyx: Die meisten Expertinnen und Experten gehen davon aus, dass der Goldstandard auf sehr lange Zeit die sogenannte „Blended Intelligence“ sein wird. Das bedeutet: Menschen benutzen künstlich intelligente Instrumente und setzen sie klug ein.

Aber wie kann sichergestellt werden, dass Ärztinnen und Ärzte in der Letztverantwortung bleiben?

Buyx: Es muss eben immer einen Weg geben. Das wird je nach Anwendung unterschiedlich aussehen, aber allen muss gemein sein, den „human in the loop“ zu behalten: keine vollautomatisierten Entscheidungen, ohne dass die Möglichkeit besteht, dass Menschen diese überprüfen. Zwar können einzelne Aspekte einer Aufgabe an Algorithmen delegiert werden, aber das therapeutische Gesamtgeschehen ist nicht abzugeben. Es muss weiterhin in ärztlicher Hand bleiben, das sagen wir ganz klar.

Dafür dürfte sich der Standard in der Chirurgie grundlegend von dem in der Psychotherapie unterscheiden.

Buyx: Es ist ganz wichtig, sich das im Einzelnen wirklich anzugucken. Das ist einerseits ein ziemlich dickes Brett. Auf der anderen Seite werden bei den DIGAs auch die Anwendungen für sich überprüft. Das ist keine Hexerei. Und auch andere Medizintechnologien werden einzeln getestet. Ebenso wenig wie man diese alle über einen Kamm scheren würde, darf man es jetzt auch nicht mit den Anwendungen machen, die auf maschinellem Lernen beruhen.

Würden Sie vor allem die medizinischen Fachgesellschaften in der Pflicht sehen?

Buyx: Diese sollten unbedingt beteiligt sein, damit die ärztliche Expertise in die Entwicklung eingebracht wird. Und selbstverständlich müssen die Programmiererinnen und Programmierer dabei sein. Idealerweise sollten auch Personen an Bord sein, die darauf achten, dass die ethischen und regulatorischen Standards eingehalten werden. Viele Forschungsprojekte setzen das bereits um. Insofern fangen wir nicht bei null an, ganz im Gegenteil: Das läuft bereits seit Jahren. Deswegen bin ich auch zuversichtlich, dass uns in der Medizin die Integration von KI gut gelingen wird. Technologien, die auch mit Risiken behaftet sind, werden schließlich nicht zum ersten Mal aufgenommen. Die Medizin ist technikaffin. Wenn die Ärztinnen und Ärzte die Hand darauf halten, wird es nicht zu irgendeiner Revolution kommen.

Aber in der Ausbildung ist das Thema noch nicht abgebildet, oder?

Buyx: Davon sind wir noch ein ganzes Stück entfernt. Aber mir erscheint die fachärztliche Weiterbildung noch wichtiger: Jedes Fach muss sich auf den Hosenboden setzen und prüfen, wie die Weiterbildungsordnung anzupassen ist. 

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Zur Person
Die Medizinerin Prof. Alena Buyx ist Vorsitzende des Deutschen Ethikrates, der im vergangenen Jahr eine rund 400 Seiten lange Stellungnahme zu „Mensch und Maschine – Herausforderung durch Künstliche Intelligenz“ veröffentlicht hat. Seit 2018 ist sie Direktorin des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin sowie Professorin für Ethik der Medizin und Gesundheitstechnologien an der Medizinischen Fakultät der Technischen Universität München.
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Menschen treffen bessere Entscheidungen als KI

Berlin (pag) – Um Patientinnen und Patienten eine auf ihre Erkrankung zugeschnittene, personalisierte Krebstherapie anbieten zu können, ist eine aufwändige Analyse und Interpretation verschiedener Daten nötig. Forscher der Charité und der Humboldt-Universität zu Berlin haben untersucht, ob generative Künstliche Intelligenz (KI) wie ChatGPT dabei unterstützen kann.

