Was ist der Gesellschaft der Zusatznutzen wert?

Prof. Jürgen Wasem vermisst Leitplanken für Zahlungsbereitschaft

Berlin (pag) – Allenfalls ein gelegentliches Fine-Tuning steht beim AMNOG-Verfahren an. Diese Lesart, bevorzugt von Politik und maßgeblichen Akteuren des Gesundheitswesens, klammert unangenehme Fragen aus – etwa nach der gesellschaftlichen Zahlungsbereitschaft und möglichen Legitimationsdefiziten. Im Interview spricht der Vorsitzende der AMNOG-Schiedsstelle, Prof. Jürgen Wasem, heikle Punkte des Verfahrens an.

Prof. Jürgen Wasem © pag, Fiolka

ZUR PERSON
Prof. Jürgen Wasem ist Vorsitzender der sogenannten „AMNOG-Schiedsstelle“. Diese wird angerufen, wenn sich Hersteller und GKV-Spitzenverband nach der frühen Nutzenbewertung nicht auf einen Erstattungsbetrag für das neue Arzneimittel einigen können. Der Gesundheitsökonom von der Universität Duisberg-Essen ist darüber hinaus ein gefragter Mann im Gesundheitswesen: Er gehört unter anderem dem wissenschaftlichen Beirat zur Weiterentwicklung des Risikostrukturausgleichs an und ist unparteiischer Vorsitzender des Erweiterten Bewertungsausschusses für die vertragsärztliche Versorgung in der GKV.

 

Ob sich ein Pharmaunternehmen dafür entscheidet, sein Medikament vom deutschen Markt zu nehmen, hängt maßgeblich vom Spruch der Schiedsstelle ab. Damit entscheiden Sie als Vorsitzender indirekt, ob ein Arzneimittel für Patienten auf dem hiesigen Markt verfügbar ist. Sind Sie dafür ausreichend legitimiert?

Wasem: Die Frage ist berechtigt, weil die Legitimation eine sehr indirekte ist. Man kann argumentieren, dass der Gesetzgeber, der die Schiedsstelle implementiert hat, demokratisch legitimiert ist – und insofern ist es auch die Schiedsstelle. Vergleichbar ist dies mit der Frage nach der ausreichenden demokratischen Legitimierung des Gemeinsamen Bundesausschusses. Es gibt Konstellationen, bei denen ich mich wirklich frage, ob ich ausreichend legitimiert bin, eine solche Entscheidung zu treffen. Nämlich wenn ich nicht der Forderung des Herstellers hinreichend nachgebe und das Arzneimittel deshalb vom Markt geht. Ich wünsche mir stärkere Leitplanken, was die Zahlungsbereitschaft der Gesellschaft für Zusatznutzen angeht.

Also eine gesellschaftliche Debatte?

Wasem: Richtig, wir brauchen eine gesellschaftliche geführte Debatte über die Zahlungsbereitschaft.

Die Politik dürfte eine solche Debatte eher scheuen, oder?

Wasem: Die Politik will sie nicht führen, weil damit implizit die Rationierungsdebatte angesprochen ist. Sie vertritt die Position, dass der deutsche Versicherte alles medizinisch Notwendige erhält. Eine implizite Rationierungsdebatte, bei der die gesellschaftliche Zahlungsbereitschaft ausgelotet würde, wäre ein schwarzer Fleck auf dieser weißen Weste.

Allerdings wäre eine solche Debatte vor dem Hintergrund des komplexen AMNOG-Verfahrens eine Herausforderung …

Wasem: Eine Diskussion über die Zahlungsbereitschaft für ein eindimensionales Konstrukt wie das QALY als Endpunkt ist einfacher zu führen. Da haben es die Engländer mit ihrem System besser. In Deutschland müssen wir mit den unterschiedlichen Kategorien von Zusatznutzen umgehen, hinter denen sich wiederum ganz unterschiedliche Dinge verbergen. Das kann Mortalität oder Lebensqualität sein, mal sind es geringere Nebenwirkungen. Die Zahlungsbereitschaft zu einem Konstrukt wie beträchtlichen, erheblichen oder geringen Zusatznutzen zu debattieren, ist eine echte Herausforderung. Aber ich fände es trotzdem gut, wenn wir uns trauten, diese Diskussion zu führen.

