Der Ernstfall

In Sachen Health Security besteht dringender Nachholbedarf

Berlin (pag) – Die von Bundeskanzler Olaf Scholz proklamierte Zeitenwende betrifft auch das Gesundheitswesen. Auf einer Tagung der Bundesärztekammer (BÄK) nehmen Expertinnen und Experten eine Bestandsaufnahme vor, ob das gegenwärtige „Schönwettersystem“ auf den Ernstfall vorbereitet ist. Ihre Einschätzungen fallen ernüchternd aus.

© Bundeswehr, Patrick Grüterich
© Bundeswehr, Patrick Grüterich

Ralph Tiesler, Präsident des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK), findet klare Worte: „Für das Szenario Krieg sind wir nicht gut aufgestellt“, sagt er. Dies sei jahrzehntelang nicht vorstellbar gewesen. Deshalb müssten jetzt die Prioritäten neu gesetzt werden.

Tiesler spricht bei der BÄK-Veranstaltung von einer veränderten Bedrohungslage: Seit 2022 sei Krieg eine neue Realität in Europa. Aufgrund seiner geografischen Lage sei Deutschland im Bündnis- und Verteidigungsfall besonders betroffen. Und insbesondere für das Gesundheitssystem stelle das „Themenfeld Krieg“ eine besondere Herausforderung dar. Verteidigung, so Tiesler, sei keine allein militärische Angelegenheit.

Neue Realitäten

Konsens ist bei der Tagung, dass neben dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine auch Klimawandel, Cyberangriffe und Sabotage sowie politischer Extremismus die Frage nach der Krisenresilienz der Gesellschaft in einer neuen Dringlichkeit stellen. Das gelte im Besonderen für das Gesundheitswesen. BÄK-Präsident Dr. Klaus Reinhardt mahnt daher, die neuen Realitäten zu akzeptieren und sich in allen gesellschaftlichen Bereichen auf den Ernstfall vorzubereiten. „Wir müssen aber auch über die Resilienz des Gesundheitswesens insgesamt sprechen.“

Im März dieses Jahres hat Bundesgesundheitsminister Prof. Karl Lauterbach angekündigt, das Gesundheitssystem mit einem gesonderten Gesetz besser auf Katastrophen und militärische Konflikte vorbereiten zu wollen. Der für den Sommer angekündigte Entwurf lag bis Redaktionsschluss noch nicht vor. Umso dringlicher verlangt der Vorstandsvorsitzende der Charité, Prof. Heyo Kroemer, Health Security – Gesundheitssicherheit – in Deutschland zu etablieren.

Nur ein Schönwettersystem?

In seinem Vortrag verschweigt er nicht, dass es eine „gewaltige Aufgabe“ sei, das deutsche Gesundheitswesen resilient zu machen. Das dürfte nicht zuletzt an der vom Sachverständigenrat Gesundheit & Pflege konstatierten mangelnden Kooperation zwischen Sicherheitsbehörden, Militär und Gesundheitswesen liegen. Der Rat bezeichnet in diesem Zusammenhang das hiesige Gesundheitswesen als „Schönwettersystem“.

Der Charité-Chef Kroemer ist Vorsitzender des „ExpertInnenrats Gesundheit und Resilienz“ und hat sich mit dem Thema intensiv befasst. Ihm zufolge ist Deutschland für sogenannte MANV-Situationen gut aufgestellt. Der Massenanfall von Verletzten (MANV) bezeichnet im Rettungswesen eine Situation, bei der eine große Zahl von Verletzten oder Erkrankten versorgt werden muss – etwa aufgrund von Bombenattentaten, Eisenbahnunglücken, Flugzeugabstürzen, Seuchen sowie großflächigen ABC-Einsatzlagen. Solche MANV-Situationen dauern in der Regel mehrere Stunden oder wenige Tage. Eine komplett andere Dimension stellt ein Verteidigungsfall dar, der Monate oder sogar Jahre andauern könne, so Kroemer. Um mit solchen Situationen fertig zu werden, müsse man sich dringlich mit Gesundheitssicherheit auseinandersetzen.

Ralph Tiesler, Präsident des BBK © BBK
Ralph Tiesler, Präsident des BBK © BBK

International hat das Thema Health Security bereits deutlich an Fahrt aufgenommen. Bei der Weltgesundheitsorganisation und der Europäischen Union ist es stärker in den Fokus gerückt. Kroemer berichtet, dass viele Länder bereits eine Strategie ausgearbeitet haben. In den USA und in den UK gebe es dafür nationale Einrichtungen. In Ländern wie Schweden oder Dänemark wurde ein ziviles Krankenhaus mit Aufgaben der Gesundheitssicherheit beauftragt. So weit ist man hierzulande noch nicht. Aber immerhin nimmt der Resilienzexperte ein beginnendes Problembewusstsein wahr. Es bestehe ein enger Austausch zwischen Bundeswehr und zivilen Strukturen – „allerdings in erheblichen Teilen auf individueller Ebene, weil man sich kennt und noch nicht in richtigen Strukturen“, schränkt Kroemer ein.

Den Eindruck einer noch unausgereiften Zusammenarbeit bestätigt Tiesler. So sei Katastrophenschutz Ländersache. Deshalb gebe es keine übergreifende Steuerung zwischen Bund und Ländern. „Es gibt keinen Krisenstab auf Bundesebene für alle“, räumt er ein, „es gibt nichts, was geübt und trainiert und vorgedacht ist an der Stelle, das ist tatsächlich ein echtes Defizit“. Der Behördenleiter sieht als größtes Problem die föderale Staatsstruktur sowie die Betonung der zivilgesellschaftlichen Zusammenarbeit. Das funktioniere in Friedenszeiten, stelle aber in der gegenwärtigen Lage ein Hindernis dar. „Und trotzdem müssen wir da durch und schneller werden“, appelliert er.

Der Bündnisfall BBK-Chef Tiesler konkretisiert, was im NATO-Bündnisfall, wenn Deutschland zur Drehscheibe werde, auf das Gesundheitssystem zukommt: bis zu 1.000 neue Patienten pro Tag, kriegsbedingte Verletzungsmuster, strategischer Patiententransport, Sabotageakte und Anschläge auf die Gesundheitsinfrastruktur. Man müsse sich auch auf großflächige CBRN-Lagen einrichten. CBRN-Schutz ist ein Sammelbegriff und bezeichnet chemische, biologische, radiologische und nukleare Gefahren. Auch verlange die NATO die Aufnahme von Geflüchteten, in einer Größenordnung bis zu zwei Prozent der deutschen Gesamtbevölkerung.

Wie viele Ehrenamtliche?

Auf der Agenda seiner Behörde stehen eine Menge Aufgaben. Tiesler nennt unter anderem: Sanitätsmittelbevorratung, strategischer Patiententransport sowie medizinischer CBRN-Schutz. Auch der gesundheitliche Bevölkerungsschutz, der in besonderen Langen – Krisen, Katastrophen und Krieg – eine Ergänzung der medizinischen Grund- und Alltagsversorgung darstellen soll, ist im Fokus des Bundesamtes. Dieses Hilfesystem wird nämlich im Wesentlichen von Ehrenamtlichen getragen. Von wie vielen genau, ist derzeit unklar. Zwar kursiert eine Zahl von 1,7 Millionen, allerdings sind dabei Mehrfachverpflichtungen von Personen nicht berücksichtigt. Tieslers Behörde versucht daher, eine realistische Größenordnung zu ermitteln.

