Versorgungsdaten nutzen!

Ein „Best-of“ der Veranstaltungsreihe von Gerechte Gesundheit

Berlin (pag) – Real World Data – welche Erkenntnisse liefern sie für die Forschung, welche für die Versorgung? Und welche systemischen Herausforderungen gilt es im Umgang ihnen zu meistern? Namhafte Expertinnen und Experten haben zu diesen Fragen im Rahmen einer dreiteiligen Veranstaltungsreihe von Gerechte Gesundheit Stellung bezogen. Ein Bericht.

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mit: Prof. Monika Klinkhammer-Schalke (Tumorzentrum Regensburg, Universität Regensburg), Friedhelm Leverkus (Pfizer), Prof. André Scherag (Universitätsklinikum Jena) und Gloria Seibert (Temedica)

Prof. Monika Klinkhammer-Schalke © pag, Fiolka

Die Referentinnen und Referenten der ersten Session plädieren einhellig dafür, den Begriff Real World Data (RWD) durch versorgungsnahe Daten auszutauschen. Prof. Monika Klinkhammer-Schalke betont: „Versorgungsnah ist, einen Menschen zu begleiten – von Anfang bis Ende – und vor allem mit den Daten zu zeigen, welches die beste Therapie ist.“ Eine wichtige Rolle spielten dabei die Krebsregister. Anhand mehrerer Beispiele stellt sie den Wert der Forschung mit versorgungsnahen Daten für die konkrete Behandlung von Krebspatienten dar: Die Arbeitsgemeinschaft deutscher Tumorzentren führe alle zwei Jahre mit den Landesregistern Daten zu 13 Tumorarten zusammen. Die Daten zeigten beispielsweise, wann eine postoperative Chemotherapie nach neoadjuvanter Radiochemotherapie beim Rektumkarzinom notwendig sei, so die Versorgungsforscherin. Ein weiteres Beispiel ist die WiZen Studie. Die Erhebung konnte belegen, dass Patienten besser überleben, wenn sie in zertifizierten Zentren behandelt werden. Für die Studie wurden Daten von vier großen Registern gemeinsam mit Daten der AOKen ausgewertet.

Als Hürde für die Forschung mit versorgungsnahen Daten nennt Klinkhammer-Schalke unter anderem die unterschiedlichen Datenschutzvorgaben aus den Bundesländern. Positiv stimmt sie jedoch die gute Zusammenarbeit in der Krebsmedizin bei mehreren Großprojekten. Die Onkologie sei damit eine Blaupause für andere Krankheiten. Als großer Vorteil habe sich der Stammdatensatz erwiesen.

Die ePA – „ein Traum“?

Prof. André Scherag © UKJ

Im Anschluss stellt Prof. André Scherag die Aktivitäten der vom Bundesforschungsministerium geförderten Medizininformatik-Initiative (MII) vor. Deren Grundidee: Daten aus der stationären Krankenversorgung nicht ausschließlich für den konkreten Versorgungsfall zu verwenden, sondern diese für Forschung zu nutzen und damit zur Verbesserung der Versorgung beizutragen. Eine wichtige Rolle spielen dabei die Datenintegrationszentren. Sie stellten eine Organisationseinheit innerhalb der Universitätskliniken dar und kümmerten sich darum, die Daten aus der stationären Krankenversorgung zu erschließen und zu harmonisieren. Ein durchschnittliches Krankenhaus verfügt Scherag zufolge über bis zu 250 primäre IT-Systeme, in denen die Daten in unterschiedlicher Weise abgelegt sind. „Diese Daten müssen auf einen Standard gebracht werden, damit man über Standorte hinweg Datenintegration und -auswertung machen kann“, sagt er. Dafür seien auch viele rechtliche Vorgaben zu beachten, weshalb an den MII-Standorten die breite Einwilligung (Broad Consent) eingeführt wurde und man außerdem „Use and Access Committees“ etabliert hat.

Der Wissenschaftler betont, dass die MII nur ein Teil der gerade laufenden vielfältigen Initiativen zum Thema Medizindaten sei. Er hofft, dass eine versorgungsnahe und forschungskompatible elektronische Patientenakte bald im Zentrum der Aktivitäten steht – „das wäre der Traum“.

RWD bei der Zulassung

Friedhelm Leverkus © Pfizer

Die zahlreichen Initiativen hebt Friedhelm Leverkus ebenfalls positiv hervor. Mit dem geplanten European Health Data Space verweist er auch auf die internationale Ebene. Leverkus berichtet, dass sich sowohl die europäische als auch die US-amerikanische Zulassungsbehörde für Real World Data öffneten und prognostiziert, dass versorgungsnahe Daten zunehmend im Zulassungsprozess verwendet werden. Gebe es beispielsweise beim „Primary Approval“ nur geringe Patientenzahlen, weil es sich bei dem Medikament um ein Orphan Drug handele, ließen sich die einarmigen Studien durch Versorgungsdaten ergänzen. Letztere seien daher ein wichtiger Baustein, um die Aussagesicherheit zu erhöhen. Leverkus zufolge gibt es für etwa drei Viertel der Nutzenbewertungen von Orphan Drugs randomisierte kontrollierte Studien (Randomized Controlled Trials, RCT), bei einem Viertel hingegen nicht. Weitere Einsatzmöglichkeiten sieht er bei Indikationserweiterungen sowie dem Thema Sicherheit.

Insgesamt verbesserten versorgungsnahe Daten die Arzneimittelforschung – zum Beispiel könnten die Bedarfe besser identifiziert und die Medikamente besser zu den Patientinnen und Patienten gebracht werden. Auch die Versorgung werde verbessert. Leverkus ist überzeugt: „Wir sind näher dran an dem, was die evidenzbasierte Medizin will: Wir können datenbasiert entscheiden.“

 


„Wir brechen Silos auf“  – Zwei Fragen an Gloria Seibert
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Die Expertise von Gloria Seibert, Gründerin und CEO von Temedica, umfasst die Kombination, Strukturierung und Analyse von Real World Data. Sie bringt Datenwelten zusammenbringt und übersetzt die Erkenntnisse in neues Wissen für Versorgungsakteure. © Temedica

Mit der Analyseplattform Permea werten Sie Patientendaten aus der Versorgungswelt aus. Wie funktioniert das? Welche Datenwelten bringen Sie zusammen?
In unserer Datenplattform haben wir Zugriff auf unterschiedlichste gesundheitsbezogene Datentypen wie beispielsweise Versicherungsdaten, Verkaufs- und Rezeptdaten, Registerdaten, Patientenkonversationen sowie patientengenerierte Daten von mehr als 50.000 Erkrankungen. Jeder dieser Datentypen beleuchtet einen unterschiedlichen Aspekt des Gesundheitswesens. Traditionell werden diese Datentypen isoliert betrachtet. Wir bei Temedica brechen diese Silos auf, verknüpfen einzelne Datensets und generieren daraus bisher unbekannte Erkenntnisse. Diese Erkenntnisse werden über unsere innovative Analyseplattform Permea unseren Partnern zur Verfügung gestellt, die damit einen 360-Grad-Überblick über Erkrankungen, Märkte und Patienten erhalten.

Wie übersetzen Sie Ihre Erkenntnisse in neues Wissen für Versorgungsakteure?
Die unterschiedlichen Datensets aus unserer Datenplattform verknüpfen wir auf eine intelligente Art und Weise, woraus aus einzelnen Datensets neue Informationen entstehen. Ein Beispiel hierfür ist die Information, welche Therapiewechsel in einer spezifischen Patientenkohorte stattfinden und was die jeweiligen Gründe für die Wechsel sind. Wenn wir diese Information nun im richtigen Kontext betrachten, entsteht daraus neues Wissen, das für alle Beteiligten im Gesundheitssystem, wie beispielsweise Ärzte, Patienten, Forschungsinstitute, Versicherungen und die Industrie, von hoher Relevanz ist. Hierfür haben wir unser Temedica Ökosystem geschaffen – damit erhält jeder Stakeholder Zugriff auf das durch uns neu geschaffene Wissen: Ärzte nutzen dieses für eine bessere Versorgung ihrer Patienten, Patienten verstehen ihren Krankheitsverlauf besser, Wissenschaftler erhalten neue forschungsrelevante Einblicke und Versicherungen und die Industrie ein besseres Bild über die Versorgungsrealität.


 

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mit: Prof. Peter Falkai (LMU Klinikum, München) und Prof. Tjalf Ziemssen (Universitätsklinikum Carl Gustav Carus, Dresden)

In der zweiten Session steht die Versorgung von chronischen neurologischen und psychiatrischen Erkrankungen im Mittelpunkt – und wie diese durch Real World Data verbessert werden kann. Prof. Tjalf Ziemssen betont, dass die Erfahrung eines einzelnen Arztes nicht ausreiche, um Patienten mit Multipler Sklerose (MS) optimal zu behandeln. Wichtig sei es, hoch qualitative Versorgungsdaten von möglichst vielen Zentren zu sammeln, um von der Erfahrung weiterer Neurologinnen und Neurologen zu profitieren und „die Gesamtheit der Therapieerfahrung“ in den Entscheidungsprozess einzubeziehen. Seiner Erfahrung nach sind die meisten Patientinnen und Patienten bereit, ihre Daten zu teilen. Diese Erfahrung bestätigt Prof. Peter Falkai. Auch die deutliche Mehrheit der psychisch Kranken habe kein Problem damit, dass ihre Daten gesammelt werden. An seiner Klinik sei ein Broad Consent etabliert worden.
Wichtig sind nach Ansicht beider Ärzte versorgungsnahe Daten auch dafür, um Wissenslücken aus Zulassungsstudien auszugleichen, denn die Folgen neuer Therapien zeigten sich bei neurologischen oder psychiatrischen Patienten erst nach einigen Jahren. Ziemssen und Falkai heben insbesondere die Bedeutung von Daten zur Lebensqualität hervor.

Abgeschottete Burgen

Prof. Peter Falkai © Privat

Noch immer existieren zahlreiche Hürden beim Umgang mit Real World Data in der Versorgung. MS-Spezialist Ziemssen mahnt eine neue Kultur an, auch in Form von Incentivierungen: Es sei für die Behandler sehr aufwendig, die Patienten ausführlich aufzuklären und die Daten zu pflegen. Thema IT: Die Informationssysteme der Krankenhäuser sind nach seiner Einschätzung nicht in der Lage, agile versorgungsnahe Daten zu sammeln. Zudem seien diese IT-Systeme, ebenso wie die Praxissoftware der Niedergelassenen, abgeschottete Burgen. Ärzte sollten in die Softwareentwicklung miteinbezogen werden, lautet seine Folgerung.
Falkai problematisiert die mangelnde Kommunikation zwischen Versorgungsforschern und klinischen Forschern. Dabei könnten beide voneinander profitieren: Wer eine randomisiert kontrollierte Studie mache, könne aus versorgungsnahen Daten lernen, ob die Frage wirklich relevant sei. Umgekehrt könnten aus versorgungsnahen Daten Fragestellungen entwickelt werden, für deren Beantwortung eine RCT erforderlich sei. Falkais Kritik: „Jeder macht sein eigenes Ding und vergisst über den eigenen Tellerrand zu schauen.“

 


Finanzielle Ressourcen bereitstellen – Zwei Fragen an Prof. Tjalf Ziemssen
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Prof. Ziemssen leitet das MS-Zentrum der Klinik für Neurologie am Dresdener Universitätsklinikum. An dem Zentrum gibt es unter anderem ein MS Living Lab, um digitale Innovationen von der Forschung in die Versorgung zu transferieren. © pag, Fiolka

Was muss passieren, damit die digitale Infrastruktur hierzulande reif ist für eine systematische Generierung und Weiterverarbeitung von Real World Data?

Es muss eine wirklich gute digitale Infrastruktur mit entsprechenden Schnittstellen geschaffen werden, zum anderen müssen auch für die einzufordernde Dokumentation finanzielle Ressourcen bereitgestellt werden, wie das zum Beispiel bei den skandinavischen Registern schon der Fall ist. Am besten von den Kostenträgern und eben nicht direkt von der Pharmaindustrie.