Aus Sicht der Politik hat sich diese Diskussion mit dem AMNOG erledigt.

Der Nikolausbeschluss
Im sogenannten Nikolausbeschluss vom 6. Dezember 2005 entschied das Bundesverfassungsgericht, dass falls bei einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich verlaufenden Erkrankung keine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Behandlung zur Verfügung steht, die gesetzliche Krankenversicherung eine vom Patienten gewählte und von einem Arzt angewandte neue oder alternative Behandlungsmethode bezahlen muss. Dies gilt unter der Voraussetzung, dass dabei „eine nicht ganz fernliegende Aussicht auf Heilung oder eine spürbare positive Auswirkung auf den Krankheitsverlauf besteht“.

Wasem: Die Einschätzung der Politik lautet, dass man beim AMNOG allenfalls ein Fine-Tuning auf der technischen Ebene durchführen und diese Grundsatzfrage nicht stellen muss. Es sind dann die Vertragspartner und im Falle der Nicht-Einigung auf einen Erstattungsbetrag die indirekt demokratisch legitimierte Schiedsstelle, die die Allokations- und letztlich auch Rationierungsentscheidungen treffen müssen. Wobei man sehen muss: Wenn ein Arzneimittel die Kriterien des Nikolaus-Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts erfüllt, müssen die Krankenkassen den Versicherten es auch dann zur Verfügung stellen, wenn der Hersteller es vom deutschen Markt genommen hat – dann müssen die Kassen es nämlich importieren, wenn der Arzt es für die Versorgung seines Patienten als notwendig erachtet.

Von der unbeantworteten Grundsatzfrage nach der gesellschaftlichen Zahlungsbereitschaft abgesehen: Wo stößt das AMNOG an Grenzen, wo ein reines Fine-Tuning nicht ausreicht?

Wasem: Ich sehe zwei grundsätzliche Probleme. Zum einen können AMNOG-Beschlüsse und Vereinbarungen durch regionale Instanzen konterkariert und limitiert werden. Wenn die regionale Quote nur zwei Prozent beträgt, dann kann der Zusatznutzen beträchtlich und der Preis vernünftig sein, trotzdem wird das Arzneimittel kein Leben entfalten.

Und das zweite Problem?

Wasem: … besteht nach wie vor darin, dass der GKV-Spitzenverband in der Nutzenbewertung stark involviert ist und anschließend die Preisverhandlungen führt. Das eigentliche Konzept sieht ja vor, dass der G-BA eine neutrale Nutzenbewertung durchführt und sich dafür eines wissenschaftlichen Instituts bedient, das auch den Anspruch hat, neutral zu sein. Nach dieser neutralen Nutzenbewertung geht es dann in die Preisverhandlungen. Fakt ist aber natürlich, dass der GKV-Spitzenverband im G-BA eine starke Position hat. Mein Eindruck ist, dass er versucht, die G-BA-Entscheidungen so auszugestalten, dass er daran nahtlos in der Schiedsstelle anknüpfen kann.

Also eine fehlende Trennung zwischen Nutzenbewertung und Preisverhandlung?

Wasem: Genau, dieses grundsätzliche Problem lässt sich mit dem Bild von den Spießen veranschaulichen: Es ist unbestritten, dass früher die Hersteller die deutlich längeren Spieße hatten. Oder um Franz Knieps zu zitieren: „Früher saß die Pharmaindustrie im Panzer und wir hatten die Fußtruppen. Jetzt ist es umgekehrt.“ Das trifft es ganz gut.

Seitens des Gemeinsamen Bundesauschusses heißt es, dass es für Therapieneuheiten keine Kosten-, wohl aber eine Evidenzgrenze gebe. Stimmen Sie dem zu?