Zwar existieren bereits unzählige Leitfäden, Konzepte und Handbücher, dennoch muss aktuell vieles neu gedacht werden. Für Vorhaltungsstrategien, die noch aus Zeiten des Kalten Krieges stammen, braucht es zeitgemäße Nachfolgemodelle, so der BBK-Chef. Dabei gehe es insbesondere um „Lösungen in Bezug auf Personal, Material, Koordination und Steuerung“. Dahinter sieht er die Grundsatzfrage, ob andere Regeln in dieser Zeit, in der vieles geplant und vorbereitet werden muss, benötigt werden. Eine Zeit, die Tiesler weder Frieden noch Krieg nennen möchte.

„Effektive und vertrauensvolle Zusammenarbeit“

Generaloberstabsarzt Dr. Ralf Hoffmann, Befehlshaber des Zentralen Sanitätsdienstes der Bundeswehr © BÄK, Marten Ronnebur
Generaloberstabsarzt Dr. Ralf Hoffmann, Befehlshaber des Zentralen Sanitätsdienstes der Bundeswehr © BÄK, Marten Ronnebur

„Aufgrund der zentralen geopolitischen Lage in Europa ist Deutschland bereits in frühen Phasen eines Konfliktes in besonderer Weise als Drehscheibe gefordert, dies gilt insbesondere auch für die Gesundheitsversorgung. Um für unsere Soldatinnen und Soldaten sowie unsere multinationalen Partner eine adäquate medizinische Versorgung sicherstellen zu können, ist der Sanitätsdienst der Bundeswehr auf eine effektive und vertrauensvolle Zusammenarbeit mit dem zivilen Gesundheitssystem angewiesen. In der Vergangenheit hat der Sanitätsdienst der Bundeswehr regelmäßig in Deutschland das zivile Gesundheitssystem unterstützt, beispielsweise im Rahmen der Fluthilfe oder der COVID-19-Pandemie. Zukünftig werden sich die Akteure des zivilen Gesundheitssystems im Rahmen der gesamtstaatlichen Verantwortung für die Gesundheitsversorgung verstärkt auch auf die Unterstützung der Bundeswehr vorbereiten müssen. Die hierfür notwendige enge Verzahnung von zivilen und militärischen Strukturen sowie die gegenseitigen Abhängigkeiten gilt es nun, aktiv zu planen und so konkret wie möglich vorzubereiten.“

Vorrevolutionäre Sachzwänge

Berlin (pag) – Wie drei konfessionelle Träger vor der Krankenhausreform ihr Heil in Umstrukturierungen suchen, ist kürzlich auf dem Fachtag des Katholischen Krankenhausverbands Deutschland (KKVD) zu erfahren. Sie haben bereits hinter sich, was auf viele Einrichtungen durch das Krankenhausversorgungsverbesserungsgesetz (KHVVG) noch zukommen dürfte. Ein Erfahrungsbericht.

Der katholische Hospitalverbund Hellweg steht 2015 in Unna vor einer besonderen Herausforderung, führt Geschäftsführer Christian Larisch aus. In diesem Jahr beginnen die Fusionsgespräche ihres Katharinen Hospitals mit dem Evangelischen Krankenhaus Unna – also dem Zusammengehen zweier Häuser unterschiedlicher Konfessionen. Aus den beiden Krankenhäusern wird 2020 das Christliche Klinikum Unna (CKU). Beide Standorte bleiben zunächst erhalten. Die Ausgangslage 2015: In der 60.000-Einwohnerstadt stehen zwei Krankenhäuser mit ähnlichem Leistungsangebot im Wettbewerb zueinander. Da man nicht genau wusste, wie sich die Krankenhauslandschaft entwickle, hätten sich beide Träger für eine Fusion entschieden.

„Unsere Fusion: deutschlandweit 
etwas Besonderes“ - so stellt das Christliche Klinikum Unna (CKU) den Zusammenschluss auf seiner Website dar. Grafik: CKU
„Unsere Fusion: deutschlandweit 
etwas Besonderes“ – so stellt das Christliche Klinikum Unna (CKU) den Zusammenschluss auf seiner Website dar. Grafik: CKU

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Die Vorgaben durch die neue Krankenhausplanung in Nordrhein-Westfalen seien durch den Zusammenschluss weitestgehend erfüllt, hält Larisch fest. Doch für die nahe Zukunft ist die Zentralisierung an einem Standort geplant. Larischs Take-Home-Message: „Vor dem Hintergrund der aktuellen Rahmenbedingungen sind Kooperationen und Fusionen vielleicht der letzte Weg, um gestalten zu können und nicht gestaltet zu werden.“

Kein Abstieg

In Karlsruhe ist man ebenfalls eine überkonfessionelle Fusion eingegangen: 2016 werden aus den St. Vincentius-Kliniken (katholisch) und dem Diakonissenkrankenhaus (protestantisch) die ViDia Christliche Kliniken Karlsruhe, berichtet deren Vorstandsmitglied Caroline Schubert. „Wir haben in Eigeninitiative eine Strukturbereinigung vorgenommen.“ Ähnlich wie in Unna hatten die beiden Häuser ein überlappendes Leistungsangebot. Ziel war die Auflösung aller Doppelstrukturen. Jetzt verfügt ViDia über vier Standorte, inklusive Neubau und ambulantem OP-Zentrum. In der badischen Metropole kooperiert ViDia mit den beiden anderen Krankenhäusern vor Ort, dem städtischen Maximalversorger und der Helios-Herz-Fachklinik. Für das KHVVG und die von Gesundheitsminister Prof. Karl Lauterbach als Revolution ausgerufene Klinikreform sieht sich Schubert gewappnet: „Wir haben nicht vor abzusteigen.“

Die Marienhaus-Gruppe will nicht auf die „Revolution“ warten. „Es wird keine Rettung durch die Krankenhausreform geben“, befürchtet der Vorsitzende der Geschäftsführung Sebastian Spottke in Bezug auf kleine Kliniken. Dazu gehört auch die Marienhaus-Einrichtung St. Josef-Krankenhaus im rheinland-pfälzischen Hermeskeil mit knapp über 15.000 Einwohnern. Dort sei man zu der Erkenntnis gekommen, dass das Haus in seiner jetzigen Form nicht weiter existieren könne und entscheidet sich für eine Umwandlung zum sektorenübergreifenden Versorger, ganz im Sinne der Krankenhausreform. Dort werden 20 Betten fachärztlich betreut, die Notfallversorgung erfolgt reduziert. Ergänzt wird das Angebot durch einen ambulanten Bereich in Form eines Medizinischen Versorgungszentrums. Das Ganze fügt sich in das Zukunftskonzept des Gesundheitscampus Hermeskeil mit geriatrischer Reha sowie trägerinterner und externer Zusammenarbeit mit anderen Häusern.

 

Weiterführender Link

Informationen zum Zusammenschluss des Christlichen Klinikums Unna (CKU)

„Uns war ein Stimmungsbild aus der Gesellschaft wichtig“

Lena Kümmel über gesundheitspolitische Bürgerbeteiligung im Ostalbkreis

Aalen (pag) – Im Sommer 2023 beschäftigen sich 51 zufällig ausgewählte Bürger damit, wie eine zukunftsfähige Gesundheitsversorgung aussehen könnte. In einem Bürgerforum tauschen sie sich über das Zukunftskonzept der Kliniken Ostalb aus. Das Ergebnis: 26 konkrete Empfehlungen an den Kreistag. Hintergründe, Ziele und Herausforderungen erläutert die Projektverantwortliche, Lena Kümmel, im Interview. Sie hat die Bürgerbeteiligung von Anfang an begleitet.

Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Bürgerforums im Ostalbkreis, die sich mit Klinikstrukturveränderungen auseinandergesetzt haben. © Kommunikationsbüro Ulmer GmbH

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Der Ostalbkreis initiierte im vergangenen Jahr eine Bürgerbeteiligung in der regionalen Gesundheitspolitik. Um welches Thema ging es dabei?