Welche Erfahrungen haben Sie mit digitalen Tools gesammelt, in die Patientinnen und Patienten ihre Versorgungsdaten selbst eingeben? Wie verändert sich dadurch ihre Patientenrolle?

Wir haben mit der Einbindung von digitalen Tools in den klinischen Alltag bei der Multiplen Sklerose sehr positive Erfahrungen gemacht. Das Konzept unseres digitalen MS Zwillings wird sehr gut von den Patienten aufgenommen. Auch die Erfassung neurologischer Funktionen mittels digitaler Tools wird sehr geschätzt. Allerdings muss die Implementierung möglichst integrativ in die Versorgungsprozesse erfolgen, was bei den DiGAs als nicht integrierte Black Box nicht der Fall ist.


 

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mit: Dr. Gertrud Demmler (Siemens Betriebskrankenkasse), Prof. Josef Hecken (G-BA), Dr. Thomas Kaiser (IQWiG) und Dr. Martina Schüßler-Lenz (Paul-Ehrlich-Institut)

Dr. Martina Schüßler-Lenz © PEI

Welche Erfahrungen die Zulassungsbehörden mit Real World Data – insbesondere bei Gen- und Zelltherapien – sammeln, gibt Dr. Martina Schüßler-Lenz zum Auftakt der dritten Session wieder. Sie spricht bezogen auf die Qualität der Daten von einer „unbefriedigenden Situation“. „Die Qualität der Daten, die wir bekommen, ist sehr unterschiedlich.“ Oft wiesen sie „wesentliche Lücken“ auf.

Schüßler-Lenz berichtet, dass oft bereits existierende Krankheitsregister vom Hersteller für die Durchführung von Beobachtungsstudien genutzt werden, um die zum Zeitpunkt der Zulassung nicht vorhandenen Daten nachzuliefern. Welche Datenquelle verwendet werde, sei die Entscheidung der Zulassungsinhaber, die Behörden geben jedoch vor, welche Daten zu erfassen sind. Das Problem: Oft könnten die Register diese nicht liefern. Die Ergänzung der Register um die geforderten Daten dauere wiederum Jahre. Die PEI-Vertreterin charakterisiert die europäische Registerlandschaft unter anderem als intransparent, nicht vernetzt und geprägt von Insellösungen – „und davon ist Deutschland in keiner Weise ausgenommen“, sagt sie. Erschwerend kommen die unterschiedlichen Anforderungen an Patienteninformationen und Datenschutz hinzu. Auch fehle auf europäischer Ebene ein legaler beziehungsweise regulatorischer Rahmen, an dem aber momentan gearbeitet werde.

Rudimentäre Daten

Prof. Josef Hecken © pag, Fiolka

Für Prof. Josef Hecken bleiben RCT zwar der Goldstandard beim Health Technology Assessment (HTA), allerdings seien die Realitäten zunehmend andere: Der medizinisch-technische Fortschritt stoße in Behandlungsbereiche vor, „in denen man es verstärkt mit kleineren Patientengruppen zu tun hat, in denen es in manchen Fällen ethische Limitationen gibt und in denen es einen echten oder vermeintlichen ungedeckten Medical Need gibt“. Auf Zulassungsebene fänden daher Nutzen-Schadens-Betrachtungen auf Basis „rudimentärer Daten“ statt – mit der Folge, „dass wir häufig keine Daten haben, die eine HTA-Bewertung ermöglichen“.

Ein wichtiger Unterschied im Vergleich zu den Auflagen der Zulassungsbehörden sei, dass bei der Anwendungsbegleitenden Datenerhebung der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) die Register verpflichtend vorgebe. Eine Harmonisierung der beiden Verfahren hält Hecken für überfällig. „Die mit viel Euphorie und jugendlichem Leichtsinn gestartete Anwendungsbegleitende Datenerhebung ist im Gestrüpp der unzureichenden Registerstruktur hängengeblieben“, konstatiert der G-BA-Chef. Ein großes Problem sei insbesondere der frühzeitige Beginn.

Mehr Ernsthaftigkeit

Dr. Thomas Kaiser © pag, Fiolka

Mehr Ernsthaftigkeit in der Analyse versorgungsnaher Daten fordert Dr. Thomas Kaiser vom Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG). Für bessere Daten sorgen müssten sowohl Hersteller als auch Registerbetreiber, „die wollen, dass mit ihren Registern Interventionseffekte beobachtet werden“. In diesem Fall käme es auf die richtigen Endpunkte, Laufzeiten und Confounder, das heißt Störgröße, sowie Vollständigkeit an. Die richtigen Methoden sind Kaiser zufolge weitgehend bekannt.

Er appelliert dafür, das Totschlag-Argument der „Best Available Evidence“ aufzugeben. Best verfügbar heiße nicht zwingend geeignet: Wenn Daten keine Angaben zu relevanten Endpunkten und zur Vergleichstherapie erhöben, dann seien diese nicht geeignet, eine Frage zum Zusatznutzen zu beantworten.

Positiv steht Kaiser registerbasierten RCT gegenüber. Beispiele dafür habe man während der Pandemie in anderen Ländern, etwa Großbritannien, gesehen. Dort habe es eine solche Studie gegeben, bei der neun Tage nach Planungsbeginn der erste Patient eingeschlossen werden konnte. Dabei ging es um die Behandlung von Coronapatienten mit einem Medikament auf Intensivstation. Kaiser nennt drei Gründe für die rasche Realisierung: Die Studie setzte auf eine bestehende Infrastruktur auf, konzentrierte sich auf Wesentliche und last, but not least gebe es im Königreich eine ausgeprägte Studienkultur. Diese vermisst er hierzulande.

 

 


Versorgungsdaten in Echtzeit

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Dr. Getrud Demmler ist Alleinvorständin der Siemens-Betriebskrankenkasse. Sie hat sich einen Namen als Verfechterin einer konsequenten Digitalisierung des Gesundheitswesens gemacht und setzt sich außerdem für Qualitätstransparenz bei Krankenkassen ein. © pag, Fiolka

Jenseits der Zulassungs- und HTA-Welt stellt Dr. Gertrud Demmler die Kassenperspektive auf versorgungsnahe Daten dar. Für sie ist es wichtig, anhand von Real World Data nachzuvollziehen, ob die Versorgung tatsächlich bei den Versicherten und Patienten ankommt. Außerdem werden die Daten für eine stärker personalisierte Beratung genutzt – „weg von der Schrotkugel“. Über Real World Data in einen engeren Austausch mit den Leistungserbringern zu kommen, ist für die Vorständin der Siemens-Betriebskrankenkasse ein „zentrales Zukunftsthema“: Sie will mehr Vernetzung, anstatt sich nur auf der Abrechnungsebene auszutauschen. Großen Weiterentwicklungsbedarf sieht sie etwa beim Entlassmanagement.
Das Problem: Es gebe zwar sehr viele Daten, aber die Abrechnungsdaten kämen zum Teil mit einem „unglaublichen Zeitverzug“. Demmler will Versorgungsdaten „in Echtzeit“. Wenn das im Rahmen des Abrechnungsprozesses nicht möglich sei, müsse man dies voneinander trennen. Bei längerfristigen Versorgungsperspektiven sind die Kassen zudem mit Löschfristen und zum Teil unklaren Datennutzungsrechten konfrontiert. Demmler hält fest: „Über eine viel stärkere, zeitnähere und hürdenfreiere Nutzung von Daten können wir die individuelle Versorgungssituation der Versicherten unterstützen und gleichzeitig die Qualitätsorientierung im Gesundheitswesen maßgeblich vorantreiben.“


 

Weiterführender Link:

Mehr Informationen und Links zu den YouTube-Aufzeichnungen der Veranstaltungsreihe
www.gerechte-gesundheit.de/aktion/real-world-data-nachlese.html

Versorgungsforschung priorisieren

Warum der Innovationsfonds einen Reformschub braucht

Berlin (pag) – Der Innovationsfonds muss eine Lernkurve hinlegen, verlangt dessen Vorsitzender Prof. Josef Hecken. Und die sollte offenbar recht steil sein, denn der unparteiische Oberste des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) vermisst bei der vom Fonds geförderten Versorgungsforschung mangelnde Durchschlagskraft. Anstelle des bisherigen Klein-Kleins setzt er sich für Priorisierung ein. Wie soll das funktionieren?

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Der Innovationsfonds fördert seit 2016 neue Versorgungsformen und Versorgungsforschung in Deutschland. Er unterstützt mit GKV-Geldern innovative, sektorenübergreifende neue Versorgungsformen und Vorhaben der patientennahen Versorgungsforschung. Mit dem Digitale-Versorgung-Gesetz von 2019 wurde er modifiziert: Das Gesetz sieht vor, dass der Fonds befristet bis 2024 fortgeführt wird, das jährliche Fördervolumen wird auf 200 Millionen Euro gesenkt. Im Koalitionsvertrag der Ampel ist indes unmissverständlich festgehalten, dass der Innovationsfonds verstetigt werden soll. Vor diesem Hintergrund hat im vergangenen Jahr bereits der Bundesverband Managed Care eine „mutige Weiterentwicklung“ des Fonds verlangt (Gerechte Gesundheit berichtete) – nicht zuletzt, weil neue Versorgungsprojekte bislang nicht den Sprung in die Regelversorgung geschafft hätten. Auch Hecken mahnt kürzlich auf einem Kongress von Monitor Versorgungsforschung eine kritische Reflexion aller Beteiligter an.

Er selbst macht auf der Veranstaltung den Anfang und räumt ein: In der Vergangenheit wurde manches gefördert, obwohl das Wissen bereits in der Versorgung vorhanden gewesen sei. Gleichzeitig wurde manches gefördert, obwohl bei kritischerer Prüfung hätte bemerkt werden können, dass bestimmte Anträge von Anfang an dazu verdammt waren, keine befriedigenden Ergebnisse zu erbringen.

Echter medical need

Für zwingend erforderlich hält es Hecken daher, künftig vor der Förderbekanntmachung enger mit dem Netzwerk Versorgungsforschung zusammenzuarbeiten. Gemeinsam sollten Themencluster und Schwerpunkte identifiziert werden, bei denen Untersuchungsbedarf und „echter medical need“ gesehen wird. Praktisch könnte das so aussehen, dass sich Forscherinnen und Forscher mit inhaltlich ähnlichen Projekten zusammenschließen. Eine andere Möglichkeit sei, umfassende Projekte an ein vernetztes Konsortium vergeben werden.

 

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Die Agenda des G-BA
Ein drängendes Thema für den Fonds ist aus Sicht des G-BA beispielsweise die Diagnostik. Hecken geht es dabei nicht um die Bewertung eines einzelnen Medizinproduktes, sondern grundsätzlich um Wirksamkeit und Nutzen von Diagnostik im Kontext von Über-, Unter- und Fehlversorgung. Beispiel Onkologie: Viele Patienten bekämen in den letzten Tagen noch ein CT, nur wenige würden allerdings der palliativmedizinischen Versorgung zugeführt, kritisiert Hecken. Als weitere förderungswürdige Themen nennt er unter anderem Indikationsstellung – konkret die Übersetzung, Entwicklung oder Validierung von Fragebögen beziehungsweise Assessment-Instrumenten. In Sachen Qualitätssicherung denkt der G-BA-Chef an validierte Qualitätsindikatoren aus Routinedaten insbesondere aus der ambulanten Versorgung – „damit die permanenten Dokumentationsexzesse ein Ende finden“.
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Bild: Prof. Josef Hecken, Vorsitzender des Innovationsausschusses © pag, Fiolka

Die Erde bebt

Gesundheitsökonom Prof. Jürgen Wasem warnt auf der Veranstaltung allerdings davor, bei der Priorisierung das Kind mit dem Bade auszuschütten. „Wir müssen die Balance wahren zwischen den großen Linien und der Vielzahl von indikationsspezifischen Einzelproblemen in der Versorgung, die Balance zwischen Mainstream und differenzierten Fragestellungen“, appelliert er. Das sieht Hecken ebenso. Er schlägt pro Ausschreibungsrunde ein Großthema vor, bei dem „die Erde bebt“. Daneben müsse es Platz für die „Exoten“ geben, als ein Stichwort nennt er Orphan Diseases.