Wasem: Die Spielräume, die der G-BA bei der Festsetzung der zweckmäßigen Vergleichstherapie und bei der Interpretation der Studien hat, nutzt der GKV-Spitzenverband mit seiner starken Position zumindest gelegentlich, um die Preisverhandlungen zu präformieren. Analysen, die Nutzenbewertungen international vergleichen, zeigen, dass die Ergebnisse nicht einheitlich sind. An manchen Stellen sieht man gut, dass die frühe Nutzenbewertung nicht unangreifbar das einzig denkbare Operationalisierungsverfahren gewählt hat und dass Spielräume genutzt werden. Nach wie vor ist die zweckmäßige Vergleichstherapie ein zentrales Thema.

Inwiefern?

Wasem: In zweierlei Hinsicht: Immer wenn eine ZVT gewählt wird, gegen die ein Hersteller nicht getestet hat, hat er ein massives Problem. Und: Wird kein Zusatznutzen nachgewesen, gilt die billigste ZVT als oberste Preisgrenze. Es gibt viele Konstellationen, bei denen es plausibel ist, dass ein Medikament gar nicht besser als die ZVT, sondern gleich gut sein will. Aber wenn es gegenüber der Vergleichstherapie geplantermaßen keinen Zusatznutzen hat, wird nur der Preis der billigsten ZVT herangezogen.

Das bedeutet?

Wasem: Hinter diese beiden Konstellationen kann man ein Fragezeichen setzen, ob es sich dabei immer um die einzig denkbare Ausgestaltung des G-BA-Beschlusses handelt. Innerhalb der gesetzten Rahmenbedingungen ist es zwar die pure Evidenz, aber sie wird eben vorher geframt. Wenn ich entscheide, was die ZVT ist, kann ich eine State-oft-the-art-Evidenz-Analyse machen, aber bei der Auswahl der ZVT denkt der GKV-Spitzenverband eben schon weiter.

Angesichts des geplanten Arztinformationssystems stellt sich die Frage, wo und bei wem die Deutungshoheit über den pharmazeutisch-medizinischen Fortschritt liegt – beim G-BA, der die AMNOG-Beschlüsse fällt, bei den Fachgesellschaften, die Leitlinien formulieren oder beim einzelnen Verordner?

Prof. Jürgen Wasem im Gespräch mit Antje Hoppe (Chefredakteurin) und Lisa Braun (Herausgeberin, im Foto rechts) © pag, Fiolka

Wasem: Beim einzelnen Arzt kann es immer nur die konkrete Entscheidungssituation mit dem einzelnen Patienten sein. In Deutschland kann er – gut begründet – noch immer alles verordnen. Das würde ich nach wie vor relativ weitgehend sagen. Durch das Wirtschaftlichkeitsgebot hat der Arzt keine begründungsfreie Therapiefreiheit. Ich halte das für vertretbar. Man kann grundsätzlich von einem Arzt verlangen, wenn er teuer verordnet, dass er in der Lage ist, die Therapiewahl vernünftig zu begründen. In den Leitlinien spielen Kosten überwiegend keine Rolle. Das ist ebenfalls vertretbar. Legitim ist aber außerdem, dass man ökonomische Gesichtspunkte auf der übergeordneten Ebene berücksichtigt. Insofern finde ich es richtig, dass es neben den Leitlinien eine Informationsebene gibt, wo Kosten eine Rolle spielen. Insgesamt haben wir aber im Laufe der Zeit eine Schwerpunktverlagerung erlebt.

Was hat sich verlagert?

Wasem: Mein Eindruck ist, dass für den Arzt die Leitlinien inzwischen oft weniger Gewicht haben als der ökonomische Regulierungsrahmen. Damit meine ich nicht nur den G-BA-Beschluss, sondern auch regionale Vereinbarungen.

 

Der Nikolausbeschluss
Im sogenannten Nikolausbeschluss vom 6. Dezember 2005 entschied das Bundesverfassungsgericht, dass falls bei einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich verlaufenden Erkrankung keine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Behandlung zur Verfügung steht, die gesetzliche Krankenversicherung eine vom Patienten gewählte und von einem Arzt angewandte neue oder alternative Behandlungsmethode bezahlen muss. Dies gilt unter der Voraussetzung, dass dabei „eine nicht ganz fernliegende Aussicht auf Heilung oder eine spürbare positive Auswirkung auf den Krankheitsverlauf besteht“.

Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen

Warum eine Debatte über die Zahlungsbereitschaft für Fortschritt Tabu ist

Berlin (pag) – Die Frage, wie viel medizinischer Fortschritt kosten darf, ist noch immer unbeantwortet. Die Politik und die Akteure des Gesundheitswesens tun alles dafür, damit es auch so bleibt, denn eine gesellschaftliche Debatte ist nicht erwünscht, um das böse Wort Rationierung zu vermeiden. Nach offizieller Lesart hat sich die Frage für Arzneimittel mit dem AMNOG-Verfahren erübrigt. Doch es bleiben Zweifel.

Gerne werden hierzulande die Unterschiede zum englischen Gesundheitssystem betont, vielleicht auch, um sich wohlig schauern zu können. In England gibt es nämlich feste Kostengrenzen. Das hält der unparteiische Vorsitzende des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA), Prof. Josef Hecken, für „absolut unethisch“, wie er auf einer Tagung Ende November betont.
Einige Wochen zuvor äußert sich der Leiter der G-BA-Abteilung Arzneimittel zum gleichen Thema. Thomas Müller hebt auf einer Brustkrebs-Veranstaltung hervor, dass es hierzulande zwar eine Evidenz-, aber keine Kostengrenze gebe. Damit spielt er auf das AMNOG-Verfahren an, im Zuge dessen der G-BA den Zusatznutzen neuer Arzneimittel im Vergleich zum bisherigen Therapiestandard bewertet, was wiederum die Grundlage für die anschließenden Preisverhandlungen zwischen Hersteller und GKV-Spitzenverband darstellt. Einigen sich die beiden nicht, entscheidet eine Schiedsstelle.

Erfolgsmodell oder pseudowissenschaftliche Preisregulierung?

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Das Verfahren gilt in der Politik über Parteigrenzen hinweg als Erfolgsmodell, ähnlich sieht es bei den Akteuren des Gesundheitswesens aus – die Pharmaindustrie einmal ausgenommen. Das System ist allgemein anerkannt, lediglich um technische Modifikationen wird gelegentlich gerungen. Über dieses Fine-Tuning, wie es der G-BA-Chef nennt, ist die entscheidende Grundsatzfrage allerdings aus dem Blick geraten, nämlich die nach der gesellschaftlichen Zahlungsbereitschaft für den Zusatznutzen. Nur wenige kritisieren das so offen wie der Chefarzt der Klinik für Neurologie am St. Joseph-Krankenhaus Berlin-Weißensee, Prof. Thomas Müller (nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen G-BA-Vertreter). Auf einer Tagung der Deutschen Gesellschaft für experimentelle und klinische Neurotherapeutika prangert er im Dezember das AMNOG-Verfahren als „pseudowissenschaftliche Preisregulierung“ an. Damit werde ein funktionierender, objektiver Entscheidungsprozess vorgegaukelt, der die gesamtgesellschaftliche Diskussion behindere.
Eine gesellschaftliche Debatte zur Zahlungsbereitschaft vermisst auch der Gesundheitsökonom Prof. Jürgen Wasem, der Vorsitzender der AMNOG-Schiedsstelle ist. Die Entscheidung eines Pharmaunternehmens, sein Medikament vom deutschen Markt zu nehmen, wird maßgeblich durch den Spruch der Schiedsstelle beeinflusst. Damit entscheidet Wasem indirekt darüber, ob ein Arzneimittel für Patienten auf dem hiesigen Markt verfügbar ist. Der Experte fragt sich selbst, ob er dafür überhaupt ausreichend legitimiert ist (lesen Sie dazu das Interview mit Prof. Wasem in dieser Ausgabe). Er wünscht sich daher stärkere Leitplanken, was die Zahlungsbereitschaft der Gesellschaft für Zusatznutzen angeht.