Kümmel: Ursprünglich um unsere Klinikstruktur, konkret um die Zusammenlegung von mehreren Standorten. Doch das Interesse der Bürger reichte weit darüber hinaus. Ein wichtiges Anliegen war ihnen auch die ambulante ärztliche Versorgung. Das spiegelt sich in den Empfehlungen der Bürger wider: Sie beziehen sich einerseits auf Klinikstrukturveränderungen, andererseits auf die gesamte Gesundheitsstruktur im Landkreis. Außerdem gibt es landes- und bundespolitische Empfehlungen.

Warum entschied sich der Landrat für diesen Schritt?

Kümmel: Unser Landrat Dr. Joachim Bläse nahm selbst an einem Zufallsbürgerforum teil. Der Prozess und die Ergebnisse beeindruckten ihn so stark, dass er dieses Format im Rahmen des Klinikstrukturierungsprozesses aufgriff. So kam unser erster Versuch, ein solches Zufallsbürgerforum im Gesundheitssektor auszuprobieren, ins Rollen.

Bekamen Sie dafür externe Unterstützung?

Kümmel: Ja, bei der zuständigen Stelle für Bürgerbeteiligung im Staatsministerium Baden-Württemberg. Bei der Evaluation stand uns Prof. Frank Brettschneider von der Universität Hohenheim zur Seite.

Wie fand die Beteiligung konkret statt?

Der Strukturwandel im Krankenhaussektor stellt viele Kommunen und Landkreise vor erhebliche Herausforderungen. Das trifft auch auf den Ostalbkreis zu. © stock.adobe.com, upixa

Kümmel: Wichtige Leitfragen waren für uns: Wo im Prozess holen wir die Bürger ab? Welche Entscheidungen gingen bereits voraus? In unserem Fall bestand der erste Schritt darin, die Bürger darüber aufzuklären, warum es notwendig ist, den Klinikbereich umzustrukturieren. Über die Gründe – etwa personelle, finanzielle und strukturelle Schwierigkeiten – informierten wir sie zuerst. Das geschah sowohl in Präsenz als auch im Rahmen von Videokonferenzen. In Bürgerdialogen sprachen Experten über die mannigfaltigen Problemfelder.

Wer war das zum Beispiel?

Kümmel: Neben dem Landrat vor allem Klinikmitarbeiter oder der Klinikvorstand. Wir investierten insbesondere deshalb in die Informationsbereitstellung, weil erst mit einem gewissen Problemverständnis Lösungsansätze erarbeitet werden können.

Mit welchen Herausforderungen waren Sie konfrontiert?

Kümmel: Herausfordernd waren im Zufallsbürgerforum insbesondere emotionale Themen, dann wurde die Debatte merklich schwieriger. Das nahmen wir insbesondere bei zwei Bereichen wahr.

Bei welchen?

Kümmel: Bei der Notfallversorgung und der Geburtshilfe. Die Bürger trieb die Frage um, an wen sie sich im Notfall wenden können, wenn zum Beispiel die Notaufnahme nicht mehr vor Ort ist. Bei dieser Frage waren die Beteiligten teilweise sehr besorgt. Zwar versuchten sie, sich von den Fakten leiten zu lassen, aber an anderen Stellen gelang ihnen das besser. Viel Verständnis hatten die Bürger beispielsweise, wenn es um Qualitäts- oder Personalvorgaben ging. Für sie war es gut nachvollziehbar, dass Veränderungen für gute Strukturen und Arbeitsbedingungen notwendig sind.

Wie sind Sie dabei vorgegangen?

Kümmel: Wir haben weiterhin versucht, die Fakten darzustellen und zu erklären, warum kein Weg an Strukturveränderungen vorbei geht. Wir achteten außerdem darauf, den Beteiligten verschiedene Perspektiven aufzuzeigen. Dazu ließen wir etwa Sprecher aus Bürgerinitiativen zu Wort kommen. Statt uns in Details zu verlieren, lenkten wir den Fokus auf das große Ganze. Das konnten die Bürger auch greifen und die Ergebnisse sprechen für sich: Letztlich lautet ihre Empfehlung, ein Zentralklinikum zu bauen. Das deckt sich mit der Entscheidung des Kreistages. Wichtig war für uns aber natürlich auch, die Emotionen und Bedenken der Menschen wahr- und mitzunehmen.

Wie sieht es mit der Berücksichtigung der Bürgerempfehlungen bei den politischen Entscheidungsfindung aus?

Kümmel: Bei uns ist der Kreistag das zuständige Entscheidungsgremium, weil sich die Kliniken in der Trägerschaft des Landkreises befinden. Die Herausforderung besteht darin, dass bei der Neuorganisation der Klinikstruktur viele unterschiedliche Interessen zusammenkommen: Jeder Bürgermeister, jede Stadt hat eigene Vorstellungen. Es ist schwierig, ihnen zu erklären, dass sich ihr Klinikum vor Ort verändern wird.

Im Osten Baden-Württembergs gelegen, grenzt der Ostalbkreis an den Freistaat Bayern.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Kümmel: Zu Beginn des Prozesses erhielten wir zuhauf Leserbriefe und Bürgerinitiativen, die sich allesamt gegen Klinikstrukturveränderungen aussprachen. Uns war es daher wichtig, ein Stimmungsbild aus der Gesellschaft zu bekommen, das sich die Situation neutral und unvoreingenommen ansieht. Mit unserer alters- und geschlechtsheterogenen Gruppe haben wir genau diese Möglichkeit bekommen. Durch die Empfehlungen der Bürger fiel dem Kreistag die Entscheidung für einen zentralen Klinikstandort leichter. In anderen Landkreisen sieht man immer wieder, dass es nur knappe Mehrheiten für Strukturänderungen im Klinikbereich gibt. In unserem Fall gab es nur eine Enthaltung und eine Gegenstimme bei insgesamt 73 Kreisräten. Ein eindeutiges Votum. Der Landrat ist davon überzeugt, dass die Bürgerbeteiligung einen relevanten Beitrag zu dieser Zustimmung geleistet hat.

Hat sich die Bürgerbeteiligung auf weitere Versorgungsbereiche ausgewirkt?

Kümmel: Im Landkreis haben wir eine angespannte hausärztliche Versorgungssituation, insbesondere durch eine teilweise Unterversorgung bedingt. Auch den Bürgern fällt auf, dass es an Personal und Nachwuchs fehlt. Lange Wartezeiten sind nur eine der Folgen. Auch im Bürgerforum war spürbar: Es muss sich etwas an den Strukturen ändern, wenn wir eine gute Versorgung im ländlichen Raum sichern wollen. Vielen ist mittlerweile bewusst, dass sich vielleicht nicht in jedem kleinen Dörfchen ein Hausarzt halten kann, sondern Verbünde in Städten zukunftstauglicher sind. Das ist in der Diskussion offensichtlich geworden.

Was sind die wichtigsten Lehren aus der Bürgerbeteiligung?

Kümmel: Gerade im Gesundheitssektor bietet diese Herangehensweise immenses Potenzial. Es handelt sich um einen Bereich, in dem zwar viele Meinungen kursieren, aber grundsätzlich zu wenig Fakten bekannt sind. Ich denke dabei etwa an die Zuständigkeitsbereiche. Ein Beispiel aus meinem Alltag: Häufig rufen Bürger im Landratsamt mit der Bitte an, dass wir ihnen einen Hausarzttermin vermitteln. Da bleibt mir nichts anderes übrig, als sie an die Kassenärztliche Vereinigung zu überweisen.

Passiert das öfter?