Auch Prof. Bertram Häussler bricht bei seinem Vortrag eine Lanze für mehr Priorisierung – und für mehr thematischen Weitblick. „Wenn wir heute über Versorgungsforschung nachdenken, dann muss uns klar sein, dass wir über eine Zukunft nachdenken, die locker zehn Jahre von heute entfernt ist, vielleicht sogar noch mehr.“ Damit spielt der Direktor des Berliner IGES Instituts auf die Jahre an, die es dauert, bis die Projekte überhaupt auf dem Markt sind. Hinzu kommt die müheselige Implementierung. Häusslers Schlussfolgerung: Bei der Forschung müsse es um „unmet needs“ gehen, die in zehn Jahren eine Rolle spielen. „Wir sollten davon ausgehen, dass wir in zehn Jahren Digitalisierung haben werden und brauchen nicht mehr zu erforschen, ob es hilft, wenn wir mit einer App eine Information von A nach B schicken.“

Mehr Druck erzeugen

Neben der Priorisierung der Versorgungsforschung kommen bei der Tagung weitere Reformbedarfe des Innovationsfonds zur Sprache. Hecken etwa will mehr Professionalisierung bei der der Vorauswahl der Projekte durch den Expertenpool, dem mittlerweile über 100 Personen angehören. Der Pool hat den Beirat abgelöst, der Hecken zufolge nach relativ einheitlichen Kriterien die Forschungsvorhaben begutachtet habe. Das ist beim Pool derzeit offenbar nicht der Fall.

Problematisch findet der G-BA-Chef außerdem das Thema Adressaten, wenn es um die Überführung neuer Versorgungsformen und Versorgungsforschung geht. Als Adressaten kommen dafür neben dem G-BA beispielsweise die Trägerorganisationen des Ausschusses, Vertragspartner auf Landesebene, medizinische Fachgesellschaften, Ministerien oder Organisationen der Pflege in Frage. Regt der Innovationsfonds eine Überprüfung oder eine Überführung an, ist nur der G-BA als Adressat gezwungen, bestimmte Schritte zu veranlassen oder dem Bundesgesundheitsministerium Meldung zu erstatten, wenn nichts passiert. Um auch bei den anderen Akteuren einen „gewissen Druck“ zu erzeugen, plädiert Hecken dafür, einen Rechtfertigungszwang für alle Adressanten einzuführen.


 

Prof. Bertram Häussler, Vorsitzender der IGES-Geschäftsführung © pag, Fiolka

Priorisierungskatalog
Wie lässt sich die Versorgungsforschung konkret priorisieren? Häussler nennt dafür unter anderem einen ursprünglich aus der Pädiatrie stammenden Ansatz, der sich mittlerweile in vielen Bereichen der Medizin etabliert habe: die CHNRI method.
Fünf Kernfragen stehen dabei im Mittelpunkt, die Häussler wie folgt wiedergibt:

Answerability: Kann man eine (Forschungs-)Frage überhaupt     beantworten?

Equity: Ist es gerecht, diese Frage zu beantworten, auch in Hinblick auf die Ressourcen?

Impact on burden: Wird es den Menschen später besser gehen, wenn wir das erforscht haben?

Deliverability: Lässt es sich umsetzen?

Effectiveness: Wird es brauchbare beziehungsweise bezahlbare Ergebnisse liefern?


Der eigene Beritt

Dieses Problem sieht auch Prof. Wolfgang Hoffmann, Vorsitzender des Netzwerkes Versorgungsforschung. Er konstatiert, dass die Maßnahmen zur Überführung in die Regelversorgung nicht effektiv seien. „So wie es bei neuen Medikamenten und Medizinprodukten einen geraden Weg in Regelversorgung gibt, braucht es das auch für innovative Versorgungsmodelle“, verlangt er. Der Versorgungsforscher von der Universitätsmedizin Greifswald räumt ein, dass die Versorgungsforschung gefordert sei, sich so zu organisieren, dass die Dinge „nicht im Sande verlaufen“. Als großen Bremsklotz für Versorgungsinnovationen sieht er allerdings den Gemeinsamen Bundesausschuss. Die Bänke des Gremiums seien nicht innovativ, weil sie alle ihren Beritt zu verteidigen hätten. Deshalb passiere nichts, was eine der Bänke in Frage stellen würde. Hoffmann ist deshalb davon überzeugt, dass letztlich nur der Weg über den Gesetzgeber bleibe: „Um neue Versorgungsformen in die Breite der Regelversorgung zu implementieren, wird es fast nie ohne gesetzliche Regelung funktionieren“, meint er. Die Nachfrage Häusslers, wie viele einzelne Paragraphen das SGB V vertragen kann, ist allerdings nicht unberechtigt.

„Jahrelange Vernachlässigung des Vergütungsthemas“

Dr. Marc Gitzinger mahnt rasche Reformen bei Antibiotika an

Berlin (pag) – Vor einer Krise ungeahnten Ausmaßes warnt Dr. Marc Gitzinger von Bioversys, sollte das Vergütungsproblem von neuen Antibiotika, die meist im Reserveschrank bleiben und an denen der Hersteller kaum etwas verdient, nicht bald gelöst werden. Für beispielhaft hält er ein Modell aus Großbritannien, das auf den sozioökonomischen Wert abstellt, den der Zugang zu wirksamen Antibiotika bietet.

Für Dr. Marc Gitzinger sind Antibiotika als „Wunderwaffen der Medizin“ Voraussetzung, um den medizinischen Fortschritt des 21. Jahrhundert aufrechtzuerhalten. Viele Eingriffe und Behandlungen werden lebensbedrohlich, wenn wir Infektionen durch Resistenzen nicht schnell und effizient mit Antibiotika behandeln können, warnt er. © stock.adobe.com, Parilov

 

Es gibt bereits neue Modelle zur Vergütung von Antibiotika. Als vorbildlich gilt Großbritannien. Was machen die Briten besser?

Gitzinger: Neue, hochwirksame Antibiotika sollen nur selten und gezielt verwendet werden. Bei niedrigen Stückpreisen kann sich diese nachhaltige Verwendung für die Hersteller, die hunderte Millionen für die Entwicklung ausgeben müssen, finanziell nicht lohnen. Bei sehr hohen Stückpreisen würden Anreize geschaffen, auch neue Antibiotika häufiger als angezeigt zu verwenden, da sich dann mehr verdienen lässt. Dieser Kreis muss gebrochen werden.
 
Und wie?

Gitzinger: Die Briten haben ein Vergütungsmodell entwickelt, welches den finanziellen Erfolg eines Antibiotikums vom Verkaufsvolumen entkoppelt. Wie bei Netflix wird für den Zugang zu einem neuen Reserveantibiotikum gezahlt. Die adäquate Verwendung wird dann – losgelöst vom Preis – durch die Ärzte entschieden, welche bestimmen, ob das Medikament für den Patienten aus medizinischer Sicht notwendig ist. Die Briten legen dabei den „Netflix-Preis“ über ein Punktesystem fest, mit dem sie erörtern, wie wichtig das Antibiotikum für die Gesellschaft ist und orientieren sich daran, dass die Vergütung ausreichend sein muss, dass es sich auch für die Hersteller lohnt, die hohen Entwicklungskosten und -risiken einzugehen. Das Model der Briten stellt auf den sozioökonomischen Wert ab, den der Zugang zu wirksamen Antibiotika hat.
 
Bei der Entwicklung neuer Antibiotika spielen mittlerweile viele Kleinstfirmen eine wichtige Rolle. Mit welchen Problemen kämpfen diese und wie ließen sich diese lösen?

Gitzinger: Kleine Firmen kämpfen vor allem mit der Finanzierung ihrer Forschung und Entwicklung. Gerade im Antibiotikabereich ist dies extrem, da Risikokapitalgeber neben dem technischen Entwicklungsrisiko derzeit auch ein Risiko beim Marktversagen auf sich nehmen. Dies kann nur durch Reformen beim Vergütungssystem nachhaltig gelöst werden. Die Zeit drängt! Es muss wieder eine gewisse Sicherheit geben, dass wenn ein neues Antibiotikum erfolgreich zugelassen wird, sich diese Investition auch finanziell gelohnt hat. Neben der Finanzierung, dem mit Abstand größten Problem, gibt es noch Folgeschwierigkeiten.
 
Welche sind das?

Gitzinger: Hierzu zählen die normalen wissenschaftlichen und regulatorischen Hürden ein neues Antibiotikum zur Zulassung zu bringen, allerdings wird dies in unserem Sektor durch akuten Mangel an Experten weiter verschärft. Dies liegt an der jahrelangen Vernachlässigung des Vergütungsthemas, wodurch immer weniger Firmen und Hochschulen das Feld als attraktiv angesehen haben. Die wenigen Firmen, die heute noch führend in der Entwicklung sind, müssen überleben, denn sonst droht uns eine Krise ungeahnten Ausmaßes. Antibiotikaresistenzen verschwinden nicht einfach und es dauert lange neue, wirksame Medikamente gegen die Vielzahl von infektiösen Bakterien zu entwickeln. Im Falle eines großen Ausbruchs wie bei COVID-19 wird es länger dauern, neue Antibiotika zu entwickeln – vor allem wenn die letzten Firmen gezwungen wurden, ihre aktuellen Entwicklungen aus finanziellen Gründen zu stoppen.
 

 

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Zur Person
Dr. Marc Gitzinger ist CEO und Gründer von Bioversys, einer in Basel ansässigen Firma, die neue Antibiotika entwickelt. Er ist außerdem Präsident der BEAM Alliance, die Abkürzung steht für Biotech companies from Europe innovating in Anti-Microbial resistance research. Auch beim neu gegründeten Deutschen Netzwerk gegen Antimikrobielle Resistenzen (DNAMR) engagiert sich Gitzinger.

Die stille Pandemie

Die Gefahr von Antibiotikaresistenzen wird massiv unterschätzt



Berlin (pag) – Zunehmende Antibiotikaresistenzen gelten als stille Pandemie. Obgleich daran weltweit über eine Million Menschen jährlich sterben, scheint das bislang lediglich Experten zu alarmieren. Die Prognosen sind düster, die Appelle an die Politik, zu handeln, werden immer drängender.

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An dramatischen Äußerungen zur Lage fehlt es nicht. Auf die Liste der zehn größten Gefahren für die globale Gesundheit hat beispielsweise die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die zunehmenden Resistenzen gesetzt. Die Welt könnte ins Vor-Penicillin-Zeitalter zurückfallen, 100 Jahre medizinischer Fortschritt würden zunichte gemacht, mahnt WHO-Generalsekretär Dr. Tedros Adhanom Ghebreyesus bereits vor zwei Jahren.


Resistenz bleibt unerwähnt

Dr. Tim Eckmanns, beim Robert Koch-Insitut für die Überwachung von Antibiotikaresistenzen und -verbrauch zuständig, ordnet bei einer Veranstaltung im Jakob-Kaiser-Haus des Bundestags vor einigen Wochen die Situation ganz grundsätzlich ein: Weltweit seien 2019 einer systematischen Analyse zufolge 1,27 Millionen Menschen wegen einer Antibiotikaresistenz gestorben. Bei weiteren 4,95 Millionen, die ebenfalls an antibiotikaresistenten Erregern gestorben sind, sei unklar, ob die Resistenz oder der Erreger alleinige Ursache war. Rechnet man diese Zahlen zusammen, so sind deutlich mehr Menschen wegen einer Antibiotikaresistenz gestorben als an Malaria und HIV/Aids zusammen. Von einer stillen Pandemie spreche man auch deshalb, erläutert Eckmanns, weil dem nicht jedes Mal ein Name gegeben werde. „Die Leute sterben an einer Sepsis oder an einer Pneumonie und die Antibiotikaresistenz wird dabei nicht erwähnt.“ 
Der Public-Health-Experte verweist auf einen bekannten Report zu dem Thema von Dr. Jim O´Neill aus dem Jahr 2014. Demnach werden die Todesfälle wegen Resistenzen auf zehn Millionen in 2050 steigen – wenn man nicht gegengesteuert. Die Kosten veranschlagt der Ökonom in diesem Szenario auf 100 Billionen Dollar global. „Wir müssen handeln“, sagt Eckmanns.