Der schwarze Fleck auf der weißen Weste

Die Politik hat allerdings kein Interesse an einer solchen Diskussion, weil damit, so Wasem, implizit die Rationierungsdebatte angesprochen werde. „Sie (die Politik, Anmerkung der Redaktion) vertritt die Position, dass der deutsche Versicherte alles medizinisch Notwendige erhält. Eine implizite Rationierungsdebatte, bei der die gesellschaftliche Zahlungsbereitschaft ausgelotet würde, wäre ein schwarzer Fleck auf dieser weißen Weste.“
Diese Einschätzung teilt die Journalistin Heike Haarhoff in ihrem in der taz erschienenen Artikel „Zu Tode gerechnet“. Darin beschreibt sie eindrücklich, was ein so genannter Opt-out, die Rücknahme eines bereits auf dem Markt befindlichen Medikaments, für einen schwerkranken Krebspatienten bedeutet. Haarhoff geht in ihrem Text mit einem politischen System ins Gericht „das eine Kostenexplosion im Arzneimittelbereich ebenso fürchtet wie eine ehrliche Debatte darüber, wie viel ein paar Monate zusätzliches Leben der Solidargemeinschaft wert sein sollen – auf die Gefahr hin, möglicherweise zu dem Schluss zu gelangen, dass nicht mehr alles für alle finanzierbar ist“. Sie kritisiert außerdem eine implizite Rationierung hierzulande: „über ein in sich widersprüchliches Versorgungssystem, das Medikamente erst zulässt, aber anschließend nicht bezahlt“.

Alle haben Recht und der Patient den Schaden

Das Problem der vom Markt genommenen Arzneimittel – einer Übersicht des GKV-Spitzenverbands zufolge sind das inzwischen mehr als zehn Präparate (Stand Januar 2017) – ist für Haarhoff ein gesundheitspolitischer Tabubruch. Man könnte die Opt-outs auch als Systemversagen bezeichnen, das die Grenzen des AMNOG-Verfahrens aufzeigt. Im Fall des temporären Opt-outs des Lungenkrebsmedikaments Osimertinib (Handelsname: Tagrisso) kritisierte die Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie, dass zwar alle am Verfahren Beteiligten innerhalb ihrer eigenen Regeln Recht, den Schaden aber die betroffenen Krebspatienten hätten.
Was bekommt die Öffentlichkeit davon mit? Derzeit vermutlich herzlich wenig. Wenn die Publikumspresse den medizinischen Fortschritt und dessen Kosten aufgreift, dann geschieht das meist unter dem Label „Mondpreise“. Eine Ausnahme stellt, neben dem Haarhoff-Artikel in der taz, ein Bericht in der Bild-Zeitung dar. Unter der Überschrift „Wer hilft Epilepsie-Mädchen Martha (10)?“ heißt es dort: „Weil sich Kassen und Hersteller streiten, gibt es kein Medikament.“ Sollte jedoch die Zahl der Opt-outs stetig zunehmen, dann dürfte es nur noch eine Frage der Zeit sein, bis die Marktrücknahmen auf mehr öffentliche Resonanz stoßen. Der Schritt zu einer Debatte über Rationierung ist dann nicht mehr weit. Koppelt man das mit der Frage nach der demokratischen Legitimation des G-BA – die entsprechenden Rechtsgutachten liegen beim Bundesgesundheitsministerium derzeit unter Verschluss – könnte eine brisante Diskussion entstehen. Anstatt diese transparent und proaktiv anzugehen, setzen die Akteure auf eine Vogel-Strauß-Taktik: Es sind immer nur die anderen, die rationieren.

Weiterführende Links:

Link zum taz-Artikel, der mit dem Publizistik-Preis der Stiftung Gesundheit ausgezeichnet wurde: http://www.taz.de/!5357366/
Link zum Bild-Artikel: http://www.bild.de/regional/leipzig/epilepsie/wer-hilft-martha-49961166.bild.html

Länger und besser leben

BDI-Studie analysiert Entwicklung des Gesundheitsnutzens

Berlin (pag) – Eine vom Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) in Auftrag gegebene Studie analysiert die Entwicklung des Gesundheitsnutzens von 1993 bis 2013. Anhand von fünf Krankheitsbildern untersuchen Wissenschaftler die quantitative und qualitative Lebenszeitveränderung in diesem Zeitraum.