Die Studie untersucht Chancen und Grenzen von Large Language Models wie ChatGPT bei der automatisierten Sichtung der wissenschaftlichen Literatur für die Auswahl einer personalisierten Therapie. Die Modelle haben personalisierte Therapieoptionen für fiktive Patienten erstellt, die dann mit den Empfehlungen von Experten verglichen wurden, erläutert Charité-Arzt Dr. Damian Rieke. Sein Fazit: „Künstliche Intelligenzen waren prinzipiell in der Lage personalisierte Therapieoptionen zu identifizieren – kamen aber an die Fähigkeit menschlicher Expertinnen und Experten nicht heran.“

Fiktive Patienten

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Für das Experiment hat das Team zehn molekulare Tumorprofile fiktiver Patienten erstellt. Die Therapieempfehlungen eines spezialisierten Arztes und von vier Large Language Models wurden den Mitgliedern eines molekularen Tumorboards zur Bewertung präsentiert – ohne dass diese wussten, woher eine Empfehlung stammt. „Vereinzelt gab es überraschend gute Therapieoptionen, die durch die künstliche Intelligenz identifiziert wurden“, berichtet die Bioinformatikerin Dr. Manuela Benary. Die Performance von Large Language Models sei allerdings deutlich schlechter als die menschlicher Experten.
Dennoch sieht Rieke die Einsatzmöglichkeiten von KI in der Medizin grundsätzlich optimistisch. Man habe mit der Studie auch zeigen können, dass sich die Leistung der KI-Modelle mit neueren Modellen weiter verbessert. „Das könnte bedeuten, dass KI künftig auch bei komplexen Diagnose- und Therapieprozessen stärker unterstützen kann – so lange Menschen die Ergebnisse der KI kontrollieren und letztlich über Therapien entscheiden.“
Die Studie wurde hauptsächlich durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), die Deutsche Krebshilfe und den Innovationsfonds des gemeinsamen Bundesausschusses gefördert.

„Kurskorrektur war höchste Eisenbahn“

Wie Dr. Hagen Pfundner die Pharmastrategie der Bundesregierung bewertet

Berlin (pag) – Lange hat die Industrie auf die Pharmastrategie der Bundesregierung gewartet, Ende 2023 stellt sie der Bundesgesundheitsminister endlich vor. Wird damit eine Renaissance der Reindustrialisierung eingeleitet? Dr. Hagen Pfundner, Vorstandsvorsitzender Roche Pharma, bezieht im Interview Stellung und verrät, welche Pläne er skeptisch sieht.

Wird das Ruder gerade noch rechtzeitig herumgerissen? Bei dieser historischen Zeichnung aus Großbritannien scheint die Lage noch unklar zu sein. Ähnlich sieht es momentan am Pharmastandort Deutschland aus. Den Referentenentwurf des Medizinforschungsgesetzes beurteilt die pharmazeutische Industrie verhalten.
© iStockphoto.com, ilbusca; Ilustration: Tempest

Mit der Pharmastrategie und dem geplanten Medizinforschungsgesetz will Prof. Karl Lauterbach eine Reindustrialisierung in Gang setzen. Höchste Eisenbahn oder ist der Zug schon abgefahren?

Pfundner: Die Pharmastrategie der Bundesregierung ist eine ressortübergreifende Strategie, bei der Bundeskanzleramt, Wirtschafts-, Forschungs- und Gesundheitsministerium intensiv zusammengearbeitet haben. Ja, eine Kurskorrektur und eine Rücknahme der innovationsfeindlichen Entscheidungen aus dem GKV-Finanzstabilisierungsgesetz waren höchste Eisenbahn. Mit der Strategie und dem Bekenntnis, dass die pharmazeutische Industrie ein Schlüsselsektor und eine Leitindustrie der deutschen Volkswirtschaft ist, ist ein erster, wichtiger Schritt getan. Wir wurden als Industrie gehört und unsere Sorgen in Bezug auf eine schleichende Deindustrialisierung wurden ernst genommen.

Aber?

Pfundner: Jetzt müssen Taten folgen. Unsere Branche ist bereit, bei entsprechenden Rahmenbedingungen in Forschung, Entwicklung und Produktion signifikant zu investieren, neue Arbeitsplätze in Deutschland zu schaffen und zur Lieferkettensicherheit beizutragen.

Wie bewerten Sie die Pharmastrategie der Bundesregierung: Welche Pläne überzeugen Sie, was halten Sie eher für halbgar?

Pfundner: Die Pharmastrategie ist für mich ein Beispiel für aktive Industriepolitik der Bundesregierung. Ich begrüße diesen Schritt sehr. Hierfür hat der vom Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck im Jahr 2022 ins Leben gerufene Roundtable „Gesundheitswirtschaft” eine Schlüsselrolle gespielt und ein wichtiges Fundament gelegt. Die Maßnahmen zum Bürokratieabbau, zur Verbesserung der Nutzung von Gesundheitsdaten sowie gezielte strukturelle Anreize für die Forschung und Entwicklung neuer Arzneimittel und die Verbesserung der Arzneimittelliefersicherheit sind wichtige Absichtserklärungen, die man in der Strategie wiederfindet. Es kommt nun auf die konkrete Umsetzung und den Willen aller Beteiligter an. Hier dürfen wir keine Zeit verlieren.