Raus aus dem Kreisverkehr

Apropos Handeln: Bei der Veranstaltung im Bundestag stellt sich das neu gegründete Deutsche Netzwerk gegen Antimikrobielle Resistenzen (DNAMR) vor. Forscherinnen und Forscher öffentlicher Einrichtungen, Start-ups und Pharmaindustrie haben sich als Bündnis zusammengeschlossen, um „mit einer Stimme zu sprechen und die Politik zu involvieren“, wie es Co-Sprecher Prof. Achim Hörauf ausdrückt. Mit seinem Team entwickelt er an der Universität Bonn neue Antibiotika. Aus der universitären Forschungsperspektive sagt er: „Wir wollen als Forscher erfolgreich Antibiotika entwickeln, stehen aber vor dem Problem, was wir mit einem guten Kandidaten machen, wenn die Industrie das Ganze nachher aus finanziellen Erwägungen nicht mehr aufgreifen kann.“ Der Markt in der EU müsse so gestaltet werden, dass sich Antibiotikaforschung wieder lohnt, sagt er in Richtung Politik. „Wir dürfen nicht noch ein paar Jahre im Kreisverkehr bleiben, sondern müssen zu einer Lösung kommen“, fordert Hörauf.

„Furchtbar fragil“

Das verlangt auch Dr. Marc Gitzinger. Der Gründer und CEO von BioVersys, der ebenfalls dem Netzwerk angehört, sagt: „Wenn wir verantwortungsvoll neue Antibiotika verwenden wollen, dann dürfen wir sie nicht verkaufen und das ist ein Problem.“ Gitzinger berichtet aus der Perspektive der kleinen und mittleren Unternehmen (KMU), die mittlerweile bei der Entwicklung neuer Antibiotika eine entscheidende Rolle spielen. Der WHO zufolge sind 80 Prozent der heutigen Entwicklungsbeispiele von KMU. Oft handele es sich um Kleinstunternehmen mit fünf Mitarbeitern, berichtet Gitzinger. „Das ist alles furchtbar fragil: Wir haben null Einnahmen, alles investiert über Investoren und Forschungsgelder.“
In dieser Hinsicht hat sich mittlerweile einiges getan: Nach Angaben des Bundesforschungsministeriums beteiligt sich die Bundesregierung von 2018 bis 2028 mit bis zu 500 Millionen Euro an verschiedenen Programmen. Dazu gehören etwa die „Global Antibiotic Research and Development Partnership“ (GARDP), der „Cobating Antibiotic Resistant Bacteria Biopharmaceutical Accelerator“ (CARB-X), die nationale Wirkstoffinitiative sowie die „European and Developing Clinical Trials Partnership“ (EDCTP). Antibiotikaforschung ist zudem ein Schwerpunkt des Deutschen Zentrums für Infektionsforschung (DZIF), das von Bund und Ländern finanziert wird.

 

Warnung vor der stillen Pandemie (von links): Der Unternehmer Dr. Marc Gitzinger, Universitätsforscher Prof. Achim Hörauf und Public-Health-Experte Dr. Tim Eckmanns nehmen das Problem zunehmender antimikrobieller Resistenzen sehr ernst. © pag, Fiolka

Interesse verschwindend gering

Gitzinger zufolge hat die Forschungsförderung bewirkt, dass die präklinische Forschung wieder neue Innovationen bringe. Weiterhin bestehe jedoch das Problem, dass die Pipeline heute noch immer viel zu „dünn“ sei, es zu wenig neue Medikamente für die Vielzahl von verschiedenen Infektionen gebe. Der Hauptgrund dafür sei, dass sich der Privatsektor fast komplett aus dem Feld der Antibiotika verabschiedet habe, weil es keinen funktionierenden Markt gebe. „Verschwindend gering“ sei das Interesse daran im Vergleich zu Krebs oder der Immunologie, konstatiert der Unternehmer. Er fordert von der Politik neue Vergütungssysteme, die es dem Privatsektor wieder ermöglichten, das Entwicklungsrisiko auf sich zu nehmen, aber im Erfolgsfall auch vergütet zu werden.
Entscheidend dafür ist, die Vergütung vom Verkaufsvolumen zu entkoppeln. Entsprechende Modelle müssen nicht erst mühsam entwickelt werden, sie existieren bereits. Gitzinger nennt das Subscription-Modell, bei dem Staaten den Zugang zu einem neuen Antibiotikum erwerben und zwar unabhängig vom Volumen. Institutionen wie das Robert Koch-Institut oder Experten der Krankenhäuser entscheiden dann, wann das neue Mittel adäquat eingesetzt wird (siehe Abbildung). Bei der Transferable Exclusivity Extension (TEE) geht es dagegen im Wesentlichen um einen Gutschein, den eine Firma erhält, die ein neues Antibiotikum entwickelt hat. Diesen kann sie selbst verwenden oder an einen anderen Hersteller weiterverkaufen, der ein hochlukratives Medikament hat und mit dem Kauf eine längere Marktexklusivität erwirbt, erläutert Gitzinger.
Für die EU-Ebene sei eher das TEE-Modell geeignet findet er, nationale Regelungen sollten ergänzend etabliert werden. Wichtig sei, dass endlich nachhaltig und sinnvoll gehandelt werde, appelliert er an die Politik und erinnert daran, dass die meisten modernen medizinischen Eingriffe – vom Kaiserschnitt bis zur Krebstherapie – nicht ohne den Zugang zu wirksamen und funktionierenden Antibiotika funktionierten. „Es geht damit um nichts weniger als das Bestehen unseres modernen Gesundheitssystems.“
 

Hauptgründe für zunehmende Resistenzbildungen

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•  Falscheinsatz in der Humanmedizin: In vielen Ländern sind Antibiotika ohne Rezept erhältlich. Patienten schlucken sie wie Bonbons, auch wenn sie   gar nicht wissen, ob überhaupt eine Bakterieninfektion vorliegt. Dazu kommt, dass die Medikamente zu kurz genommen werden. Nicht alle Erreger werden getötet, was die Bildung von Resistenzen begünstigt. Auch in Deutschland werden Antibiotika zu oft falsch eingesetzt.

•  Massive Nutztierhaltung: Antibiotika eignen sich in der Tiermast nicht nur zur (prophylaktischen) Behandlung kranker Schweine, Rinder, Hühner oder Puten. Sie befördern offenbar auch das Wachstum. Dieser Einsatz zwecks Mästung ist in der Europäischen Union immerhin seit 2006 verboten. Seit diesem Jahr ist die prophylaktische Gabe von Antibiotika europaweit unzulässig. Von den Ställen können resistente Erreger oder Antibiotika selbst auf vielfältige Weise in die Umwelt gelangen.

•  Ein weiterer Weg, über den Antibiotika in die Umwelt gelangen, sind die Kläranlagen. Denn der menschliche Organismus verstoffwechselt antimikrobielle Wirkstoffe nur zum Teil und scheidet einen nennenswerten Anteil wieder aus. Von der Toilette geht’s in die Kläranlage und von dort aus wieder in die Gewässer sowie mit dem Klärschlamm in die Böden. „Abwässer aus Krankenhäusern oder Privathaushalten können also zur Resistenz-Problematik beitragen“, heißt es in dem DART-2020-Bericht (Deutsche Antibiotika-Resistenzstrategie).

•  Daneben entpuppen sich manche Antibiotika-Produktionsstätten, vor allem in Asien, als Resistenz-Quelle, weil Abfälle und Abwässer nicht ordnungsgemäß entsorgt werden. Keime werden aber auch durch den weltweiten Handel von Tieren und Lebensmitteln sowie durch Fernreisende um die Erdkugel transportiert. 34 Prozent der Globetrotter kehren mit Darmbakterien heim, die Stoffe produzieren können, welche Antibiotika wirkungslos machen.

Der gerechte Preis

Arzneimittel als Heilsbringer und Kostenfalle

Berlin (pag) – Zolgensma, das derzeit als das teuerste Medikament der Welt gilt, hat die Debatte um angemessene Arzneimittelpreise neu angefacht, die zuvor das Hepatitis-C-Medikament Sovaldi ausgelöst hat. Weitere hochpreisige Arzneimittel werden für die kommenden Jahre erwartet. Auf seiner Jahrestagung mit dem Titel „Hohe Preise, gute Besserung?“ diskutiert der Deutsche Ethikrat über den solidarischen und gerechten Umgang mit neuen teuren Medikamenten.

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Zolgensma, ein Gentherapeutikum gegen spinale Muskelatrophie, kostete bei Markteinführung in Deutschland mehr als zwei Millionen Euro pro einmalig notwendiger Dosis. Kaftrio, ein hochwirksames Medikament gegen die Symptome von Mukoviszidose, schlägt im Jahr mit 275.000 Euro je Patientin oder Patient zu Buche. Der Ethikrat weist auf die Herausforderungen hin, die solch hohe Preise mit sich bringen: Angesichts begrenzter Ressourcen in einem solidarischen Gesundheitswesen gelte es, die Ansprüche von allen Versicherten auf bestmögliche Behandlung, aber auch die von forschenden Arzneimittelherstellern auf Refinanzierung ihrer Investitionen gegen das Erfordernis abzuwägen, Gesundheitskosten und insbesondere Krankenkassenbeiträge nicht beliebig ansteigen zu lassen.

Paradoxien und Aufreger

Die Jahrestagung des Gremiums wirft verschiedene Schlaglichter auf dieses hochkomplexe Thema, das „voller Paradoxien und Aufreger“ steckt, wie es Prof. Bertram Häussler vom IGES Institut ausdrückt. Im ersten Vortrag der Veranstaltung nennt er einige aufschlussreiche Zahlen: Den Aufschlag der gesetzlichen Krankenversicherung für Forschung und Entwicklung (F&E) beziffert er etwa auf elf Milliarden Euro pro Jahr. 90 Prozent der Arzneimittel seien für einen Durchschnittspreis von 30 Cent pro Tag zu haben. Und: Mit 330 Milliarden seien die weltweiten F&E-Ausgaben – die öffentlichen sind darin inkludiert – so hoch wie ein Viertel der Verteidigungsausgaben aller NATO-Staaten.
Der Institutschef stellt außerdem Preisbildungsmechanismen von Arzneimitteln dar. Alter und Menge seien wichtige Steuerparameter. Nach Ablauf des Patents falle der Preis stark. Je mehr Patienten es gebe, an die das Medikament abgegeben werden kann, desto geringer der Preis, denn in diesem Fall verteile sich die Ausgabensumme für F&E auf mehr Einheiten.
Die Ausgaben für F&E eines neuen Arzneimittels wurden in einer Studie aus dem Jahr 2003 auf 400 Millionen Dollar beziffert, dabei eingerechnet sind auch die Kosten für die Misserfolge anderer Arzneimittelentwicklungen. Häussler weist außerdem auf eklatante Preisunterschiede zwischen den verschiedenen Krankheitsgebieten hin: Für Herz-Kreislauf-Erkrankungen werde immer weniger ausgegeben, solche Medikamente „kosten ja nur noch einen Cent pro Tag und mit Rabatten sind das zwei Drittel Cent pro Tag“. Anders sehe es in der Onkologie aus, ein Bereich mit derzeit vielen Neuzulassungen.

