Revolution bei klinischen Studien

Berlin (pag) – Das Spitzenforum Medizin am letzten Tag des Hauptstadtkongresses bietet spannende Einblicke: Dr. Thomas Kaiser, Leiter des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG), kündigt neue Schwerpunkte der Institutsarbeit an. Und Prof. Nisar Peter Malek vom Universitätsklinikum Tübingen prognostiziert eine Revolution bei klinischen Studien.

Malek stellt in seinem Vortrag die These auf, dass man ​in den nächsten Jahren eine „Revolution bei der Durchführung klinischer Studien“ sehen werde. Seine Prognose: „Wir werden uns nicht mehr in dem Umfang auf randomisierte Phase-III-Studien stützen.“ Gerade in der Personalisierten Medizin mit ihren kleinen Patientengruppen würden Register eine größere Rolle spielen. Sie könnten genutzt werden, um die Innovationskraft eines neuen Medikamentes mit den gesammelten Daten zu vergleichen. Außerdem sieht der Ärztliche Direktor der Klinik Innere Medizin I am Uniklinikum Tübingen die Register als Möglichkeit, um eine „Reserve Translation“ zu machen. Das bedeutet: „Wir wissen zum Beispiel aus der Off-Label-Behandlung von Patienten mit bestimmten Tumorerkrankungen, dass hier ein Ansprechen, also ein Nutzen, erzeugt wird. Daraus können wir wiederum Rückschlüsse für die Initiierung neuer Studienkonzepte ziehen“, erläutert er.

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Register als Möglichkeit für eine „Reserve Translation“: Prof. Nisar Peter Malek vom Universitätsklinikum Tübingen. © wikicommons, TnKpMl
Register als Möglichkeit für eine „Reserve Translation“: Prof. Nisar Peter Malek vom Universitätsklinikum Tübingen. © wikicommons, TnKpMl
Will das „Silodenken klinischer Studien“ hinter sich lassen: Dr. Thomas Kaiser, Leiter des IQWiG.
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Will das „Silodenken klinischer Studien“ hinter sich lassen: Dr. Thomas Kaiser, Leiter des Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen. © iqwig

 

Selbst machen statt kritisieren

Eine Revolution beim IQWiG kündigt Dr. Thomas Kaiser zwar nicht an, eine spannende Neuausrichtung aber allemal. Es müsse sich ein wichtiger Bestandteil der Arbeit verändern: „nämlich Forschung bezüglich Evidenzgenerierung selbst zu unterstützen und zu verstärken“. Das habe die Community der evidenzbasierten Medizin bisher mehr oder weniger ausgeblendet, räumt Kaiser ein. Zur Evidenzgenerierung wolle man durch eigene wissenschaftliche Forschung und die Teilnahme an europäischen Verbundprojekten beitragen. „Das wird eine Veränderung in der wissenschaftlichen Arbeit des IQWiG sein“, kündigt Kaiser an.

Beim Spitzenforum macht er sich grundsätzlich für die Etablierung einer Forschungsinfrastruktur hierzulande stark. Dabei geht es um qualitativ hochwertige, stehende Dateninfrastrukturen – „das können universitäre Netzwerke sein, das können Verknüpfungen mit anderen Daten sein, das können Register sein und das können auch andere Datenstrukturen sein“. Für Kaiser gehört dazu auch, das „Silodenken klinischer Studien“ hinter sich zu lassen, sprich nicht für jede klinische Studie eine neue Datenstruktur aufzubauen, die dann wieder beendet wird, sobald die Studie abgeschlossen ist.

Was ist mit den Bewertungen?

Bleibt die Frage, ob auch bei den Bewertungen des Instituts die Zeichen auf Wandel stehen. Kaiser zufolge schaue man sich neue Entwicklungen wie synthetische Studienarme offen an. Noch wisse man nicht, ob diese ausreichend sichere Ergebnisse für einen Vergleich lieferten. „Wenn das so sein sollte, dann ist das eine gute Idee, weil das forschungsökomisch zu mehr Forschung mit gleichem Aufwand führen kann.“ Allerdings müsse dieser Nachweis noch geführt werden. Kaisers Argumentation: „Nur weil man es kann, ist es noch nicht gut. Weil man es kann, kann man es untersuchen und beforschen. Wenn es dann gut ist, dann sollte man es anwenden.“ Insgesamt schließt er nicht aus, dass sich auch die Arbeit des IQWiG in puncto Bewertungen verändern wird.

Check-Up: Zielgruppe verfehlt?

Köln (pag) – Die allgemeine Gesundheitsuntersuchung „Check-Up“ wird seltener von Personen genutzt, die am stärksten von ihr profitieren könnten. Zu dieser Schlussfolgerung kommt das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) in einem Rapid Report, den das Institut im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit erstellt hat.