Was sehen Sie kritisch?

Pfundner: Die Pläne, die für mich aktuell noch die größten Fragezeichen aufwerfen, betreffen die Überprüfung der AMNOG-Reform in 2024, den Zeitplan dahinter und das Austausch- und Entscheidungsgremium, in dem die Industrie mitgestalten und mitwirken kann.

Was kann Deutschland von anderen Ländern in Sachen gesundheitsindustrieller Standortpolitik lernen?

Pfundner: Weltweit beobachten wir eine Renaissance der „Reindustrialisierung”. Vor diesem Hintergrund ist die Strategie der Bundesregierung im Sinne einer „modernen” – auch datenbasierten – Reindustrialisierung ein richtiger und notwendiger Weg. Hier können wir durchaus von anderen Ländern lernen, die verstanden haben, dass sich durch verlässliche Rahmenbedingungen und einen heimischen Markt für Innovationen privatwirtschaftlich finanzierte Forschungs- und Produktionskapazitäten in Zukunft weiter ausbauen lassen. Auf der anderen Seite ist die Pharmastrategie der Bundesregierung ein Aktionsplan, der eine große Chance für den Wirtschaftsstandort Deutschland darstellt und bei dem andere Länder aktuell auf uns schauen. Ich freue mich besonders darüber, dass der Dreiklang aus Spitzenforschung, Spitzenversorgung und Spitzenindustrie in der Strategie verankert ist – denn Gesundheitspolitik ist auch Industrie- und Wirtschaftspolitik. Es kommt nun – wie bereits gesagt – auf die Umsetzung an. Nur wenn die Maßnahmen aus dem GKV-Finanzstabilisierungsgesetz vollständig zurückgeführt werden und wir die Zukunftsthemen gemeinsam angehen, können langfristige, privatwirtschaftliche Investitionen in Zukunft in Deutschland – vor dem Hintergrund des internationalen Standortwettbewerbs – stattfinden.

 

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Zur Person
Dr. Hagen Pfundner, Vorstandsvorsitzender der Roche Pharma AG, hat einige Pflöcke für die industrielle Gesundheitswirtschaft eingeschlagen. Von 2011 bis 2016 war er Vorstandsvorsitzender des Pharmaverbandes vfa. Er hat daran mitgewirkt, die Branche auch im Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) sichtbar zu machen. Aus dem anfänglichen Ausschuss für Gesundheitswirtschaft wurde mittlerweile eine Abteilung. Der promovierte Pharmazeut ist zudem als Honorarprofessor an der Uni Freiburg tätig.    © pag, Fiolka

Aufholjagd Digitalisierung

Von Black Boxes, notwendigem Vertrauen und neuen Rollen

Berlin (pag) – Die Digitalisierung des Gesundheitswesens ist ein Megathema dieser Legislatur. Zwei Gesetze hat der Bundestag dazu kürzlich verabschiedet und damit, so betonen viele Politiker, eine wichtige Aufholjagd eingeleitet. Auch die Beschäftigung damit, wie Künstliche Intelligenz (KI) die Medizin und Versorgung verändert, wird immer konkreter. Es ist höchste Zeit.

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Fast alle Abgeordnete, die im Bundestagsplenum vor das Mikrofon treten, sind sich einig: Eine umfassende Digitalisierung des Gesundheitswesens ist überfällig. Von Aufholjagden, Neu- und Durchstarten sowie einer neuen Ära ist die Rede, als kürzlich das Digital-Gesetz und das Gesundheitsdatennutzungsgesetz beraten werden. Der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesgesundheitsministerium, Prof. Edgar Franke (SPD), unterstreicht, dass Forschung, Innovationen und medizinische Versorgung im 21. Jahrhundert ohne eine effektive Gesundheitsdatennutzung kaum mehr möglich seien. Um sich besser gegen Volkskrankheiten wie Krebs, Demenz oder Diabetes zu wappnen, seien Forschung und Gesundheitsdaten nötig. Mit Blick auf den Fachkräftemangel hebt der Politiker hervor, dass die Digitalisierung zwar keine Fachkräfte ersetzen, ihnen aber sehr wohl die Arbeit erleichtern könne. Mit beiden Gesetzen werde die nützliche Digitalisierung im Alltag und die gemeinwohlorientierte Wiederverwendung von Gesundheitsdaten kombiniert – das werde die Versorgung in Deutschland enorm steigern. Franke appelliert: „Es ist überfällig, dass wir in Bezug auf Datennutzung und in Bezug auf Digitalisierung mit diesen Gesetzen eine Aufholjagd beginnen.“