Forschung in Kenia

Den stetigen Strom an Innovationen nennt der Arzneimittel-Experte das „Weltkulturerbe der Pharmazie“. Vor 20 Jahren hätten nur acht Länder dazu beigetragen, mittlerweile seien es bereits 25. Von Indien und China werde man in den nächsten fünf Jahren viel mehr sehen, prophezeit Häussler. Er geht insgesamt von einer „Pluralisierung, Liberalisierung und Demokratisierung“ des Forschungsgehens aus. Demnächst werde beispielsweise in Kenia ein forschendes Pharmaunternehmen an den Start gehen. Möglich sei das, weil Technologie und Kapital transportabel sind. Außerdem würden bereits 29 Prozent der Arzneimittel von Ein-Produkt-Firmen eingebracht. Dagegen käme von Big Pharma, das heißt sechs Firmen, 19 Prozent der Arzneimittel. „Ganz viele der kleinen forschungsgetriebenen Pharmafirmen laufen heutzutage vom Homeoffice aus, die Prozesse werden fast nur noch virtuell geleitet“, berichtet Häussler. Die von ihm erwartete Verbreitung von Forschungsaktivitäten in Länder, die in diesem Bereich vorher noch nicht aktiv waren, hält er insbesondere vor dem Hintergrund der globalen Gerechtigkeitsdiskussion für eine faszinierende Botschaft.

Verbluten, verkrüppeln, verarmen

Entscheidende Therapiefortschritte für Hämophilie-Patienten: Virussichere aus menschlichem Blut hergestellte Konzentrate sowie gentechnisch hergestellte Konzentrate mit einer verlängerten Halbwertszeit, sodass sich die Patienten nicht mehr alle zwei Tage spritzen müssen. © stock.adobe.com, dusanpetkovic1

Zwei Impulse auf der Jahrestagung berichten direkt aus der Versorgungsperspektive. Das ist zum einen der Mukoviszidosepatient Stephan Kruip, der auch Mitglied des Ethikrats ist, und zum anderen die Ärztin Prof. Bettina Kemkes-Matthes vom Universitätsklinikum Gießen und Marburg. Letztere berichtet von den enormen Therapiefortschritten bei der Hämophilie. Früher habe den Patienten die vom Mediziner Rudolf Marx geprägten „drei Vs“ gedroht: verbluten, verkrüppeln, verarmen. Heutzutage könnten sie ein weitgehend normales Leben führen. „Unsere Patienten verbluten nicht mehr wie vor 100 Jahren, sie sterben nicht mehr an Infektionen wie vor 50 Jahren, sondern sie sterben an ‚normalen‘ Todesursachen“, betont die Medizinerin.
Zu den durch die Industrie ermöglichten Fortschritten zählt sie virussichere aus menschlichem Blut hergestellte Konzentrate sowie gentechnisch hergestellte Konzentrate mit einer verlängerten Halbwertszeit, sodass sich die Patienten nicht mehr alle zwei Tage spritzen müssen. Doch auch die Kosten verschweigt sie nicht: Allein die Konzentrate kosteten 900 Millionen Euro jährlich, jeder gesetzlich Versicherte zahle damit zwölf Euro pro Jahr für die Therapie. „Die Lebensqualität und das Überleben des Patienten ist ganz klar davon abhängig, wie viel finanzielle Mittel für ihn verfügbar sind“, lautet ihr Fazit.

Unbezahlbarer Zusatznutzen

Der Mukoviszidosepatient Kruip beleuchtet den finanziellen Aspekt noch ausführlicher am Beispiel des Medikaments Kaftrio, das für Betroffene einen, so stellt er klar, „unbezahlbaren“ Zusatznutzen habe: „Das ist so entscheidend für die Verbesserung der Lebensqualität, der Gesundheit, der Lebenserwartung, der Möglichkeiten Geld zu verdienen, auch Partner zu kriegen, Kinder zu bekommen – in den letzten Jahren ist die Zahl der Schwangerschaften bereits bei Mukoviszidosepatienten angestiegen – dass wir auf dieses Medikament nie mehr verzichten wollen.“ Aus Sicht der Betroffenen müsse der Zugang zu diesem Medikament dauerhaft und weltweit gesichert sein. Die Voraussetzung dafür sei ein fairer und nachhaltiger Preis.

Basierend auf den Jahrestherapiekosten von 250.000 Euro rechnet Kruip vor, dass in Deutschland Medikamentenkosten von 1,3 Milliarden Euro jährlich entstehen würden, wenn das Mittel von 80 Prozent der 6.500 Mukoviszidosepatienten genommen werden würde – vorausgesetzt der gegenwärtige Preis bleibt bestehen. Kruip hat Kriterien zur Rechtfertigung des Preises entwickelt (siehe Infokasten).

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Kriterien zur Rechtfertigung eines Medikamentenpreises
Stephan Kruip auf der Jahrestagung des Deutschen Ethikrates
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Kriterium 1: Angebot und Nachfrage
Kriterium 2: Herstellungskosten
Kriterium 3: Return on Investment
Kriterium 4: Einsparung bei anderen Therapien
Kriterium 5: Kann dieser Preis auf andere seltene Erkrankungen übertragen werden?
Kriterium 6: Qualitätsadjustiertes Lebensjahr (QALY)
Kriterium 7: Solidarische Krankenversicherung
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Zu seinem siebten Kriterium „Solidarische Krankenversicherung“ führt er aus, dass 78 völlig gesunde Versicherte ihren monatlichen Beitrag von 270 Euro nur dafür zahlen müssten, um für einen Patienten das Medikament Kaftrio zu finanzieren. Kruip fragt sich daher, „wann diese Solidarität überspannt wird“.

Auch das Thema Verteilungsgerechtigkeit wird am Beispiel Mukoviszidose konkret fassbar. Kruip kritisiert einen Geldmangel in der Versorgung, insbesondere bei den Spezialambulanzen. „Wir brauchen 400 Euro pro Monat und Patient, um diese zu finanzieren“. Die Krankenhäuser bekämen nur einen Bruchteil davon und jene, die es gut machten, würden bestraft. „Hier geht es um zwei Prozent der Medikamentenkosten und das macht uns natürlich Sorgen.“

Der Patientenvertreter plädiert unter anderem im AMNOG für einen Interimspreis – ein Vorschlag, den der AOK-Bundesverband bereits vor einiger Zeit ins Spiel gebracht hat.

Nutzen versus Gleichbehandlung

Darüber hinaus fordert er grundsätzlich eine gesellschaftliche Aushandlung und öffentliche Diskussion dazu, wo Grenzen zu ziehen seien und ob es Limitierungsentscheidungen geben sollte – und wenn ja, wo.

Der Theologe Prof. Markus Zimmermann geht in seinem Vortrag anschließend der Frage nach, wer über den Zugang zu neuen Medikamenten entscheiden sollte. Unstrittig sei, dass die konkrete Entscheidung von der zuständigen politischen Behörde gefällt werden müsse. Idealerweise auf Grundlage von evidenzbasiertem Wissen über Wirksamkeit, zuverlässigen Berechnungen der Kosteneffektivität und des Zusatznutzens sowie auf Basis einer interdisziplinären HTA-Untersuchung, bevor dann eine Empfehlung – und keine Entscheidung – an eine von all diesen Vorarbeiten getrennte funktionierende Beschlussinstanz abgegeben wird, erläutert Zimmermann.

Durchaus unterschiedlich werde allerdings gehandhabt, wer über die Gewichtung der genannten Elemente befindet. In einigen Ländern wie Schweden oder Großbritannien wurde dabei die Öffentlichkeit in Form von Bürgerforen beziehungsweise Citizen Councils einbezogen, berichtet der in der Schweiz lehrende Professor. Dort setze man auf das Votum eines Expertengremiums. Allerdings habe die Nationale Ethikkommission im Bereich Humanmedizin, deren Vizepräsident Zimmermann ist, der Schweiz empfohlen, von Schweden zu lernen und öffentliche Prozesse zu fördern. So soll abgesichert werden, dass Entscheidungen zum Zugang zu teuren Medikamenten auf tatsächlich vertretenden Werthaltungen beruhen. „Klar scheint uns, dass HTA-Empfehlungen zur Finanzierungspraxis von Medikamenten stets auch Werturteile beinhalten und daher auch nicht rein technokratisch beantwortet werden können und somit geht es bei dem Ganzen auch um die Frage des staatlichen Paternalismus in diesem Bereich.“

 

Prof. Markus Zimmermann © Deutscher Ethikrat, R. Zensen

Was ist die „Rule of Rescue“
Bei Fragen der Verteilungsgerechtigkeit wird meist über geeignete Allokationskriterien diskutiert. Bei der Jahrestagung des Ethikrats unterscheidet der Theologe Prof. Markus Zimmermann zwischen prozeduralen wie transparente Begründung und inhaltlichen. Zu letzteren zählt er das Menschenwürde-, Bedürftigkeits-, Solidaritäts-, Wirksamkeits- und Nutzenprinzip. Die Prinzipien an sich seien kaum umstritten, ihre Anwendung in den einzelnen Bereichen aber durchaus. Ein besonders schwieriges Thema sei beispielsweise die „Rule of Rescue“. Dabei geht es um die im individuellen Ethos verankerte spontane Neigung, Menschen in Not zu helfen – auch dann, wenn die dafür aufzuwendenden Mittel irrational hoch sind und dann in der Folge an anderen Stellen fehlen. „Was auf der Mikroebene zu begrüßen ist, kann auf der politischen Makroebene das Dilemma aufwerfen, bei der Ressourcenallokation zwischen Menschen in akuter Not und Menschen, die aufgrund der dann getroffenen Entscheidung später in Not geraten werden, entscheiden zu müssen“, erläutert Zimmermann. Ein aktuelles Beispiel sei die im Frühjahr 2020 getroffene Entscheidung, alle Kräfte bei der Intensivmedizin zu bündeln, um dort Leben zu retten. Die unbeabsichtigte Nebenfolge bestehe darin, dass Menschen mit Tumorerkrankungen jetzt sterben, weil sie viel zu spät behandelt wurden.
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Genommedizin für alle?

Initiativen und Verzögerung auf dem Weg zur Regelversorgung

Berlin (pag) – Genommedizin hat das Potenzial, die Prävention, Diagnose und Behandlung von bestimmten Krankheiten entscheidend zu verbessern. Allerdings ist sie hierzulande noch nicht in der Regelversorgung angekommen. Zwei Initiativen leisten dafür derzeit die Vorarbeit und sollen künftig besser miteinander verzahnt werden. Doch der Weg zur flächendeckenden Teilhabe am medizinischen Fortschritt ist steinig.

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Die Genommedizin nutzt Sequenzinformationen für eine genetische Diagnostik und klinische Interpretation der individuellen Erbinformation. Ärztinnen und Ärzte können damit Krankheiten immer besser diagnostizieren sowie optimale Präventionsmaßnahmen und Therapien einleiten. Eine personalisierte Medizin, basierend auf Erkenntnissen der Analyse des individuellen Erbmaterials eines einzelnen Menschen, ist damit in greifbare Nähe gerückt. So erklärt das Bundesgesundheitsministerium (BMG) diesen innovativen medizinischen Ansatz, der bereits heute in Deutschland erfolgreich eingesetzt wird. Allerdings noch längst nicht bei allen Patienten, die davon profitieren könnten, denn regelhaft steht dieses Versorgungsangebot noch nicht zur Verfügung.

Als Wegbereiter dafür gilt die 2019 vom BMG gestartete und mit über acht Millionen Euro unterstützte Initiative genomDE. Sie soll Standards für den klinischen Einsatz von Genomdiagnostik, die qualitätsgesicherte Sequenzierung und die interdisziplinäre Auswertung der Sequenzdaten etablieren. Auch eine bundesweite Plattform für diagnostisch erhobene genetische Daten soll konzipiert und aufgebaut werden. Diese soll ein immer wieder postuliertes Ziel verwirklichen, nämlich Gesundheitsversorgung und Forschung miteinander zu verbinden.