Kümmel: Das ist kein Einzelphänomen. Dem Bürger fehlt es häufig an Orientierung. Offen bleiben Fragen wie: Wer trägt die Verantwortung, wo wird mir geholfen oder wo kann ich mich beschweren, wenn etwas nicht gut läuft? Da so viel Halbwissen und Gefühle kursieren, ist die Bürgerbeteiligung eine sehr hilfreiche Möglichkeit, um in den Dialog zu gehen und proaktiv zu kommunizieren. Selbst wenn der Zeit- und Arbeitsaufwand dafür hoch ist, lohnt es sich. Dafür ziehen Bürger und Experten an einem Strang und gewinnen über die Empfehlungen hinaus eine neue Rolle: Sie werden zu Multiplikatoren in ihrer Nachbarschaft, bei Freunden und im familiären Umfeld. Das hat einen hohen Mehrwert.

Ist diese Beteiligungsform auch für andere gesundheitspolitische Bereiche beziehungsweise Akteure denkbar? Gibt es bereits Anfragen?

Kümmel: Aus meiner Sicht ist die Beteiligung in vielen anderen Bereichen sinnvoll. Ich denke beispielsweise an den ambulanten ärztlichen Sektor. Die Eignung leitet sich immer über das Ziel ab: Warum würde man sich hier die Unterstützung für Entscheidungen oder Ideen von Bürgern wünschen? Bei uns ist zwar aktuell nichts weiter geplant, aber die Hebel sind in Bewegung. Wir wollen jetzt ein neues Gesundheitszentrum errichten. Wenn es an die konkrete Planung geht, kann ich mir gut vorstellen, dass wir wieder die Bürger vor Ort zu ihren Wünschen und Ideen befragen. Auch um die Akzeptanz für das neue Zentrum zu erhöhen.

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© pag, Fiolka

Zur Person
Lena Kümmel hat Politikwissenschaft und Soziologie studiert, arbeitete zwei Jahre im Europäischen Parlament und ist seit 2019 im Landratsamt Ostalbkreis als persönliche Referentin des Landrats tätig. Seit 2021 ist sie Referentin für die stationäre und ambulante Versorgung im Landkreis und unterstützt den Zukunftsprozess der Kliniken Ostalb. Begleitend studiert sie Gesundheitsmanagement im Master.
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Bürgerbeteiligung in der Gesundheitspolitik

Wie unbequeme Reformprozesse neu gedacht werden müssen

Berlin (pag) – Die Versorgungslandschaft befindet sich im Wandel, der bisherige Standard wird nicht überall aufrechtzuerhalten sein. Politikerinnen und Politiker müssen sich unpopulären Entscheidungen stellen, die für Unruhe und Skepsis in der Bevölkerung sorgen. Ist die Bürgerbeteiligung ein für die Gesundheitspolitik geeignetes Modell, um Kritik und Protest in konstruktiven Aktivismus umzuwandeln? Eine Bestandsaufnahme.

„Wir erkennen jetzt, dass Bürgerbeteiligung innerhalb des Gesundheitssystems nötig ist und dazu beitragen wird, Reformen innerhalb des Systems zu beschleunigen, konkurrierende Interessen auszugleichen und die Versorgungsqualität zu verbessern“, lautet die zentrale Schlussfolgerung einer vom Bundesgesundheitsministerium (BMG) geförderten und von der Universität Bielefeld durchgeführten Tagung. Stattgefunden hat die Veranstaltung zu Bürgerbeteiligung im Gesundheitswesen bereits im Jahr 1999. Der Gedanke ist also bereits ein Vierteljahrhundert alt. Getan hat sich seitdem nicht viel. Während die Patientenbeteiligung längst im System etabliert ist und kürzlich 20. Jubiläum feierte, herrscht in puncto Bürgerbeteiligung weitgehend Stillstand. Zumindest in Deutschland.

Über internationale Avantgarden

Anders ist die Situation im Ausland: Als Vorreiter für gesundheitspolitische Bürgerbeteiligung gelten etwa skandinavische Länder und auch Großbritannien. „Ich selbst schaue seit vielen Jahren mit einem gewissen Neid nach Großbritannien, wo ich sehe, dass die Organisation der Interessen von Bürgern, Patienten und Konsumenten einen Reifegrad erreicht hat, von dem wir hier noch weit entfernt sind,“ konstatiert der damalige BMG-Abteilungsleiter Dr. Herrmann Schulte-Sasse auf der Tagung vor 25 Jahren. Gegenüber der Presseagentur Gesundheit nennt Prof. Frank Brettschneider von der Universität Hohenheim weitere wichtige Leuchttürme: Das österreichische Bundesland Vorarlberg mit seinen Bürgerräten, der US-amerikanische Bundesstaat Oregon mit seinen Citizens‘ Juries oder Irland mit seinen Citizens‘ Assemblies.

Ostalbkreis als Blaupause

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Brettschneider, der zu Kommunikation bei Infrastrukturprojekten forscht, ist selbst in ein gesundheitspolitisches Beteiligungsformat im Ostalbkreis in Baden-Württemberg involviert: Im Sommer 2023 tauschten sich dort 51 Bürger über die Zukunft der dortigen Gesundheitsversorgung, insbesondere die Neugestaltung der Kliniklandschaft, aus. Dem Kommunikationswissenschaftler zufolge ist das Projekt als Blaupause für andere Kreise geeignet. Die Probleme seien vergleichbar, zudem sei das Verfahren relativ unkompliziert. Brettschneider erklärt es wie folgt: „Zunächst werden die betroffenen Personengruppen identifiziert. Mit ihnen hält man alle relevanten Aspekte auf einer Themenlandkarte fest.“ Diese komme im Anschluss ins Internet, sodass die Bürger Ergänzungen vornehmen können. Im nächsten Schritt hören zufällig ausgewählte Bürger Interessengruppen und Fachleute zu den Fragestellungen an. „Dafür brauchen sie vier bis fünf Termine. Abschließend formulieren die Bürger ihre Empfehlungen an den Kreistag.“ Diese seien allerdings nicht bindend. Folge der Kreistag einzelnen Empfehlungen nicht, muss er dies jedoch begründen (Mehr über das Projekt lesen Sie im Interview mit Lena Kümmel auf der nächsten Seite).

Im Ostalbkreis hat man sich für ein Bürgerforum entschieden, um die Bevölkerung in die Neugestaltung der Kliniklandschaft einzubinden. Solche Foren eignen sich besonders, um wichtige Gremienentscheidungen durch Bürgerempfehlungen vorzubereiten, es können aber auch andere Formate gewählt werden (siehe Infokasten).