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Die Kernfragen der Studie lauten: „Leben wir länger und gesünder?“ und „Wie sehr hat sich die Dauer des Lebens und die Qualität des längeren Lebens verändert?“ Im Fokus stehen akute und chronische Erkrankungen mit unterschiedlich großen Fortschritten im Betrachtungszeitraum: Herzinfarkt, Schlaganfall, Brustkrebs, Prostatakrebs sowie Diabetes Mellitus Typ II. Um die Veränderung des Gesundheitsnutzens in Zahlen auszudrücken, verwenden die Studienautoren das Konzept der „Disability Adjusted Life Years“ (DALYs). Diese messen, wie viele Lebensjahre durch Krankheit vorzeitig verloren gehen oder mit gesundheitlichen Einschränkungen verbracht werden. Eine Verlängerung der Lebenszeit und eine Verringerung der gesundheitlichen Einschränkungen drücken sich in einem Rückgang der DALYs aus.
Die Analyse kommt zu dem Ergebnis, dass die Gesamtbelastung durch DALYs in den fünf Krankheitsbildern von 8,54 Millionen (1993) auf 7,62 Millionen (2013) abnimmt. Anders ausgedrückt: Die Krankheitslast ist in 20 Jahren auf einen jährlichen Wert zurückgegangen, der 0,92 Millionen DALY‘s oder 10,8 Prozent unter dem Ausgangsjahr liegt. In allen Krankheitsbildern gebe es positive Tendenzen für den einzelnen, konstatiert Studienautor Karsten Neumann, ehemals IGES-Institut inzwischen bei Roland Berger. Ein besonders „plakativer Fortschritt“ sei bei Brustkrebs zu beobachten, wo sich der Verlust an Lebenszeit nahezu halbiert habe.

Der Wert medizinischer Innovationen

Der BDI hofft, mit der Studie eine breitere Diskussion über den Wert medizinischer Innovationen zu entfachen. Nach zahlreichen Analysen, die insbesondere die volkswirtschaftlichen Effekte der Gesundheitswirtschaft aufgezeigt haben, steht bei dieser Erhebung der Beitrag der Branche zu einem längeren und gesunden Leben im Mittelpunkt. Industrievertreterin Dr. Dagmar Braun, Braun Beteiligungs GmbH, spricht bei der Vorstellung der Studie von einer „Nutzenbewertung der gesamten Branche“. „Wir müssen deutlich machen, dass Gesundheit mehr als ein Kostenfaktor ist“, appelliert Oliver Schenk, Abteilungsleiter im Bundesgesundheitsministerium. Deutschland sei ein „Gesundheitsland“, diese großartige Leistung gelte es vernünftig zu verkaufen.

Komplexe Frage: Wann zahlen sich Investitionen in Gesundheit aus?

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Bei der folgenden Podiumsdiskussion erläutert Prof. Bertram Häussler, Vorsitzender der Geschäftsführung des IGES Instituts, wie komplex es sei, den Impact von Investitionen in Gesundheit zu messen. „Manchmal muss man 20 Jahren warten, bis man Erfolg sieht.“ Prof. Tobias Kurth, Direktor des Instituts für Public Health an der Charité, weist darauf hin, dass nicht alle Bevölkerungsgruppen gleichermaßen vom medizinischen Fortschritt profitierten. Auch Dr. Bärbel-Maria Kurth vom Robert Koch-Institut, mahnt an, den Blick stärker auf benachteiligte Schichten zu lenken. Lebensstil und Prävention verdienten mehr Aufmerksamkeit. Sie betont außerdem, dass Deutschland viel Geld für medizinische Forschung ausgebe, die spitzenmedizinische Versorgung sei hierzulande super, Nachholbedarf sieht die Abteilungsleiterin Epidemiologie und Gesundheitsmonitoring dagegen bei der „trivialen Versorgung“. Beispielhaft verweist sie auf den im Mai im Lancet veröffentlichten „Healthcare Access and Quality Index“, bei dem Deutschland auf dem 20. Platz landet (Link am Ende des Beitrages). Auch das Thema Forschung und Daten spielt bei der Diskussion eine wichtige Rolle. Die Autoren der Studie appellieren, dass die Datengrundlagen ausgebaut und verbreitert werden sollten. Für Erfassung, Verarbeitung und Aufbereitung müssten Standards entwickelt und die Interoperabilität der unterschiedlichen Systeme gewährleistet werden. Dieses Thema klingt auch im Schlussstatement von Prof. Hagen Pfundner, Vorstand der Roche Pharma AG, an, der seinen Fokus vor allem auf die digitale Transformation legt. Diese sei nicht mehr aufzuhalten. Pfundner fordert daher einen „Bauplan für die Digitalisierung der Gesundheitsinfrastruktur“.