„15 Jahre hinterher“

Wie weit Deutschland beim Digitalrennen zurückliegt, beziffert Dr. Janosch Dahmen (Grüne) ganz konkret: „Wir laufen den Entwicklungen im Schritt 15 Jahre in Europa hinterher.“ Er ist davon überzeugt, dass die Ampel Deutschland mit den beiden Digitalisierungsgesetzen zurück auf die Überholspur bringen werde. Deutschland starte zwar spät, aber dafür wiederhole man keine Fehler, die andere gemacht haben.

Prof. Ferdinand Gerlach © pag, Fiolka

Seine Fraktionskollegin Linda Heitmann hebt – ebenso wie der Unionspolitiker Dr. Georg Kippels – das Vertrauen von Patienten und Versicherten als wesentlichen Erfolgsfaktor für eine erfolgreiche Implementierung der elektronischen Patientenakte (ePA) hervor. Dieses Thema wird in den Anhörungen des Gesundheitsausschusses aufgegriffen – zum Beispiel vom ehemaligen Sachverständigenratsvorsitzenden Prof. Ferdinand Gerlach. Er verbindet mit der ePA neuen Typs, die im Januar 2025 an den Start gehen soll, deutliche Fortschritte bei der Transparenz und der Zugriffskontrolle von Daten. Sie ermögliche, dass Missbrauch überhaupt erst erkannt und verfolgt werden kann. „In Verbindung mit härteren Strafen haben wir das, was international als ‚trust by design‘ bezeichnet wird.“
Außerdem setzt sich Gerlach für eine Aufklärungskampagne ein, die zum einen erklärt, wofür die ePA überhaupt benötigt werde – warum ist zum Beispiel ein Medikationsplan sinnvoll? Zum anderen sollte auch über die Risiken der Nicht-Nutzung aufgeklärt werden: Was bedeutet es, wenn ich die ePA ablehne, Inhalte verschatte oder sogar lösche? Von der Möglichkeit, Daten aus der ePA zu löschen, rät Gerlach dringend ab, das sei unverantwortlich und könnte für Patienten sehr gefährlich sein. Löschungen führten zu einer unvollständigen ePA, damit sei die Integrität und Zuverlässigkeit der Patientenakte zerstört.

Zu viele Black Boxes

Dr. Klaus Reinhardt © pag, Fiolka

Eine bessere Kommunikation zur ePA und dem Teilen von Gesundheitsdaten mahnt auch Patientenvertreterin Birgit Bauer bei einer Tagung der Technologie- und Methodenplattform für die vernetzte medizinische Forschung (TMF) an, die Ende 2023 unter dem Motto „Neustart digitale Gesundheit“ steht. Bauer ist MS-Patientin und hat die Initiative „Data saves lifes“ gegründet. Sie findet, dass dem Informationsbedarf von Patienten und der Bevölkerung bisher nicht gerecht wurde. „Es gibt viele Black Boxes, die nicht geöffnet wurden.“
Bauer ist außerdem davon überzeugt, dass viele Bürger und Patienten offen dafür wären, ihre Gesundheitsdaten zu teilen, wenn man „sie mitnimmt“. Sie plädiert für durchaus kleinteilige Erklärungen, diese könnten einen Prozess des Umdenkens auslösen und weniger empfänglich für Totschlagargumente machen. In der Pflicht sieht die Patientin sowohl Krankenkassen, Ärzte als auch die Bundesregierung. Wichtig ist ihr ein gemeinschaftlicher Kommunikationsansatz, sie warnt dafür, nur innerhalb der „eigenen Silos“ zu agieren.
Der Bogen, den die TMF auf ihrer Tagung zur digitalen Gesundheit spannt, ist weit: von der ePA, dem e-Rezept und der Telematikinfrastruktur, über Medizinische Informationsobjekte, kurz MIO, bis hin zur Künstlichen Intelligenz. Über letzteres diskutiert die Vorsitzende des Ethikrats, Prof. Alena Buyx, mit weiteren Experten. Sie hebt unter anderem hervor, dass Ärztinnen und Ärzte beim KI-Einsatz stets in der Letztverantwortung bleiben müssten (lesen Sie hierzu das Interview „Das therapeutische Gesamtgeschehen ist nicht abzugeben“).