Vielleicht ist das Forum ein Indiz dafür, dass hierzulande ein Umdenken stattfindet und sich die Gesundheitspolitik stärker öffnet – als Nebeneffekt des spürbaren Reformdrucks, der die politischen Entscheidungsträger zu unbequemen Maßnahmen zwingt. Denn Beteiligung, da sind sich Wissenschaftler einig, kann die Akzeptanz in politische Entscheidungen erhöhen und das Vertrauen in demokratische Institutionen stärken. Brettschneider kann sich gut vorstellen, dass Gesundheitspolitiker künftig häufiger Bürger mit ins Boot holen. „Sie tragen auch unbequeme Maßnahmen mit, wenn sie die Gründe dafür nachvollziehen können. Dafür muss man die Bürgerinnen und Bürger aber ernst nehmen und mit ihnen sprechen“, so der Kommunikationsexperte. Entscheidend für den Erfolg sei eine Vielfalt von Lösungsalternativen statt einer singulären Vorgabe. Innerhalb eines Beteiligungsprozesses empfiehlt er bis zu drei Varianten zur Diskussion zu stellen, samt aller Vor- und Nachteile. „Zufällig ausgewählte Bürgerinnen und Bürger sind da manchmal sogar mutiger als einige Politiker, die sich von den lauten Stimmen in der Bürgerschaft beeindrucken lassen und sie für die Mehrheitsmeinung halten.“

 

Beteiligungsformate – eine Auswahl
Runde Tische kommen vor allem bei kontroversen Themen zum Einsatz. Vertreter verschiedener Interessen erarbeiten hier gemeinsame Ergebnisse. In Themen- und Fokusgruppen steht nicht die partizipatorische Natur im Vordergrund, sondern die Beratung von Entscheidungsträgern durch Bürger. Meinungsbilder aus speziellen Bevölkerungsgruppen können in Fokusgruppen besonders gut dargestellt werden. Zukunftswerkstätten ermöglichen es Bürgern, sich in Ideenfindung zu Entwicklungen und Entscheidungen einzubringen. Das Format dockt meist direkt am Lebensumfeld von Betroffenen an. Charakteristisch ist eine ausgeprägte Visionsphase. Ein Beispiel dafür ist „Neustart! Reformwerkstatt für unser Gesundheitswesen“ der Robert Bosch Stiftung.

„Ambulantisierung als Einbahnstraße kann nur scheitern“

Ulrich Langenberg über erste Schritte, Hindernisse und Sturzgeburten

Berlin (pag) – Die ambulante Medizin ist bei der Krankenhausreform noch weitgehend eine Leerstelle, kritisiert Ulrich Langenberg. Der Geschäftsführer Politik der Bundesärztekammer stellt im Interview dar, was passieren muss, damit die oft angemahnte Ambulantisierung der Versorgung wirklich nach vorn kommt. Für Langenberg müssen nicht nur Vergütungsregeln geändert werden: „Es geht darum, das gesamte System zu stärken.“

Welche Erfolgschancen räumen Sie der Krankenhausstrukturreform ein – hinsichtlich einer Verstärkung der ambulanten Medizin?

Langenberg: Das kommt darauf an, ob es Bund und Ländern gelingt, ein in der Praxis umsetzungsfähiges Konzept zu entwickeln. Bisher sehe ich das noch nicht. Die Absicht, erst einmal mit dem NRW-Modell zu starten, ist aber ein richtiger Schritt. Für den Erfolg kommt es außerdem auf die Einbeziehung derjenigen an, die die Versorgung tatsächlich leisten. Immerhin kündigt der zirkulierende Entwurf des „Orientierungspapiers“ aus dem Bundesgesundheitsministerium ein „Konzept zur weiteren Einbindung wesentlicher, betroffener Akteure“ an. Wir sind gespannt, was daraus werden wird. Zum zweiten Teil der Frage: Die ambulante Medizin ist im Konzept der Regierungskommission noch weitgehend eine Leerstelle. Lediglich im Bereich der geplanten Level-I-Krankenhäuser gibt es einige Impulse. Die Kommission selbst räumt ein, dass dies nicht mehr als ein „erster Schritt“ sein kann – und vertröstet uns im Übrigen auf eine weitere Stellungnahme. Für die Ambulantisierung werden deswegen zunächst einmal der AOP-Katalog und die „sektorengleiche Vergütung“ nach § 115f SGB V viel relevanter sein.

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Welche Wirkung werden die angekündigten Hybrid-DRGs im besten Fall entfalten?

Langenberg: Im besten Fall ist das der Einstieg in eine echte sektorenübergreifende Versorgung mit einem besseren Einsatz des überall knappen Personals. Das kann gelingen, wenn man mit einem überschaubaren Katalog von Leistungen anfängt, die sich wirklich gut für eine verstärkte Ambulantisierung eignen und so auskömmlich finanziert werden, dass Kliniken wie Niedergelassene die notwendigen Umstellungsprozesse auch tatsächlich bewältigen können. Dann kann es schrittweise weitergehen. Eine „Sturzgeburt“ hilft hingegen niemandem. Schon die in § 115f SGB V vorgesehene Frist für die Erarbeitung einer speziellen sektorengleichen Vergütung durch die Selbstverwaltung war mit drei Monaten von vorneherein zu knapp bemessen.

War das Absicht?

Langenberg: Es drängt sich ein wenig der Eindruck auf, dass das von Seiten des Bundesgesundheitsministeriums so intendiert war, um auch in diesem Bereich letztlich selbst zu entscheiden. Ohne eine sorgfältige Entwicklung mit Analyse der Auswirkungen und ohne Einbeziehung des praktischen Versorgungswissens wird es aber keinen Erfolg geben können.

Ambulantisierung ist bislang immer noch eine Wunschvorstellung. Wie kommt diese zum Fliegen?

Langenberg: Auf die Einbeziehung der Versorgungspraxis und die Finanzierung der Übergangskosten habe ich schon hingewiesen. In aller Kürze drei weitere Punkte: Erstens: Stationärer wie ambulanter Bereich müssen fair beteiligt werden. Ambulantisierung als Einbahnstraße kann nur scheitern. Hier kann der Bundesgesundheitsminister aus meiner Sicht noch dazulernen. Zweitens muss die Misstrauens- und Kontrollphilosophie überwunden werden.

Inwiefern?

Langenberg: In der Vergangenheit sind viele vom Ansatz her gute Ideen, sei es die spezialfachärztliche Versorgung oder das Entlassmanagement, letztlich in Bürokratie erstickt worden. Das darf jetzt nicht wieder passieren. Drittens und ganz, ganz wichtig: Bei der verstärkten Ambulantisierung muss die ärztliche Weiterbildung mitgedacht werden. Wir dürfen den ärztlichen Nachwuchs nicht abhängen, sonst verschärfen wir die ohnehin großen Versorgungsprobleme. Mit klugen Konzepten lässt sich das aber lösen. Die Ärztekammern stehen bereit, ihre Kompetenz an dieser Stelle einzubringen.

Wenn Sie persönlich die Wahl haben: Welchen Eingriff würden Sie nur im Krankenhaus vornehmen lassen und welchen auf jeden Fall ambulant?

Langenberg: Das möchte ich, wenn etwas ansteht, mit der Ärztin, dem Arzt meines Vertrauens besprechen können. Dann wünsche ich mir, dass es nicht darum geht, was in einem Katalog steht oder was die Kostenseite diktiert, sondern einzig und allein darum, was für meine Gesundheit die beste Entscheidung ist. Deshalb ist es so wichtig, dass wir das Primat des Patientenwohls und die Unabhängigkeit der ärztlichen Entscheidungen verteidigen. Bei den Regelungen für das ambulante Operieren und die sektorengleiche Vergütung müssen die Begleiterkrankungen der Patientinnen und Patienten, aber auch soziale Kontextfaktoren ausreichend berücksichtigt werden. Wenn Ambulantisierung gelingen soll, müssen die Menschen sich darauf verlassen können, dass nach einem ambulanten Eingriff die erforderliche ärztliche, pflegerische und soziale Unterstützung gegeben ist. Deshalb ist Ambulantisierung mehr als die Änderung von einigen Vergütungsregeln: Es geht darum, das gesamte System zu stärken.

 

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Zur Person
Ulrich Langenberg ist seit Jahresbeginn Geschäftsführer Politik der Bundesärztekammer. Der Facharzt für Neurologie hat zuvor als Leiter der Gruppe Krankenhaus im nordrhein-westfälischen Gesundheitsministerium die dortige Krankenhausreform entscheidend mitgestaltet. Als weitere berufliche Station war Langenberg Geschäftsführender Arzt der Ärztekammer Nordrhein. Schwerpunkte dieser Tätigkeit waren: die Gebührenordnung für Ärzte, die Gutachterkommission für ärztliche Behandlungsfehler, Krankenhausplanung, sektorenübergreifende Versorgung sowie ethische Fragen.
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Das ewige Talent

Wann kommt eine echte Ambulantisierung der Versorgung ins Rollen?