© stock.adobe.com, Siphosethu F/peopleimages.com
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Gesetzlich Krankenversicherte haben seit 1989 Anspruch auf eine regelmäßige Gesundheitsuntersuchung, die von ihrer Kranken-
kasse bezahlt wird. Im Rahmen der Untersuchung sollen gesundheitliche Risiken und Belastungen frühzeitig erfasst werden. Sie dient außerdem der Früherkennung von häufig auftretenden Krank-heiten, insbesondere von Herz-Kreislauf- und Nierenerkrankungen sowie von Diabetes. Versicherte zwischen 18 und 34 Jahren haben einmalig Anspruch auf den Check-Up, Versicherte ab 35 Jahren alle drei Jahre.
Das IQWiG kommt zu dem Ergebnis, dass das Angebot in Deutschland eher von Personen genutzt wird, die ohnehin häufiger Kontakt mit Arztpraxen haben. Gruppen, die höhere Gesundheitsrisiken aufweisen und die das ambulante Versorgungssystem weniger in Anspruch nehmen, nutzen das Angebot seltener.

Gezielte Ansprache

„Zu den Menschen, die seltener zum Check-Up gehen, gehören Menschen mit niedrigem sozioökonomischem Status, Frauen und insbesondere Männer mit Hinweisen auf gesundheitliche Risiken bzw. die ihren Gesundheitszustand als mittelmäßig oder schlecht einschätzen sowie Menschen, die nach Deutschland zugewandert sind“, berichtet IQWiG-Mitarbeiterin Beate Zschorlich. Diese Gruppen müssen gezielt angesprochen werden, auch in anderen Sprachen. Die Projektleiterin weist aber auch darauf hin, „dass auf Basis veröffentlichter Studien ein gesundheitlicher Nutzen des sogenannten Check-Ups selbst unklar ist“. Zschorlich: „Die Maßnahmen und Kommunikationsstrategien sollten diese Diskrepanz berücksichtigen.“ Einige Länder wie Österreich und Großbritannien hätten ihre Angebote zu Gesundheitsuntersuchungen in den letzten Jahren deshalb wissenschaftlich neu bewertet und – insbesondere in Großbritannien – grundlegend reformiert. Dabei habe ein Schwerpunkt auf Bevölkerungsgruppen mit besonderen gesundheitlichen Risiken gelegen.

IQWiG erneuert Kritik an einarmigen Studien

Köln (pag) – Das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) hat ein Reflexionspapier der European Medicines Agency (EMA) zur Marktzulassung neuer Wirkstoffe auf Basis einarmiger Studien kritisch kommentiert.

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Dem Institut zufolge stellt die EMA in ihrem Papier richtig fest, dass Studien ohne Vergleichsarm mit Verzerrungen einhergehen und kausale Effekte auf dieser Basis im Allgemeinen kaum abgeschätzt werden können. Allerdings vermissen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler klare Kriterien, welche die Zulassung auf Basis solcher Studien auf äußerst seltene Ausnahmesituationen begrenzen.

Vorbild FDA?

Als positives Beispiel nennt das IQWiG einen im Februar veröffentlichten Leitfaden der Food and Drug Administration (FDA) in den USA. „Die FDA sagt klipp und klar, dass die Chancen, nur mit einer externen Kontrolle die Wirksamkeit eines Arzneimittels nachzuweisen, nicht gut stehen, und rät nachdrücklich zu einem Studiendesign mit interner Kontrolle – auch für seltene Erkrankungen“, betont Dr. Beate Wieseler, Leiterin des IQWiG-Ressorts Arzneimittelbewertung. Die US-Behörde benenne auch konkrete Situationen, in denen extern kontrollierte Studien generell ungeeignet sind – zum Beispiel, wenn der natürliche Verlauf der Krankheit nicht hinreichend bekannt ist oder stark variieren kann. Wieseler fordert, dass die EMA diese Punkte in ihr Reflexionspapier aufnehmen sollte.

Laut IQWiG können einarmige Studien in seltenen Fällen die Sicherheit und Wirksamkeit eines neuen Wirkstoffs gut genug belegen, um von Regulierungsbehörden eine Marktzulassung zu erhalten. Aber wenn es um den tatsächlichen Einsatz in einem Gesundheitssystem gehe, muss der Wirkstoff mit bereits verfügbaren Behandlungsoptionen verglichen werden – und zwar möglichst bald. Wieseler: „Dazu sollte man von Anfang an auf Studien setzen, die sowohl für die Zulassung als auch für die Einordnung in die Versorgungslandschaft mittels eines Health Technology Assessments (HTA) geeignet sind.“ Es könne nicht um einen beschleunigten Marktzugang an sich gehen, sondern um einen zügigen evidenzbasierten Zugang in die Versorgung zum Nutzen der Patientinnen und Patienten.

Weiterführender Link:

Reflexionspapier der EMA: „Single-arm trials as pivotal evidence for the authorisation of medicines in the EU“
https://www.ema.europa.eu/en/news/single-arm-trials-pivotal-evidence-authorisation-medicines-eu