Ärztliche Kunst und KI

Die Brisanz des Themas KI hat auch die Bundesärztekammer (BÄK) erkannt. Sie hat diesem kürzlich eine eigene Veranstaltung gewidmet. Dass ärztliche Kunst und künstliche Intelligenz keine Gegensätze darstellen – „ganz im Gegenteil“ – ist BÄK-Präsident Dr. Klaus Reinhardt ein wichtiges Anliegen. Angesichts der zahlreichen Einsatzorte, an denen KI in Zukunft genutzt werden kann, ist er davon überzeugt, dass diese technologische Entwicklung das Potenzial habe, die Versorgungsablaufe in unserem Gesundheitswesen zu verändern. KI könnte zu einer neuen Arbeitsteilung zwischen den Professionen führen und sie werde möglicherweise etablierte Rollen der Beteiligten wie Kostenträger, Ärzteschaft und Patienten infrage stellen.
Reinhardt erwartet außerdem, dass mit der KI gänzlich neue Akteure wie globale IT-Unternehmen in das Versorgungsgeschehen eingreifen. Nicht zuletzt deshalb mahnt er, die ethischen Dimensionen dieser Entwicklung nicht aus dem Blick verlieren. „Die Nutzung von KI-Technologien erfordert eine sorgfältige Abwägung insbesondere von Datenschutz und Sicherheit und auch Verantwortlichkeit.“ Sichergestellt werden müsse, dass der Schutz der Privatsphäre und der Patientendaten stets gewährleistet ist. Nach Reinhardts Auffassung ist außerdem wesentlich, dass die den automatisierten KI-Systemen zugrundeliegenden Entscheidungsalgorithmen transparent und erkennbar sind und – auch ethisch – bewertet werden können. Abschließend appelliert er: „Die Anwendung von KI-Systemen darf nicht die individuelle menschliche ärztliche Zuwendung beeinträchtigen.“
Für die Bundesärztekammer bildet die Veranstaltung den Startpunkt für eine langfristige und tiefgreifende Auseinandersetzung mit Chancen und Risiken der Anwendung von KI in der Medizin. Das Ziel ist anspruchsvoll: klare Leitplanken für den verantwortungsvollen Umgang mit KI in der Patientenversorgung zu entwickeln.

Aufholjagd Medizinforschung

Pharmastrategie soll Reindustriealisierung vorantreiben

Berlin (pag) – Ein Thema hat in 2023 Karriere gemacht: die hiesige Gesundheitswirtschaft und -forschung. Der Industrie zufolge fällt Deutschland aufgrund bürokratischer Hürden immer weiter zurück. Die Politik hat diese Klagen lange ignoriert, doch die Folgen – nicht zuletzt für die medizinische Versorgung – lassen sich nicht länger ignorieren. Bundesgesundheitsminister Prof. Karl Lauterbach präsentiert deshalb eine Pharmastrategie und kündigt eine „Aufholjagd“ an.

Als im Februar vergangenen Jahres der Fortschrittsdialog „Gesunde Industriepolitik“ in Berlin startet, steht das Thema auf der politischen Agenda nicht besonders weit oben. Mehrere Pharmaunternehmen haben daher mit der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IGBCE) eine deutschlandweite Veranstaltungsreihe initiiert, um die Zusammenhänge zwischen gesunden industriepolitischen Rahmenbedingungen und medizinischer Versorgung darzustellen. Schirmherrin und SPD-Bundestagsabgeordnete Gabriele Katzmarek räumt bei der Auftaktveranstaltung ein, dass die industrielle Gesundheitswirtschaft oft unter den Tisch falle. Bei einer Stärkung des Wirtschaftszweigs solle man sich nicht in Klein-Klein-Debatten verlieren. Es gelte die großen Herausforderungen wie Fachkräftemangel, Digitalisierung und Versorgungssicherheit anzugehen.