Es hängt am Vertrauen

Bei dem genomDE-Symposium im Juli betont Petra Brakel, Leiterin der Unterabteilung Medizinprodukte, Apotheken und Betäubungsmittel im BMG, dass die datenbasierte Versorgung eine ganz grundlegende Voraussetzung habe: das Vertrauen aller Beteiligter – insbesondere aller Patientinnen und Patienten – in die sicherheitstechnischen, die datenschutzrechtlichen und ethischen Standards, die in diesem Verfahren eingesetzt werden. Dafür werde genomDE konkrete Lösungsansätze entwickeln.
Zur Anwendung kommen sollen diese in einem weiteren Projekt, dem Modellvorhaben Genomsequenzierung nach Paragraf 64e SGB V, das kurz vor Ende der vergangenen Legislatur mit dem Gesetz zur Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung auf die Schiene gesetzt wurde. Ziel dieses Projektes ist die Implementierung einer umfassenden Diagnostik und personalisierten Therapiefindung bei seltenen und onkologischen Erkrankungen mittels umfangreicher Genomsequenzierung – und zwar im Rahmen eines strukturierten klinischen Behandlungsablaufs. Die Regelung soll nach erfolgreicher Evaluation Eingang in die Regelversorgung erhalten. Die Laufzeit beträgt fünf Jahre.

Nicht mit der Schrotflinte

BMG-Vertreterin Brakel hebt die Bedeutung des Modellvorhabens klar hervor: Man lege damit die Basis für eine innovative, bundesweit einheitliche und qualitativ hochwertige Genomdiagnostik bei seltenen und onkologischen Erkrankungen. „Wir stellen damit sicher, dass alle Versicherten der gesetzlichen Krankenversicherung und nicht nur diejenigen, deren Krankenkasse gegebenenfalls schon ein Projekt betreibt, Zugang zu diesen Versorgungsformen haben.“
Johannes Wolff vom GKV-Spitzenverband betont in seinem Vortrag vor allem den Modellcharakter. Man versuche, einen Startpunkt zu finden, es gehe aber nicht darum, eine Flächendeckung und Regelversorgung zu etablieren und alle denkbaren Indikationen einzubeziehen. Bezüglich der teilnehmenden Patienten weist Wolff darauf hin, dass der Erkenntnisgewinn „voraussichtlich wesentlich“ sein müsse: Klinisch relevanter Mehrwert für die Behandlung oder wesentliche Erkenntnis für die Diagnose lauten die Stichwörter. Das ist auch für die vorgesehene Evaluation von entscheidender Bedeutung, denn: „Je mehr wir mit der Schrotflinte auf das Thema Genomsequenzierung schießen, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass das Ergebnis nicht so überzeugend ist“, ist der Kassenvertreter überzeugt. Er empfiehlt, sich auf jene Bereiche zu konzentrieren, in denen den Patienten bei der Versorgung ein Nutzen entsteht, um gleichzeitig zu vermeiden, dass sie „genauso früh sterben, aber doppelt so teuer“ sind.

Ein herber Schlag

Wolff zufolge sind derzeit 20 Krankenhäuser an den Vertragsverhandlungen mit dem GKV-Spitzenverband beteiligt, nachdem anfangs 52 Anträge von 29 Kliniken eingegangen waren (27 für den Bereich Onkologie, 25 für seltene Erkrankungen). Ihm ist es wichtig hervorzuheben, dass es sich um ein dynamisches Vertragswerk handele. Beispielsweise kann der Kreis der teilnehmenden Häuser größer werden, auch der Beitritt der PKV ist gesetzlich vorgeschrieben. Anpassungen an andere Indikationen und neue Vergütungen sollen ebenfalls regelmäßig überprüft werden.
Der Startschuss für dieses mit Spannung erwartete Modellvorhaben soll allerdings nicht, wie ursprünglich vorgesehen, Anfang 2023 fallen. Wie auf dem Symposium bekannt gegeben wird, geht es erst im Januar 2024 los. Ein Jahr länger zu warten, mag für die Akteure des Gesundheitswesens hinnehmbar sein, für die betroffenen Patientinnen und Patienten ist es jedoch ein herber Schlag.

 

Infokasten: Stichwort wissensgenerierende Versorgung
Auf dem Symposium unterstreicht Dorothee Andres, ebenfalls BMG, dass  die Initiative genomDE das für das Modellvorhaben Genomsequenzierung  wichtige Konzept einer wissensgenerierenden Versorgung erarbeite. Auch Sebastian Semler, Geschäftsführer der Technologie- und Methodenplattform für die vernetzte medizinische Forschung, hebt hervor, dass die Basis von genomDE ein wissensgenerierendes Versorgungskonzept für Patientinnen und Patienten sein werde.Dieses werde die Nutzung von klinischen und assoziierten genomischen Daten für   die individuelle Behandlung sowie für die Forschung zur kontinuierlichen Verbesserung von Diagnostik und Therapie ermöglichen. Die notwendigen Eckpunkte für eine wissensgenerierende Versorgung erläutert auf der Veranstaltung der Onkologe Prof. Michael Hallek, Universitätsklinikum   Köln. Dazu zählt er neben dem spezifischen Wissen zu den jeweiligen Krankheitsbildern die Einbeziehung translationaler Spitzenforschung an großen, vernetzten Zentren sowie die Schaffung weiterer vernetzter Strukturen. Wichtig sei eine reibungsfreie Interaktion von Leistungserbringern und forschenden Einrichtungen. Digitalisierung und  Interoperabilität der Datenbewirtschaftung seien ebenfalls wichtige Bausteine, ebenso wie der Abbau bürokratischer Hürden und spezielle Managementkompetenzen.

Der Stellenwert von Diagnostika

Neue Wertschätzung für Tests und Co.?

Berlin (pag) – Durch die Pandemie kennen heutzutage selbst Laien PCR-Tests und andere Diagnostika. Im fünften Teil der Veranstaltungsreihe „Aufbruch in eine neue Dynamik“ von Gerechte Gesundheit diskutieren Experten Probleme und Chancen des Leistungsbereichs.

Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) berücksichtigt nach Überzeugung des Gesundheitsökonomen Prof. Jürgen Wasem, Universität Duisburg-Essen, nicht nur Qualität und Nutzen der Diagnostika, sondern auch deren Kosten. Allerdings habe das Gremium eine „verkürzte Sicht“ auf die Gesundheitsökonomie. Damit meint Wasem: Eigentlich müssten die Grenzkosten und -nutzen von mehr Diagnostik einschließlich der Krankheitskonsequenzen betrachtet werden. Oft verstecke der G-BA allerdings die Wirtschaftlichkeitsdimension „unter einem kritischen Nutzenblick“. Anstatt zu sagen, dass etwas zwar nütze, aber zu teuer sei, erkenne das Gremium den Nutzen nicht an – um dem Eindruck der Rationierung entgegenzuwirken.

 

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Eher zu wenig als zu viel

„Der Einsatz von Diagnostika in der medizinischen Versorgung hängt ganz zentral von den Anreizen für die Leistungserbringer ab“, konstatiert Wasem bei der Talkrunde. Die Anreize seien darauf ausgerichtet, eher zu wenig als zu viel Diagnostik zu machen. Im Krankenhaus sei der Großteil der Diagnostik in den DRGs einbudgetiert. „Das Krankenhaus, das mehr Diagnostik macht, hat also mehr Kosten und nicht mehr Erlöse.“ Das gelte auch für die ambulante Versorgung und den Laborbereich. Man müsse daher ein Anreizsystem finden, „bei dem es sich nicht scharf nachteilig auswirkt, wenn ich mehr Diagnostik mache“. Wasem schlägt vor, bei NUB-Ausgleich und extrabudgetären Leistungen nachzujustieren.

Mit Blick auf das Positionspapier des Verbands der Diagnostica-Industrie (VDGH), in dem kritisiert wird, die GKV priorisiere Kostendämpfung gegenüber Innovationen, stellt Wasem klar: „Innovationsförderung als solche ist nicht Aufgabe der GKV.“ Vielmehr sei es ihre Aufgabe, für die Patienten nützliche Innovationen in die Versorgung zu bringen.

Es wird zu wenig getestet

Dr. Michael Müller, Vorstandsvorsitzender des Verbands der akkreditierten Labore in der Medizin (ALM), berichtet von den Schwierigkeiten im Winter 2020/2021, die nötigen Kapazitäten für Coronatests bereitzustellen. Ein Jahr später werden trotz wesentlich höherer Kapazitäten weniger Tests durchgeführt. „Es wird zu wenig getestet“, mahnt Müller auf der Veranstaltung im November, „und das bedeutet auch, dass wir aktuell eine Untererfassung haben“. Gleichzeitig führe die Pandemie zu einem deutlichen Rückgang der Laborüberweisungen bei anderen Krankheiten wie Diabetes, Nieren- oder Infektionserkrankungen. „Bis zu 80 Prozent weniger wurden solche diagnostischen Leistungen abgefragt.“ Es sei wichtig, in der Pandemie die Grundversorgung aller anderen akuten und chronischen Erkrankungen aufrechtzuerhalten, appelliert Müller

Hoffnung auf ursächliche Therapie bei Alzheimer

Die Bedeutung einer frühzeitigen Diagnostik stellt Prof. André Fischer vom Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen am Beispiel Alzheimer dar. Bei der Diagnose der Erkrankung gebe es ein grundlegendes Problem: „Die Patienten werden zu einem Zeitpunkt diagnostiziert, wo eine ursächliche Therapie scheitern muss.“ Meist gingen die Betroffenen erst in eine Klinik, wenn jemandem etwas an ihrem Verhalten auffalle. Zu diesem Zeitpunkt sei die Degeneration des Gehirns aber bereits zu weit fortgeschritten. Bereits heute sei es möglich, Alzheimerpatienten mittels Nervenwasser-Analyse oder MRT zu diagnostizieren, das ist jedoch „invasiv, infrastrukturell sehr aufwendig und kostenintensiv“, bemängelt Fischer.

Große Hoffnungen setzt er auf screeningfähige Biomarker, microRNA-Signaturen, zur Früherkennung von Risikopersonen. Diese seien minimalinvasiv, einfach und kostengünstig. Die so identifizierten Menschen könnten dann die diagnostischen Verfahren erhalten und hätten eine Chance auf eine ursächliche Therapie. Die Entdeckung befindet sich im Forschungsstadium und muss noch bestätigt werden. Fischer erhofft sich eine Praxistauglichkeit in weniger als zehn Jahren, zum Beispiel in Form eines Lateral Flow Tests.

Neue EU-Verordnung bereitet Probleme

Dr. Martin Walger, Geschäftsführer des VDGH, legt in seinem Impulsvortrag einen Schwerpunkt auf die neue europäische IVD-Verordnung, die im Mai 2022 in Kraft tritt. Diese sorge für massive Verschärfungen für Hersteller und benannte Stellen. „Leider muss man sagen, was die Brüsseler Beamten sich da ausgedacht haben, geht ziemlich an der Sache vorbei“, sagt der Experte. Mitte Oktober hat die EU-Kommission einen Änderungsvorschlag eingereicht, der den beteiligten Ländern längere Übergangsfristen einräumen würde.

Zum Zeitpunkt der Veranstaltung waren erst sechs von 22 geplanten benannten Stellen nach dem neuen Recht anerkannt, denn für sie gelten schärfere Vorgaben zum Beispiel beim Personal. Gleichzeitig drängen mehr IVD auf den Markt. Laut Walger gibt es vier- bis fünfmal so viele Produkte, die den Prozess mit einer benannten Stelle durchlaufen müssen. Dies führe zu einem „ganz schwierigen Engpass“, der die flächendeckende Versorgung mit IVD infrage stellt. „Wenn wir im Mai 2022 ohne geänderte Übergangsregelungen so in die Versorgung starten würden, dann werden wir sehen, dass ein erheblicher Teil der Produkte bis dahin gar kein neues CE-Kennzeichen bekommen kann.“

Eine neue Dimension der Medizin

Was hinter dem Konzept von Disease Interception steckt

Berlin (pag) – „Megatrends sind Mindchanger“, sagt Harry Gatterer vom Zukunftsinstitut. Sie verändern die Denke. Ein solcher Mindchanger könnte das Konzept von Disease Interception für die Medizin sein. Welche Chancen und Herausforderungen sind damit verbunden?  