Berlin (pag) – Eine Ambulantisierung der Gesundheitsversorgung haben schon viele Bundesregierungen versprochen, aber von einem echten Durchbruch ist man hierzulande noch immer deutlich entfernt. Andere Länder sind wesentlich weiter. Woran das liegt und welches Potenzial die aktuellen Reformansätze haben.

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Die Ambulantisierung steht seit drei Jahrzehnten ganz oben auf der Agenda der Sozial- und Gesundheitspolitik, stellt Prof. Doris Schäffer von der Universität Bielefeld fest. Die Gesundheitswissenschaftlerin kritisiert in einem Aufsatz unter anderem mangelnde langfristig ausgerichtete gesundheitspolitische Strategien und Konzepte. Sie vermisst außerdem flexible rechtliche und finanzielle Rahmenbedingungen, um den mit der Ambulantisierung einhergehenden Anforderungen mit neuartigen Initiativen begegnen zu können. Das Schockierende: Schäffers Aufsatz ist bereits 2001 erschienen, aber ihre Diagnose ist noch immer top aktuell. Namhafte Experten wie Prof. Ferdinand Gerlach, ehemaliger Vorsitzender des Sachverständigenrats (SVR) Gesundheit und Pflege, sowie der Krankenhauskenner Prof. Boris Augurzky sind sich darin einig, dass hierzulande das Ambulantisierungspotenzial brach liegt. Angesichts des sich verschärfenden Fachkräfteengpasses und des enormen Kostendrucks in der GKV dürfte die Notwendigkeit dafür weiter steigen.

Prof. Doris Schäffer, Prof. Ferdinand Gerlach © pag, Fiolka

Der medizinische Fortschritt ermöglicht, dass immer mehr Eingriffe ambulant durchgeführt werden können – und zwar ohne Abstriche bei der Qualität und bei zugleich geringeren Kosten. Die Patientinnen und Patienten erholen sich im gewohnten Umfeld und binden somit weniger Betten und Personalkapazitäten in den Kliniken. Der SVR unterscheidet in seinem Gutachten aus dem Jahr 2018 zwischen zwei Dimensionen der Ambulantisierung: Zum einen die Ersetzung stationärer Behandlungen durch ambulante, die entweder bei einem niedergelassenen Facharzt oder ambulant im Krankenhaus durchgeführt werden. Zum anderen kann auch die Vermeidung von Klinikaufenthalten durch eine vorherige ambulante Therapie als Ambulantisierung im weiteren Sinne verstanden werden.

Folgenschweres Defizit

Die Bundesregierung hat im Koalitionsvertrag festgehalten, die Ambulantisierung voranbringen zu wollen. Solche Bekenntnisse kennt man bereits aus vergangenen Legislaturen. Seit den 1990er-Jahren wurden viele – von Experten als kleinteilig charakterisierte – Lösungen zur ambulanten Leistungserbringung im Krankenhaus geschaffen. Einen Überblick stellen der Gesundheitsökonom Prof. Jürgen Wasem und Dr. Wulf-Dietrich Leber vom GKV-Spitzenverband im Krankenhausreport 2016 dar, der sich dem Schwerpunktthema „Ambulant im Krankenhaus“ widmet. Sie nennen unter anderem: vor- und nachstationäre Behandlung, ambulantes Operieren, diverse Institutsambulanzen und die ambulant spezialfachärztliche Behandlung. Diverse Versorgungsangebote stehen an der Schnittstelle zwischen ambulant und stationär „vergleichsweise inkonsistent nebeneinander“, konstatieren die beiden Experten. Es gebe sogar Fälle, in denen identische Leistungen je nach Regelungskreis unterschiedlich vergütet werden. Kein Wunder also, dass Wasem und Leber eine ordnungspolitische Antwort vermissen und von einem Steuerungsdefizit sprechen. Dieses Defizit ist besonders folgenschwer, da die fehlende Harmonisierung der Vergütungs- und Planungsstrukturen innovative sektorenübergreifende Versorgungsstrukturen verhindert.

Ähnlich klingt es sieben Jahre später bei einer Veranstaltung des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung (Zi) im Dezember 2022. Dort macht Zi-Vize Thomas Czihal die starken Preisunterschiede zwischen ambulanter und stationärer Leistungserbringung mit dafür verantwortlich, dass die Ambulantisierung nach wie vor nur schleppend voranschreite. Für die finanzielle Besserstellung von stationären Eingriffen gegenüber ambulanten nennt er einige prägnante Beispiele (siehe Infokasten).

V.l.: Prof. Jürgen Wasem, Dr. Wulf-Dietrich Leber © pag

Die spannende Frage lautet nun, ob die sogenannten Hybrid-DRGs, die der Koalitionsvertrag der Ampel angekündigt hat, die verkrusteten Strukturen aufbrechen und der Ambulantisierung den entscheidenden Schub verleihen kann. Als eine Form der sektorengleichen Vergütung hat diese die Techniker Krankenkasse bereits in einem Vergütungsmodell beispielhaft entwickelt und erprobt. Gesetzlich verankert wurden sie im Krankenhauspflegeentlastungsgesetz. Paragraf 115f SGB V sieht vor, dass Kassenärztliche Bundesvereinigung, Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) und GKV-Spitzenverband für geeignete Leistungen aus dem AOP-Katalog eine spezielle sektorengleiche Vergütung vereinbaren.

Goldener DRG-Käfig

Ende März wurde offiziell verkündet, was Insider längst erwartet haben: Die Verhandlungen der Selbstverwaltung sind ergebnislos zu Ende gegangen. Einer der Gründe dafür dürfte gewesen sein, dass die DKG die Ambulantisierung mehr oder weniger ausschließlich an den Krankenhäusern stattfinden lassen will. Es kommt jetzt auf das Bundesgesundheitsministerium (BMG) an, ob die Ambulantisierung durch die Hybrid-DRGs zum Fliegen kommt oder weiterhin vor sich hin dümpelt und ein Dasein als leeres Politversprechen führt. Das Ministerium ist nämlich im Falle einer Nicht-Einigung mit einer Ersatzvornahme am Zug.

Dem Zi-Vorstandsvorsitzenden Dr. Dominik von Stillfried zufolge muss es darum gehen, den „goldenen Käfig der DRGs“ aufzubrechen. Für die Krankenhäuser seien alle Vergütungen außerhalb dieser Fallpauschalen unattraktiver. Es gebe daher einen starken ökonomischen Anreiz, möglichst viele Leistungen in diesem Rahmen stationär zu erbringen. Paragraf 115f hat von Stillfried zufolge das Potenzial, dass bestimmte Leistungen nicht mehr zu DRG-Sätzen gemacht werden können, sondern nur zu einem sektorengleichen Betrag, der auch für die Niedergelassenen gilt. Das hätte eine neue ambulante Versorgungsstruktur zu Folge, argumentiert er, die aber vermutlich nicht für alle Klinken attraktiv wäre. 115f könnte seiner Auffassung nach im Zuge der Krankenhausreform eine ideale Grundlage für die kleinsten Häuser (Level Ii) sein, die im Grunde ambulante Leistungen erbringen, wenn der Leistungskatalog entsprechend breit gefasst wird. 