Es wackelt

Michael Vassiliadis © pag, Fiolka

IGBCE-Vorsitzender Michael Vassiliadis sieht die Industriepolitik unter Druck: „Was uns 15, 20 Jahre erfolgreich gemacht hat, wackelt.“ Deutschland habe großes Potenzial für innovative Therapien und gute Versorgung bei Krankheiten, für Wertschöpfung, gute Arbeitsplätze. Für den Gewerkschaftschef ist die Gesundheitswirtschaft nicht Kostenfaktor und Problem, sondern ein Lieferant für Lösungen. Konkrete Zahlen nennt bei dem Termin Dr. Hagen Pfundner, Vorstand der Roche Pharma AG: Die Bruttowertschöpfung der Branche in 2021 beziffert er auf 165 Milliarden Euro. Die Reinvestitionsrate der industriellen Gesundheitswirtschaft betrage 16 Prozent – ein Wert, den kaum ein anderer Industriezweig erreiche. Pfundner zufolge haben die Arzneimittelhersteller „null Interesse“ daran, das Sozialsystem zu überfordern. Auf der anderen Seite führe eine Billig-Mentalität zu Engpässen. Und das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz (GKV-FinStG) mache es den Unternehmen schwer, Innovationen zu entwickeln.
Eben dieses Gesetz, das unter anderem die Regeln des AMNOG-Verfahrens verschärft, macht Bundeswirtschaftsminister Dr. Robert Habeck dafür mitverantwortlich, den Dialog mit der Pharmaindustrie zu Beginn verstolpert zu haben. Dieser habe angesichts des GKV-FinStG unter negativen Vorzeichen begonnen, so der Grünen-Politiker im Mai bei einer Veranstaltung des Verbands Forschender Arzneimittelhersteller. Dort präsentiert er sich als Gesundheitswirtschaftsminister und unterstreicht: „Ohne funktionierende Gesundheitswirtschaft wären wir nicht das Land, das wir sind.“

Die fette Ente

Der Minister spricht von einem strategischen Interesse an deutschen und europäischen Standorten, um nicht von Lieferketten und „wildgewordenen Diktatoren“ abhängig zu sein. Deutschland müsse daher dafür sorgen, dass ein großer Teil der strategischen Investitionen hierzulande passieren.

Dr. Robert Habeck © pag, Fiolka

Umso mehr kränkt es Habeck nach eigener Aussage intellektuell, dass heimische Firmen auf einmal im Ausland investieren, „weil wir zu viele Datenschützerinnen und Datenschützer haben“. Der Datenschutz an sich sei nicht das Problem, aber der Umstand, dass es in jedem Bundesland eine eigene Regelung dazu gibt, betont Habeck. Er stellt schlankere und schnellere Verfahren in Aussicht, „denn jetzt wird die Ente fett“.

Das Ziel: Reindustrialisierung

In den folgenden Wochen und Monaten kursieren in Fachkreisen verschiedene Entwürfe einer Pharmastrategie der Bundesregierung. Am 1. Dezember, schließlich stellt Lauterbach die 14-seitige Pharmastrategie 7.0 der Presse vor. Einen Tag zuvor hat im Kanzleramt ein Pharmagipfel stattgefunden. Darüber verliert der Gesundheitsminister zwar keine Worte, aber mit Blick auf den Pharmastandort Deutschland konstatiert er, dass man an Konkurrenzfähigkeit verloren habe. Wie schon bei den Digitalgesetzen bemüht er das Bild einer „Aufholjagd“ und kündigt an: „Die Hausaufgaben müssen gemacht werden.“
Eine zentrale Rolle in der Strategie, die wenige Wochen später vom Kabinett verabschiedet wird, spielt das geplante Medizinforschungsgesetz. Dabei geht es um zweierlei, so Lauterbach: „Dort, wo geforscht wird, findet nachher auch die Produktion statt.“ Das geplante Gesetz soll daher nicht nur die Voraussetzungen für die Forschung, sondern auch für die pharmazeutische Produktion verbessern. Letzteres sei ein energiearmer, aber auch innovationsreicher Bereich, führt der Minister aus, der eine „Reindustrialisierung“ vorantreiben will.