Die Medizin bekommt eine neue Dimension: Es geht nicht mehr nur ums Heilen, sondern auch darum, Krankheiten zu verhindern, bevor sie ausbrechen. Das ist das Grundprinzip von Disease Interception. Dabei gelingt es Ärzten, mithilfe von Biomarkern die Entwicklung einer Krankheit nachzuweisen, noch bevor der Patient überhaupt Symptome hat. Das ist die eine Voraussetzung. Das zeitige Aufspüren ermöglicht eine frühzeitige Therapie, durch die die Erkrankung unterbrochen und das symptomatische Stadium gar nicht erst erreicht wird. Die zweite Voraussetzung für eine erfolgreiche Disease Interception besteht darin, dass wirksame Therapieansätze existieren. Ist das alles noch Zukunftsmusik oder stecken bereits konkrete Anwendungsfälle dahinter?

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Fortschritte in der molekularen Medizin

„Das aktuell diskutierte Konzept Disease Interception ist auf der einen Seite noch Vision, auf der anderen Seite ist aber klar zu erkennen, dass es anfängt, Realität zu werden“, sagt Dr. Jasper zu Putlitz. Er ist Arzt, ehemals Kliniker und jetzt Industrieexperte in Frankfurt am Main und beschäftigt sich mit der Zukunft der Medizin. In der Forschung weltweit wird bereits intensiv nach Ansätzen gesucht, Anzeichen für Krankheiten möglichst früh mittels Biomarkern zu entdecken und zu therapieren – in der Hoffnung, dass sie erst gar nicht ausbrechen, im Idealfall sogar schon geheilt werden können, bevor sie Symptome entwickeln.

„Wenn man den Genotyp hochauflösend betrachtet, dann hat jeder von uns irgendwelche Makel“, sagt Christof von Kalle. © pag, Fiolka

Indikationen, in denen Ärzte, Wissenschaftler und Pharmafirmen Chancen für eine Disease Interception sehen, gibt es einige. Besonders geeignet für diese neue Art der individualisierten und personalisierten Medizin sind Krankheiten, die sich über Jahre mit Vorstufen entwickeln. Dazu gehören beispielsweise Krebs, rheumatoide Arthritis oder auch psychiatrische Erkrankungen (siehe Infokasten weiter unten).
Baldige Lösungen könnte es bei Erkrankungen geben, „bei denen wir die molekularen Ursachen der Entstehung kennen, aber noch Probleme in der Umsetzung haben“, sagt Prof. Christof von Kalle, der die Professur auf Lebenszeit für Klinisch-Translationale Wissenschaften am Berlin Institute of Health und der Charité innehat und das gemeinsame Studienzentrum leitet. „Fortschritte in der molekularen Medizin haben uns ermutigt, so etwas wie Disease Interception zu denken und uns damit zu beschäftigen“, sagt von Kalle.

Digitalisierung befördert Disease Interception

Befördert wird der Vorstoß in die neue Dimension zusätzlich durch die Digitalisierung. Die Technik hilft, den menschlichen Bauplan und die Zusammenhänge zwischen Erbanlagen und Umwelteinflüssen besser zu verstehen. Genom-, Proteom- und Mikrobiomanalysen werden dank Computern einfacher und schneller. Künstliche Intelligenz und Algorithmen unterstützen bei der Auswertung unterschiedlichster, teils unvorstellbar großer Datenmengen und liefern Mustererkennungen, die Ärzten Hinweise geben, wo mögliche Ansatzpunkte für eine Frühintervention liegen können. Das Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf etwa führt zurzeit zusammen mit dem Universitätsspital Zürich eine Ganzgenomsequenzierung von 9.000 Probanden durch, um über diese Bioproben neue Optionen zur Prävention, Diagnostik und Therapie von Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu entwickeln.

Hoffnungen und Herausforderungen

Disease Interception weckt viele Hoffnungen, wirft aber auch grundsätzliche Fragen auf. Zum Beispiel: Wenn eine Krankheit noch gar nicht symptomatisch ist, müssen die Krankenversicherungen Disease-Interception-Maßnahmen überhaupt zahlen? Und wenn ja: Wie sicher muss die Prognose sein, dass die Krankheit ausbrechen wird? Biomarker, die mit hundertprozentiger Sicherheit das Auftreten einer Krankheit voraussagen können, wird es so schnell nicht geben. Denn bei den meisten Erkrankungen spielen nicht nur die körperliche Prädisposition, sondern auch weitere Faktoren wie Umwelteinflüsse oder Lebensstil eine wichtige Rolle bei der Entstehung. Bei Disease Interception wird es eine elementare Frage sein, ab welcher Wahrscheinlichkeit „Patienten“ unter Beobachtung gesetzt werden, um dann zum richtigen Zeitpunkt – im „Interception Window“ – mit der frühzeitigen Behandlung zu beginnen. Ein weiteres Thema, das nicht vernachlässigt werden darf, ist das Recht auf Nichtwissen.
Die Krankenkassen haben das Thema als Zukunftstrend entdeckt, meint Franz Knieps. Der Vorstand des BKK Dachverbands rechnet in den nächsten drei bis fünf Jahren mit Disease-Interception-Behandlungen. Allerdings seien die bisherigen Rahmenbedingungen im SGB V an vielen Stellen – im Leistungsrecht, in den Erstattungs- und Bepreisungsfragen – überhaupt nicht darauf vorbereitet. Knieps geht sogar so weit zu fragen, „ob es heute überhaupt zulässig wäre, Arzneimittel im Rahmen von Disease Interception einzusetzen“. Bislang gebe es nämlich eine Begrenzung der Arzneimittel auf die Behandlung akuter oder chronischer Erkrankungen – und somit nicht für den Einsatz in der Prävention. Weiterentwicklungsbedarf sieht der Kassenexperte außerdem bei der Nutzenbewertung.

Neue Formen von Wissen

Auch die Medizinethikerin Prof. Alena Buyx hat sich mit Disease Interception beschäftigt. Bereits 2013 hat der Deutsche Ethiktrat eine ausführliche Stellungnahme zur „Zukunft der genetischen Diagnostik“ veröffentlicht. Das Thema ist seitdem immer komplexer geworden, meint die Vorsitzende des Gremiums. Sie sieht enormes Potenzial für die Medizin. „Aber wir müssen verstehen, dass es hier um neue Formen von Wissen und Verständnis von Krankheitsrisikofaktoren geht, mit denen wir lernen müssen umzugehen.“ Buyx denkt bei Disease Interception über ganz neue Berufe nach, um Patienten durch das Dickicht zu bringen. Anstatt Ärzte damit zu überlasten, hält sie zusätzliche Hilfsberufe wie etwa den Health Information Consultant für sinnvoll.
Neue Berufe wären sinnvoll – und möglicherweise auch eine neue gesetzliche Norm? Letzteres hält der Sozialrechtler Prof. Stefan Huster für überlegenswert. Wie Buyx beschäftigt auch er sich bereits seit einigen Jahren mit Disease Interception. Anlass dafür ist ein interdisziplinäres Forschungsprojekt zur prophylaktischen Masektomie gewesen (siehe Infokasten).
Bei dem Projekt ging es unter anderem um die Frage, wer die prophylaktische Masektomie bezahlt. Bei dem Krankheitsbegriff ein „Riesenproblem“, sagt Huster. Bevor dieser immer weiter aufgeweicht werde, hält er es für sinnvoller, bei Fällen wie dem erblichen Brustkrebs oder eben für Disease Interception einen „eigenen Tatbestand, eine eigene Norm“ zu schaffen. Die Norm müsste dann wiederum untergesetzlich weiter konkretisiert werden. Diese Aufgabe sieht der Rechtswissenschaftler von der Ruhr Universität Bochum beim Gemeinsamen Bundesausschuss.

Eine Welt der Gesunden …

Festzuhalten bleibt, dass es Erkenntnisse darüber, ob Disease Interception wirkt und somit nützlich ist, erst nach Jahren und Jahrzehnten geben wird – wenn Ärzte sicher sagen können, dass der Ausbruch einer Krankheit verhindert wurde. Eine „Welt der Gesunden“ erwartet Dr. Jasper zu Putlitz allerdings nicht. „Wir werden gesünder sein, aber eine komplette Gesundheit wird es nicht geben.“ Auch wenn chronische Krankheiten eines Tages vielleicht heilbar seien, gebe es noch viele andere Erkrankungen, zum Beispiel Infektionskrankheiten, mit denen die Menschen weiterhin leben müssen.

… oder der Kranken?

Beunruhigend ist der Gedanke, dass Disease Interception eine Welt der Kranken schaffen könnte. Anlagen zu Gesundheitsstörungen können mit der feinsten Technik schließlich bei jedem gefunden werden, sagt Christof von Kalle. „Wenn man den Genotyp hochauflösend betrachtet, dann hat jeder von uns irgendwelche Makel.“ Das berge die Gefahr von Überdiagnosen und -therapie, dass also Maßnahmen eingeleitet werden, die Patienten eher schaden als nützen. Von Kalle hält deshalb ein generelles Screening der Bevölkerung nicht für sinnvoll. Disease Interception sollte nur bei Risikopatienten, etwa mit familiärer Disposition, zum Einsatz kommen. „Ein Allheilmittel wird Disease Interception nicht sein. Aber es ist toll, dass so etwas gedacht und entwickelt wird“.

Vielversprechende Studienergebnisse

Ein konkretes Praxisbeispiel ist Knochenmarkkrebs, das Multiple Myelom. Bei dieser Krebsform gibt es in der Regel über Jahre hinweg Vorstufen der Erkrankung, die sich zunächst noch gutartig verhalten. Hier wird derzeit intensiv erforscht, welche Biomarker eine Vorhersage über das tatsächliche Ausbrechen der Erkrankung ermöglichen, berichtet Prof. Marc-Steffen Raab vom Universitätsklinikum Heidelberg. Das Multiple Myelom sei derzeit zwar gut behandelbar, aber lebenslimitierend und nicht heilbar. Hier biete Disease Interception möglichweise eine Chance, „durch frühzeitiges Auffangen der Erkrankungsentstehung eine Heilung zu erreichen, ohne dass es zum Ausbruch kommt“, sagt Raab. Erste klinische Ergebnisse aus internationalen Studien erwiesen sich als vielversprechend.

Angelina Jolie © Foreign and Commonwealth Office – Flickr – CC BY 2

Angelina Jolie und die prophylaktische Masektomie
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Bei dem Eingriff handelt es sich um eine prophylaktische Entfernung des Brustdrüsengewebes, um das Brustkrebsrisiko von BRCA-Genmutations-Trägerinnen erheblich zu senken. Bekannt wurde die prophylatische Masektomie durch die Schauspielerin 
Angelina Jolie, die ihre Operation öffentlich gemacht hat. Dieser Eingriff gehört aber streng genommen nicht zur Disease Interception, denn: In diesem Fall wird eine genetische Veranlagung zum Krebs festgestellt, die Krankheit befindet sich aber noch nicht im Entstehungsprozess. Daher spricht man von risikoadaptierter Prävention.
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Ein „bounce forward“ für das Gesundheitssystem?

Resilienz ist in Pandemiezeiten gefragt

Berlin (pag) – Die Pandemie ist in vollem Gang, die Diskussion darüber, welche Konsequenzen aus ihr für die Versorgungsstrukturen zu ziehen sind, auch. Fest steht bereits jetzt: Resilienz ist eine unterschätzte Zielgröße des deutschen Gesundheitswesens. Das muss sich ändern.