Der Krankenhausminister

Ob Bundesgesundheitsminister Prof. Karl Lauterbach, der gelegentlich auch Krankenhausminister genannt wird, dafür mit der Ersatzvornahme tatsächlich die Weichen stellt, ist derzeit allerdings ziemlich ungewiss. Fakt ist jedoch, dass das BMG bei der Ersatzvornahme auf Vorarbeiten zurückgreifen kann. Der Gesundheitsökonom Prof. Jonas Schreyögg hat im Auftrag des Ministeriums bereits eine initiale Auswahl von Leistungsbereichen für eine sektorengleiche Vergütung vorgenommen. Nachzulesen ist das in einem Gutachten, das vor einem Jahr veröffentlicht wurde. Außerdem hat der Wissenschaftler der Universität Hamburg in einem Projekt des Innovationsfonds Möglichkeiten einer schnellen Umsetzung einer sektorengleichen Vergütung geprüft. Er schlägt eine Implementierung in zwei Phasen vor. Beide sehen die Vergütung unabhängig vom Ort der Behandlung, aber in Abhängigkeit der medizinischen Komplexität vor.

V.l.: Dr. Dominik von Stillfried, Thomas Czihal © Georg Johannes Lopata

Apropos Komplexität: Das Thema Ambulantisierung ist auch deshalb so komplex, weil es sehr eng mit den noch immer ungelösten Fragen der Strukturreform der Krankenhauslandschaft zusammenhängt. Damit verbunden sind wiederum die erbitterten Auseinandersetzungen zwischen den Akteuren, wie etwa jüngst wieder auf dem Krankenhausgipfel zu beobachten gewesen ist. Der ehemalige SVR-Vorsitzende Gerlach hofft, dass die Akteure endlich aus ihren Schützengräben herauskommen, denn die Ambulantisierung sei längst überfällig, sagt er gegenüber der Presseagentur Gesundheit. Durch diverse digitale Optionen und Geräte könnten bereits heute Patienten ambulant mit einem Dutzend verschiedener Vitalparameter lückenlos überwacht werden. Konzepte wie „hospital at home“ und „healthcare anywhere“ etablierten sich international gerade mit bemerkenswerter Geschwindigkeit. Gerlach prognostiziert daher, dass der allergrößte Teil der heutigen Krankenhausbelegtage in der Zukunft wegfallen werde und auch müsse. Das bedeute für den ambulanten Bereich, dass er diese Leistungen zukünftig zu erbringen hat. „Und es ist alternativlos, dass ambulanter und stationärer Sektor viel, viel enger zusammenarbeiten, als dies bisher der Fall ist“, mahnt der Experte. Wenn das nicht passiert, müsse der Gesetzgeber tatsächlich eine sektorenübergreifende Versorgung mit aller Macht durchsetzen.

 

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Ambulante versus stationäre Vergütung
Thomas Czihal nennt die Leistenbruch- und Katarakt-Operation: Die stationäre Durchführung der Leistenbruch-Operation werde 3,4-mal höher vergütet als die ambulante. Die Operation wird zu 96 Prozent stationär erbracht. Die stationäre Durchführung der Katarakt-Operation wird 1,8-mal höher vergütet als die ambulante; sie wird heute bereits zu 84 Prozent ambulant erbracht, so der Versorgungsforscher. Er verweist auf Berechnungen des Zi, wonach die Vergütung der stationären Durchführung von Leistungen des Abschnitts 1 des AOP-Katalogs rund das Vierfache der Vergütung einer ambulanten Leistungserbringung betrage. „Eine möglichst hohe Vergütung für die ambulante Durchführung wird ein wichtiger Anreiz zur Förderung der ressourcenschonenderen ambulanten Behandlung sein“, meint Czihal.
Beim AOP-Katalog handelt es sich um den Katalog ambulant durchführbarer Operationen, sonstiger stationsersetzender Eingriffe und stationsersetzender Behandlungen. Ein Gutachten des IGES Instituts empfiehlt kürzlich rund 2.500 medizinische Leistungen, die zusätzlich in den AOP-Katalog aufgenommen werden sollten. Damit würde sich die Anzahl der derzeit möglichen ambulanten Leistungen von Kliniken nahezu verdoppeln.

Priorisierung, Rationierung, sozialer Unfriede

Berlin (pag) – Weniger Fallzahlen, mehr Personal: So stellt sich die Lage der stationären Versorgung laut „Krankenhaus Rating Report 2022“ dar. Zugrunde liegen Daten aus dem Jahr 2020. Zwar sehen die Zahlen nicht schlecht aus, aber für die Zukunft befürchten die Autoren Rationierung.

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Nur noch sieben Prozent der Häuser befinden sich demnach in erhöhter Insolvenzgefahr. 2019 waren es noch 14 Prozent. Verlust machten 28 Prozent der Kliniken (2019: 34) und das durchschnittliche Jahresergebnis beträgt 1,2 Prozent der Erlöse (2019: 0,6). Diese relativ günstige Entwicklung habe jedoch nichts mit strukturellen Veränderungen zu tun, sondern mit den Corona-Hilfsmaßnahmen, betonen die Autoren.
Die Pandemie sorgt allerdings in 2020 dafür, dass die stationäre Fallzahl um 13,5 Prozent zurückgegangen ist. In 2021 habe sich diese Lage kaum verändert, konstatiert Report-Verfasser Prof. Boris Augurzky vom Institute for Healthcare Business. Dass die Patienten in der Zahl wie vor der Pandemie zurückkommen, halten er und seine Kollegen für nicht realistisch. Der Report spricht außerdem von einem Personalzuwachs in der Pflege in 2020 von fünf Prozent. Im Zusammenspiel mit dem Fallzahlenminus sei so ein Rückgang der Arbeitsproduktivität von 16 Prozent entstanden.
Autor Dr. Adam Pilny, RWI – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung, thematisiert das Problem der nicht ausreichenden Investitionsfinanzierung der Länder. „Wenn man die Substanz der Krankenhäuser erhalten will, müsste man pro Jahr sieben bis acht Prozent der Erlöse reinvestieren.“ Die Länder leisteten 2020 aber nur 3,4 Prozent. Krankenhäuser schlössen diese Lücke nur zum Teil aus eigener Kraft, sodass es zu einem Substanzverzehr komme.

Klinikmanager: Rationierung ist schon da

In den kommenden Jahren würden zudem die Bedarfe und Wünsche stärker steigen als personelle und finanzielle Ressourcen, prognostiziert Augurzky. „Es droht Rationierung.“ Für diesen Fall hätte Dr. Matthias Bracht aus der Geschäftsführung des Klinikum Region Hannover gerne „Instrumente“ vom Gesetzgeber. Dass die kommen, glaubt Augurzky nicht. Sein Report-Kollege Dr. Sebastian Krolop, Vorstand der Healthcare Information and Management System Society, versichert Bracht: „Diese Instrumente wollen Sie nicht haben. Das würde für einen dermaßen sozialen Unfrieden sorgen.“ Währenddessen glaubt Dr. Gerhard Sontheimer, Vorstand des kommunalen ANregiomed-Klinikverbunds in Bayern: „Die erste Stufe der Rationierung ist die Priorisierung.“ An diesem Punkt befinde man sich bereits. Damit meint er das Verschieben oder gar Absagen elektiver Eingriffe.
Augurzky sagt, dass man die Probleme kurzfristig durch Vorhaltefinanzierung und Ambulantisierung begegnen könnte. Auch in der Digitalisierung schlummere Potenzial. „Ultrakurzfristig“ helfe aber nur eins: mehr Geld.
 