 

Weiterführende Links:

„Entwicklung des Gesundheitsnutzens – Veränderung der Krankheitslast von 1993 bis 2013 für ausgewählte Krankheitsbilder“; Studienbericht im Auftrag des Bundesverbandes der Deutschen Industrie. Autoren: Kasten Neumann, Holger Stibbe, Dennis Alexander Ostwald, Sebastian Himmler, Malina Müller, Oliver Damm, Stefan Scholz, Wolfgang Greiner
http://bdi.eu/media/themenfelder/gesundheitswirtschaft/publikationen/201704_Studie_BDI_IGES_Gesundheitsnutzen.pdf

Healthcare Access and Quality Index based on mortality from causes amenable to personal health care in 195 countries and territories, 1990–2015: a novel analysis from the Global Burden of Disease Study 2015
www.thelancet.com/journals/lancet/article/PIIS0140-6736(17)30818-8/fulltext

 

DIE STUDIENERGEBNISSE IM EINZELNEN

Brustkrebs: Die gemessene Inzidenz, das heißt die Häufigkeit der Neuerkrankungen, ist – vermutlich durch Screeningmaßnahmen – im Betrachtungszeitraum angestiegen, gleichzeitig tritt die Ersterkrankung geringfügig später auf. Die Überlebenschancen jeder einzelnen Patientin haben sich deutlich erhöht. Die Beeinträchtigung der Lebensqualität während der Zeit der Erkrankung ist leicht gesunken. Insgesamt ist daher ein deutlicher Rückgang der DALYs zu verzeichnen, der insbesondere auf die höheren Überlebensraten zurückgeht.

Herzinfarkt: Die durch vorzeitigen Tod verlorenen Lebensjahre (Years of Life Lost, kurz YLLs) sind bei Männern eindeutig zurückgegangen. Bei den Frauen ergibt sich durch eine Verschiebung der Altersverteilung ein konstanter Verlauf der YLLs, obwohl diese sich innerhalb der gleichen Alterskohorten ebenfalls reduzieren. Die Krankheitsfolgen bzw. die durch Krankheit beeinträchtigten Lebensjahre (Years Lived with Disability, kurz YLDs) sind beim Herzinfarkt wenig relevant und bleiben auf niedrigem 
Niveau nahezu konstant. Entsprechend nehmen auch die DALYs bei Männern ab, bei den Frauen dagegen nicht. Der stärkste Effekt ergibt sich auf der Bevölkerungsebene, da die Häufigkeit der Neuerkrankungen sehr deutlich zurückgeht.

Schlaganfall: Wie beim Herzinfarkt gehen auch beim Schlaganfall die YLLs bei Männern deutlicher zurück als bei Frauen. Die Krankheitsfolgen (YLD) bleiben auf niedrigem Niveau nahezu konstant. Die DALYs nehmen bei Männern deutlich, bei Frauen leicht ab.

Diabetes: Die DALYs bei Diabetes nehmen in beiden Geschlechtern konstant ab. Der Effekt wird vor allem durch die Reduzierung von Folgeerkrankungen (YLD) erzielt. Die YLLs spielen bei Diabetes eine vergleichsweise geringe Rolle, gehen aber ebenfalls leicht zurück.

Prostatakrebs: Auch bei Prostatakrebs ist die gemessene Inzidenz – vermutlich durch Screeningmaßnahmen – zunächst angestiegen, sie nimmt seit vier bis fünf Jahren aber wieder ab. Gleichzeitig tritt die Ersterkrankung geringfügig später auf. Wie beim Brustkrebs gilt: Die Überlebenschancen der Patienten haben sich deutlich erhöht, während die Beeinträchtigung der Lebensqualität bei der Erkrankung praktisch konstant ist. Insgesamt ist daher ein deutlicher Rückgang der DALYs zu verzeichnen, der insbesondere auf die höheren Überlebensraten zurückzuführen ist.