Der Begriff Resilienz leitet sich vom lateinischen Verb resilire ab, was „zurückspringen“ oder „abprallen“ bedeutet. Im Wortsinn bedeutet Resilienz die Fähigkeit zurückzuspringen, das heißt nach Belastungen oder Störungen in das Ausgangsstadium zurückzukehren, erläutert Resilienzforscher Dr. Florian Roth vom Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung.

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Widerstandsfähigkeit in schwierigen Zeiten

In der Psychologie bezeichnet Resilienz die psychische Widerstandsfähigkeit in schwierigen Situationen und Krisen. In der Physik und den Ingenieurswissenschaften ist Resilienz ein Maß, um die Widerstandsfähigkeit von Materialien und Strukturen zu bewerten. „Doch wir können Resilienz-Konzepte auch nutzen, um ganze Systeme und deren Verhalten gegenüber Schocks und Störungen zu analysieren“, führt Roth aus. Je schneller das betroffene System seine normale Funktionsweise zurückerlange, desto resilienter sei es. Der Resilienzexperte nennt das die Fähigkeit zum „bounce back“.

Dr. Florian Roth @ Fraunhofer-Institut

Für ungleich spannender hält Roth jedoch den „bounce forward“ als erweiterten Resilienzbegriff. Dabei stehe die Fähigkeit im Zentrum, langfristig zu überleben und zu prosperieren. Ziel sei daher nicht notwendigerweise die Rückkehr in den Systemzustand vor einem Schockereignis, sondern eine kontinuierliche Anpassung unter sich verändernden Umweltbedingungen. „Durch diese Anpassung an neue Bedingungen wird der bounce forward möglich, bei dem das System nach einer Krise leistungsfähiger und langlebiger ist als davor“, erläutert Roth.

„Weiterentwicklung zu etwas Besserem“

Auch das European Observatory on Health Systems und Policies definiert Resilienz als Fähigkeit eines Gesundheitssystems, sich auf einen Schock vorzubereiten, damit umzugehen und von dem Ereignis zu lernen. Ein Schock wird wiederum als plötzlicher und extremer Wandel verstanden, der Auswirkungen auf das Gesundheitssystem habe. Es dürfe nach der Krise nicht nur darum gehen, sich lediglich von den Herausforderungen zu erholen. Es gelte, sich außerdem auf zukünftige Schocks vorzubereiten. Dies werde oft vernachlässigt, wenn die Gesundheitssysteme wieder zu einer Post-Schock-Normalität zurückgekehrt seien, mahnen die Experten.

Resilienz im Mittelpunkt

Nicht von ungefähr steht bei zwei umfangreichen Projekten, bei denen es um Lehren aus der Pandemie geht, Resilienz im Mittelpunkt des Interesses. Das Projekt der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften (acatech) „Resilienz und Leistungsfähigkeit des Gesundheitswesens in Krisenzeiten“ startete im Juli 2020. Ein zentrales Anliegen der Expertengruppe ist es, Lehren aus der Corona-Pandemie zu ziehen und Empfehlungen für ein widerstandsfähigeres Gesundheitssystem zu geben. Gefördert wird das Projekt vom Bundesministerium für Gesundheit. Ziel aller nationalen Anstrengungen innerhalb Europas muss es den Experten zufolge sein, die gesamteuropäische Resilienz mit Blick auch auf globale Zusammenhänge zu stärken. Die Belastungsgrenzen und strukturellen Ausrichtungen der Gesundheitssysteme seien innerhalb der EU, aber auch innerhalb Deutschlands divers. Entsprechend wichtig sei die Koordination und Kooperation aller beteiligten Behörden, Institutionen und weiterer Akteure auf lokaler, Landes-, Bundes- und EU-Ebene.

Modernisierung der Versorgungsstrukturen

Prof. Prof. Thomas Lenarz von der Medizinischen Hochschule Hannover sagt: „Die Versorgungsstrukturen bestimmen über die Belastungsgrenzen in einer Krisensituation. Sie sollten modernisiert und ausgebaut werden.“
Zum Beispiel brauche es mehr medizinische Versorgungszentren und ambulante OP-Zentren. Sie ermöglichten es in und nach Gesundheitskrisen, Erkrankte oder Patienten mit schweren chronischen Erkrankungen bestmöglich und schnellstmöglich zu behandeln. Notwendig sind laut Lenarz auch bessere Reserven von Medizintechnik für Diagnose und Therapie, von Labor- und Testkapazitäten und von Arzneimitteln und Impfstoffen. „Wir empfehlen ein europaweites, einheitliches und verpflichtendes elektronischen Meldesystem für Arzneimittel und Medizinprodukte.“
acatech-Präsident Karl-Heinz Streibich fordert einen ersten Datenraum im Gesundheitsbereich, um die Möglichkeiten der Digitalisierung konsequent zu nutzen. „Wir brauchen einen Datenraum, der den Austausch von Informationen in Echtzeit erlaubt und die vertrauensvolle Verarbeitung ermöglicht.“ Die Expertengruppe empfiehlt dafür eine europäische Datenraum-Architektur mit einheitlichen Standards. Diese bildet die Basis für die digitale Vernetzung der nationalen Gesundheitssysteme, im Krisenfall können Informationen europaweit konsolidiert und genutzt werden – denn eine Pandemie kennt keine Ländergrenzen.

Ungewöhnliche Partnerschaft

Die London School of Economics, das Weltwirtschaftsforum und AstraZeneca haben sich unterdessen für eine Partnerschaft für Resilienz und Nachhaltigkeit von Gesundheitssystemen – Partnership for Health System Sustainability and Resilience – zusammengeschlossen.
Deren Ziel ist es, einen entscheidenden Beitrag zur langfristigen Sicherung und Verbesserung der globalen Gesundheit zu leisten. In der Pilotphase des Projekts von August 2020 bis Januar 2021 wurde ein von Experten entwickelter Rahmen verwendet, um die Resilienz und Nachhaltigkeit der Gesundheitssysteme in acht Pilotländern zu messen: Frankreich, Deutschland, Italien, Spanien, Großbritannien, Polen, Russland und Vietnam. Für jedes Land wurden die Ergebnisse in einem Bericht publiziert, der außerdem Fallstudien sowie Empfehlungen enthält.
Das deutsche Gesundheitssystem wurde von Prof. Greiner, Universität Bielefeld, auf Resilienz und Nachhaltigkeit abgeklopft. Die Liste seiner Reformvorschläge ist lang. Als eine deutliche Schwäche, die in der Pandemie offenbar wurde, bezeichnet der Gesundheitsökonom die „jahrelange Unterfinanzierung und Vernachlässigung der kommunalen Gesundheitsämter“.

Priorisierung lokaler Gesundheitsämter

Gegenüber der Presseagentur Gesundheit macht er außerdem deutlich, dass die gut vorbereiteten Pandemiepläne nur teilweise in der Realität umgesetzt werden konnten – insbesondere was die Vorhaltung von Ressourcen angeht. „Hier wird nach Abschluss der Krise noch eine umfassende Evaluation nötig sein, wie die Vorbereitungen auf die nächste Pandemie noch besser gestaltet werden können“, sagt Greiner. In seiner Analyse hat er in allen Bereichen des Gesundheitssystems Handlungsbedarf festgestellt, um Nachhaltigkeit und Resilienz zu fördern. Für die Pandemiebekämpfung und die Steigerung der Resilienz – während und nach der Pandemie – ist eine erneute Priorisierung der lokalen Gesundheitsämter unabdingbar. Auch im Bereich der Digitalisierung im Gesundheitswesen muss Deutschland dringend aufholen.

Die Aufholjagd hat in dieser Legislaturperiode begonnen.
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Was ist ein „shock circle“?
Das European Observatory on Health Systems und Policies unterscheidet vier Stadien des „shock circle“
•   Phase 1: Bereitschaft
    Diese sei davon abhängig, wie anfällig und verletzbar das System für unterschiedliche Unruhen ist.
•   Phase 2: Beginn des Schocks und Alarm
    Der Fokus liegt auf einer rechtzeitigen Identifikation des Beginns und der Art des Schocks.
•   Phase 3: Auswirkungen des Schocks sowie Management
    Das System absorbiert den Schock und passt sich – wo notwendig – an, um sicherzustellen, dass die Ziele des Versorgungssystems weiterhin erreicht werden.
•   Phase 4: Erholung und Lernen
    Eine Rückkehr zu einer Art von Normalität findet statt, dennoch können Veränderungen als Folge des Schocks bestehen bleiben.

 

Weiterführende Links:

Zur Partnerschaft für Resilienz und Nachhaltigkeit von Gesundheitssystemen: https://www.weforum.org/phssr

Zum Projekt der acatech: http://www.acatech.de/resilienz-gesundheitswesen

Mauerblümchendasein ade bei der Integrierten Versorgung?

Berlin (pag) – 20 Jahre nach Einführung der Integrierten Versorgung haben Selektivverträge noch immer nicht die erwünschte Systemwirkung erzielt. Trotzdem seien sie das wichtigste Instrument zur Überwindung der Sektorengrenzen, meint der Bundesverband Managed Care. Aktuell plant der Gesetzgeber, die Spielräume für Selektivverträge zu erweitern. Und auch in Sachen Transparenz tut sich etwas.

Mit der Integrierten Versorgung die Sektorengrenzen überwinden? Das scheint noch ein langer Weg zu sein. © iStockphoto, ferrantraite

Alle Selektivverträge und Verträge der hausarztzentrierten Versorgung hat das Bundesamt für Soziale Sicherung (BAS) in einer Liste auf seiner Internetseite veröffentlicht. Damit kommt das Amt einer Regelung aus dem Fairer-Kassenwettbewerb-Gesetz nach. Die Vertragstransparenzstelle soll die Datengrundlagen für den Risikostrukturausgleich sichern. Zugleich will das BAS Transparenz über die Verträge der Krankenkassen für Versicherte, Aufsichtsbehörden und die interessierte Fachöffentlichkeit schaffen. BAS-Präsident Frank Plate spricht von einem wichtigen Schritt für einen „fairen und transparenten Wettbewerb“ zwischen den gesetzlichen Krankenkassen. Das Verzeichnis soll im kommenden Jahr um weitere Angaben ergänzt werden – unter anderem wird die Art der beteiligten Leistungserbringer genannt.

Innovationen im Keim erstickt

Unterdessen kritisiert der Bundesverband Managed Care (BMC) die „sehr restriktive“ Prüfpraxis von IV-Verträgen durch das BAS. Innovationen und neue Denkansätze würden dadurch im Keim erstickt, schreibt der Verband in seiner Stellungnahme zum geplanten Versorgungsverbesserungsgesetz. Es sieht unter anderem vor, dass auch nicht-ärztliche Leistungserbringer an besonderen Versorgungsaufträgen beteiligt werden können. Auch regional begrenzte Versorgungsinnovationen werden ermöglicht. Vorgesehen ist ferner, dass der Nachweis der Wirtschaftlichkeit von Selektivverträgen innerhalb von vier Jahren entfällt. Und: Versicherungsübergreifende Versorgungsformen und eine Beteiligung an Versorgungsinnovationen anderer Träger, z.B. kommunaler Einrichtungen der Sozial- und Jugendhilfe, werden ermöglicht. Insgesamt begrüßt der BMC diese Reformen, kritisiert aber grundsätzlich, dass keine Anreize für die Skalierung erfolgreicher Projekte bestehen.

Zumindest an Denkanstößen für innovative Versorgungsformen scheint derzeit kein Mangel zu herrschen: Der Innovationsausschuss beim Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) hat 136 Ideenskizzen im Bereich neue Versorgungsformen erhalten. Antragsteller sind Universitäten, Krankenhäuser und Krankenkassen. Im Vergleich zu den früher eingereichten vollständigen Anträgen erhielt der Ausschuss deutlich mehr Skizzen. G-BA-Chef Prof. Josef Hecken führt die große Resonanz auf das neue zweistufige Verfahren zurück, das der Gesetzgeber im vergangenen Jahr eingeführt hat.

Weiterführender Link:
https://www.bundesamtsozialesicherung.de/de/vertragstransparenzstelle