Weiterführender Link:

Der Krankenhaus Rating Report 2022 „Vom Krankenhaus zum Geisterhaus?“ kann kostenpflichtig beim Verlag medhochzwei bestellt werden: www.medhochzwei-verlag.de/Shop/ProduktDetail/krankenhaus-rating-report-2022-978-3-86216-915-3

Die Fürsprecher an den Kliniken

Berlin (pag) – An 60 Prozent der Krankenhäuser gibt es hierzulande mindestens eine Patientenfürsprecherin oder einen -fürsprecher. Das zeigt eine noch unveröffentlichte Studie der Prognos AG. Berlin, das Saarland und Bremen sind die Bundesländer, in denen die Fürsprecher am stärksten verbreitet sind. Die auf einer Veranstaltung des Patientenbeauftragten der Bundesregierung vorgestellte Erhebung offenbart außerdem ungedeckte Fort- und Weiterbildungsbedarfe.

„Patientinnen und Patienten sollten sich möglichst bundesweit in allen Krankenhäusern an Patientenfürsprecher wenden können“, fordert der Patientenbeauftragte Stefan Schwartze. © pag, Fiolka

Als Themen für Fort- und Weiterbildungen werden insbesondere genannt: Ziele und Grenzen der Patientenfürsprecher, Patientenrechte und soziale Kompetenzen.
Die Studie wurde im Auftrag des Patientenbeauftragten der Bundesregierung Stefan Schwartze durchgeführt und auf dem 16. Patientenfürsprechertag vorgestellt. Für die Analyse wurden Gespräche mit Expertinnen und Experten organisiert, eine Auswertung der Landesgesetzgebung und der Qualitätsberichte der Krankenhäuser vorgenommen sowie eine bundesweite Online-Befragung von Patientenfürsprecherinnen und -fürsprechern mit rund 330 Teilnehmenden durchgeführt.
Viele Bundesländer haben demnach die Einrichtung dieser Position in ihren Krankenhäusern gesetzlich geregelt. Doch das ist nicht in allen Ländern der Fall. „Eine gesetzliche Regelung wirkt sich positiv auf die Verbreitung der Patientenfürsprache aus“, hält Schwartze fest. Er wirbt daher dafür, zukünftig im besten Fall vergleichbare Regelungen gesetzlich zu verankern. „Denn Patientinnen und Patienten sollten sich möglichst bundesweit in allen Krankenhäusern an Patientenfürsprecher wenden können.“

Nicht vereinnahmen lassen

Themen der Studie sind außerdem unter anderem Ehrenamt und Unabhängigkeit, Erreichbarkeit und Ausstattung sowie Dokumentation und Berichterstattung. Bei der Diskussion geht es auch um das Verhältnis zum Beschwerdemanagement. Das Engagement der Sprecher sei ein vom Krankenhaus unabhängiges Ehrenamt, das Beschwerdemanagement beruhe dagegen auf einer gesetzlichen Vorgabe und sei Teil des Krankenhauses, heißt es. „Man muss aufpassen, dass man nicht vereinnahmt wird“, sagt ein Teilnehmer. Ein anderer weist auf die steigenden Ansprüche von Patienten und Politik hin. In Niedersachsen werde darüber beraten, ob Demenz-Patienten einen speziellen Fürsprecher bekommen sollen. Dabei müsse man schon jetzt den Leuten hinterherlaufen und suche händeringend Vertreter, klagt ein Patientenfürsprecher aus Hildesheim.
 

Appell: Umweltfreundlichere Diagnostik und Therapie

Berlin (pag) – Der Medizinsektor hat in Deutschland und weltweit einen hohen Anteil am Klimawandel. Mit einfachen niederschwelligen Maßnahmen wäre es möglich, wesentliche Bereiche in Klinik und Praxis klimafreundlich umzustellen. Dazu bräuchte es den Willen zum Umdenken – auf allen Ebenen, konstatiert die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG).

Abgesehen von nationalen und internationalen Klimaschutzrichtlinien gebe es lokal viele Möglichkeiten, in einem Klinikum oder einer Praxis selbst aktiv zu werden. Es sei essenziell, dass „gemeinsam kreativ und niederschwellig gedacht wird“, sagt Prof. Annette Hanseburg, Universitätsmedizin Mainz. Auch ohne unmittelbare große finanzielle Investitionen könnten Sofortmaßnahmen für einen aktiven Klimaschutz ergriffen werden – vorausgesetzt, die Klinikleitung ziehe mit. 
Die Fachgesellschaft nennt unter anderem: ein konsequentes Recycling-Konzept; Austausch klimabelastender Narkosegase; Aufnahme des Ziels Klimaneutralität in die Unternehmensziele; jährliche Bestimmung des CO2-Fußabdrucks zur Erfolgskontrolle; papierloses Krankenhaus; Reduktion von Einmalartikeln.


Klimabelastende Narkosegase

Der effizienten Koordination von Maßnahmen zwischen Ärzten kommt eine wesentliche Rolle beim gelebten Klimaschutz zu, betont Jun.-Prof. Martin Weiss, Universität Tübingen. Unnötig wiederholte Tests und überflüssiger ressourcenraubender Medikamentenverbrauch könnten vermieden werden. Das Gleiche gelte für klimabelastende halogenierte Narkosegase wie Stickstoffoxid und Desfluran, die unter Umständen durch intravenöse Betäubungsmittel ersetzt werden können. Letztere verursachten nur einen Bruchteil an Emissionen.
Die Fachgesellschaft unterstützt den Vorschlag des Gesundheitsökonomen Prof. Boris Augurzky, einen Krankenhaus-Klimafonds einzuführen, der von Bund und Ländern gefüllt wird. „Aus unserer Sicht haben Krankenhäuser in Deutschland – ob kommunal oder privatwirtschaftlich geführt – flächendeckend nicht die Kraft, um im ausreichenden Maße in Klimaschutz zu investieren“, argumentiert DGGG-Präsident Prof. Anton Scharl.

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Abrechnungsstreit „verbrennt“ Versichertenbeiträge

 

Essen (pag) – Die Abrechnungsstreitigkeiten zwischen Krankenkassen und Kliniken binden sehr viel Geld, Personal und Zeit bei den Sozialgerichten in Nordrhein-Westfalen. Das beklagt die Spitze des Landessozialgerichts (LSG) im Jahrespressegespräch 2022 und fordert deswegen politisches Handeln.

Die Bestände bewegten sich mit knapp 100.000 Verfahren weiterhin auf Rekordniveau, teilt das Landessozialgericht in Essen mit. Das liege an den Klagewellen aus 2018 und 2019, gegen den die Gerichte immer noch ankämpften. Die in diesem Bereich immer weiter steigenden Eingänge seien Ausdruck einer Fehlentwicklung im System der gesetzlichen Krankenversicherung. „Mit den Kosten der gerichtlichen Auseinandersetzung in zigtausenden Verfahren (Gerichts-, Anwalts- und Sachverständigenkosten) werden Beiträge der Versicherten in Milliardenhöhe verbrannt“, kritisiert LSG-Präsident Martin Löns. Denn diese Ausgaben würden ganz oder anteilig aus den im Kern beitragsfinanzierten Haushalten mindestens eines der Beteiligten erbracht, egal wer gewinne oder verliere. Eine sinnvolle Weiterentwicklung der Vergütungsstrukturen finde offensichtlich nicht statt. „In NRW sind mittlerweile rund zehn Prozent aller eintausend Angehörigen der Sozialgerichtsbarkeit in Abrechnungsstreitigkeiten zwischen Krankenkassen und Krankenhäusern eingesetzt“, heißt es von Seiten des LSG. „Eine gründliche Revision durch den Gesetzgeber ist längst überfällig.“

Bis dahin sieht das Landessozialgericht mittelfristig keine Entspannung: „Bei Rückkehr zu normalen Arbeitsbedingungen wird die Zahl der Klagen steigen, voraussichtlich auf das Niveau vor der Pandemie.“

 

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