Prof. Karl Lauterbach © pag, Fiolka

Das Gesetz adressiert als zentrales Problem die langwierigen und teuren Genehmigungsverfahren für klinische Studien/Prüfungen. Bei der Zahl der Studien pro Kopf ist Deutschland zurückgefallen. Hierzulande werde zwar viel Grundlagenforschung betrieben, daraus resultierten aber wenig Patente und noch weniger Produktion, betont Lauterbach. Mit Großbritannien sei man bei der Grundlagenforschung gleichauf, im Königreich gingen daraus jedoch zehnmal mehr Patente und zwanzigmal so viele Produktionsansiedlungen hervor. „Dieses Problem wollen wir ganz konkret angehen.“

Mehr Tempo

Das geplante Medizinforschungsgesetz sieht unter anderem eine koordinierende Rolle des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) für klinische Studien vor. Das BfArM soll künftig die Koordinierung und das Verfahrensmanagement für Zulassungsverfahren und Anträge zu klinischen Prüfungen für alle Arzneimittel, ausgenommen Impfstoffe und Blutprodukte, übernehmen. Das Institut wird zentraler Ansprechpartner für die pharmazeutischen Unternehmen, ist verantwortlich für administrative Prozesse und koordiniert die Verfahren Ethikvotum, Strahlenschutzprüfung, die Schnittstelle zum Forschungsdatenzentrum und weitere Prozesse. Lauterbach erwartet von dieser Reform eine „dramatische Beschleunigung“ der Verfahren. Der seit Ende Januar vorliegende Referentenentwurf sieht außerdem vertrauliche Erstattungsbeträge vor – die Kassen sind davon erwartbar nicht begeistert.
Im Rahmen der Strategie sollen noch weitere Gesetze auf den Weg gebracht werden. Spannend ist in dieser Hinsicht insbesondere das Kapitel sieben der Strategie „GKV-Finanzstabilität; hier: Arzneimittelversorgung“. Dort wird eine erneute Evaluation der AMNOG-Reform, dieses Mal von externer Seite, angekündigt. Auch soll die Finanzierung der GKV künftig ohne weitere Erhöhungen der Herstellerabschläge sichergestellt werden. 

Evidenzbasierte Medizin allein reicht nicht

Berlin (pag) – Die Deutsche Krebsgesellschaft (DKG) spricht sich dafür aus, die Abläufe im Innovationsfonds transparenter und ergebnisorientierter zu gestalten. Auf der Veranstaltung „Brennpunkt Onkologie“ kritisiert DKG-Generalsekretär Dr. Johannes Bruns, dass ein klarer Mechanismus fehle, wie für den Transfer empfohlene Projekte in die Regelversorgung überführt werden“. Und Versorgungsforscher Prof. Holger Pfaff bringt den Ansatz EbM + ins Spiel.

Der Wissenschaftler von der Universität zu Köln adressiert auf der Veranstaltung mehrere Herausforderungen, die der Fonds zu künftig zu meistern hat. Pfaff fragt beispielsweise: „Wird die Umsetzung und damit die machtpolitische und gesellschaftliche Akzeptanz von neuen Versorgungsformen bei der Planung und Antragstellung genügend mitbedacht?“ Eine weitere Frage vom ehemaligen Vorsitzenden des Fonds-Expertenbeirats lautet: „Leistet die evidenzbasierte Medizin (EbM) einem Strukturkonservatismus Vorschub und erschwert damit die Einführung von Versorgungsinnovationen?“

Pfaff mahnt eine bessere theoretische Fundierung der geplanten neuen Versorgungsformen im Innovationsfonds an. Derzeit basierten viele Projekte auf Ideen oder einer „gefühlten Plausibilität“ und seien damit bereits durchsetzungsfähig. Damit werde die Macht des Narrativs missachtet. Pfaff: „Wir brauchen Theorien als Landkarten, die uns zeigen, wo es ungefähr sinnvoll ist, etwas zu planen“. Randomisierte klinische Studien verführten dazu, einfach zu machen.

                                                                                      Bestmögliche statt höchste Evidenz

Die Weiterentwicklung des Innovationsfonds im Blick: Holger Pfaff und Ursula Marschall © pag, Fiolka

Der Versorgungsforscher empfiehlt daher einen Dreiklang aus erstens Theoriearbeit (Identifizierung nützlicher Theorien und Ableitung möglicher Kausalmechanismen zur Erklärung eines Phänomens oder von Interventionswirkungen), zweitens EbM+ (Überprüfung von Thesen über Kausalmechanismen durch mechanistische Studien) sowie drittens EbM (Durchführung von künstlichen und natürlichen Experimenten, um die Wirksamkeit einer Maßnahme/Implementierungsstrategie zu ermitteln). Außerdem plädiert er dafür, dass bei Innovationsfondsprojekten in Zukunft die in dem gegebenen Gesundheitssystem bestmögliche Evidenz angestrebt werden solle. Die höchste Evidenz solle dabei als Richtschnur dienen.

Im Folgenden stellt Dr. Ursula Marschall, Forschungsbereichsleiterin Medizin und Versorgungsforschung des Barmer Instituts für Gesundheitssystemforschung, klar, dass die teils bestehenden Selektivverträge zwischen Krankenhäusern und Krankenkassen nur eine temporäre Lösung darstellten. „Ziel muss es aber sein, die Regelversorgung zu verbessern“. Dr. Johannes Bruns (DKG) mahnt eine höhere Verbindlichkeit für die jeweils adressierten Institutionen an, den Empfehlungen des Innovationsausschusses zu folgen. Zudem sollten längere Förderzeiträume ermöglicht werden.

 

Gesundheitskioske in den Startlöchern

Berlin (pag) – 2023 soll es in Deutschland mit den Gesundheitskiosken konkret werden. Deren flächendeckende Einführung plant Gesundheitsminister Prof. Karl Lauterbach im Rahmen eines Versorgungsgesetzes. Doch das Vorhaben ist nicht unumstritten.

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Gleich zwei Versorgungsgesetze will Lauterbach auf den Weg bringen. Im ersten ist die Etablierung von 1.000 Gesundheitskiosken vorgesehen. Dass viele Vertragsärztevertreter keine Freunde von flächendeckenden Gesundheitskiosken sind, geben sie gerne lautstark zu Protokoll. Eine Kostprobe lieferte Ende des vergangenen Jahres Dr. Stephan Hofmeister. „Das klingt ja auch so bequem, nach dem Motto: Wer morgens die Zeitung kauft, kriegt noch ein bisschen Gesundheit mit dazu. Und wozu brauchen wir überhaupt noch Ärzte?“, fragt der stellvertretende Vorstandschef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung auf der Vertreterversammlung seiner Organisation.

Für die Gesundheitskioske als niedrigschwelliges Angebot sieht das Bundesgesundheitsministerium folgende Aufgaben vor: Vermittlung von Leistungen der medizinischen Behandlung, Prävention und Gesundheitsförderung und Anleitung zu deren Inanspruchnahme, allgemeine Beratungs- und Unterstützungsleistungen zur medizinischen und sozialen Bedarfsermittlung und Durchführung von einfachen medizinischen Routineaufgaben.

Politischer Spielball

Vorbild für das neue Versorgungsangebot ist der vom Innovationsfonds geförderte Gesundheitskiosk in Hamburg-Billstedt. Das Vorzeigeprojekt ist 2022 zum Spielball politischer Auseinandersetzungen geworden, als die Ersatzkassen im September ihren Ausstieg verkünden. Dieser Rückzug wird als Reaktion auf Lauterbachs GKV-Finanzstabilisierungsgesetz gewertet, das vom Kassenlager heftige Kritik erfährt. Den Ersatzkassen zufolge haben sich außerdem die Leistungen des Kiosks mit bereits bestehenden Angeboten der Krankenkassen und anderen Akteuren gedoppelt – Stichwort Doppelstrukturen. Dr. Andreas Philippi (SPD), seinerzeit Mitglied im Gesundheitsausschuss des Bundestags und mittlerweile Gesundheitsminister in Niedersachen, mahnt daher bei einer Fachtagung eine grundsätzliche Strukturreform der Gesundheitsversorgung an. Dazu gehörten auch Gesundheitskioske – an „ganz spezifischen“ Standorten. „Auch wenn es am Ende des Tages nicht unbedingt 1.000 solcher Einrichtungen sein müssen.“

Hamburg jedenfalls bekommt einen zweiten Kiosk, im Stadtteil Lurup. Das teilen die AOK Rheinland/Hamburg und die Mobil Krankenkasse mit, die bereits die Einrichtung in Billstedt finanzieren. Solche unterstützenden Angebote seien wichtig für Menschen, die sich alleine nicht oder nur schlecht im Gesundheits- und Sozialsystem zurechtfinden, meint Matthias Mohrmann, Vorstandsmitglied der AOK Rheinland/Hamburg.

Ähnlich argumentiert Dietrich Munz, Präsident der Bundespsychotherapeutenkammer, der dem deutschen Gesundheitssystem mangelnde Sozialkompetenz attestiert. Er wirbt dafür, Gesundheitskioske auch für psychisch kranke Menschen zu erproben. „Gerade Menschen in Armut, mit geringer Bildung, in Arbeitslosigkeit und mit ungenügender sprachlicher oder gesellschaftlicher Teilhabe könnte entscheidend dabei geholfen werden, Angebote zur psychischen Gesundheit zu nutzen.“