„Es fehlt an strukturierter Langzeitnachsorge“

Prof. Volker Arndt zu Defiziten in der Betreuung von Krebsüberlebenden

Heidelberg (pag) – Bei der Betreuung von Langzeitüberlebenden fehlt es trotz vieler Angebote an ganzheitlichen Programmen, sagt Krebsforscher Prof. Volker Arndt. Im Interview spricht er über den Stand der Survivorship-Forschung, die deutsche Versorgungslandschaft und die „Lost in Transition“-Problematik.

In den letzten Jahrzehnten gab es enorme Fortschritte in der Krebsbehandlung. Was bedeutet diese medizinische Entwicklung?

Arndt: Langfristiges Überleben ist für viele Krebspatientinnen und Krebspatienten zu einer realistischen Perspektive geworden. Es gibt mittlerweile eine Reihe von Tumorerkrankungen, bei denen mehr als die Hälfte der Betroffenen 20 Jahre und länger überlebt. Allerdings gilt das nicht für alle Tumorarten.

Prof. Arndt: „Nach Abschluss der regulären Tumornachsorge, die meist nach fünf Jahren endet, (…) beginnt die Phase des ,dauerhaften Überlebens‘.“ © stock.adobe.com, Svitlana

Was folgt aus diesem Fortschritt?

Arndt: Es gibt in Deutschland derzeit etwa fünf Millionen Menschen mit akuter oder überstandener Krebserkrankung. Über 60 Prozent davon – drei Millionen – sind sogenannte Langzeitüberlebende: Personen, bei denen die Diagnose fünf und mehr Jahre zurückliegt. Für viele ist Krebs dabei eine chronische Erkrankung, die auch Jahre nach der Diagnose Auswirkungen auf Gesundheit und Lebensqualität hat.

Wie kann man dieses große Feld fassen?

Arndt: Wir unterscheiden verschiedene Phasen beim Leben mit beziehungsweise nach einer Krebserkrankung. Das erste Jahr nach der Diagnose wird von den diagnostischen und therapeutischen Bemühungen dominiert. Nach Abschluss der primären Therapie schließt sich – wenn eine Heilung oder zumindest eine Remission eingetreten ist – eine Phase des beobachtenden Abwartens mit regelmäßigen Nachuntersuchungen an. Psychologisch gesehen ist diese Zeit von der Angst vor einem Wiederauftreten der Krankheit geprägt.

Wie geht es dann weiter?

Arndt: Nach Abschluss der regulären Tumornachsorge, die meist nach fünf Jahren endet, sofern dann kein aktives Tumorgeschehen mehr nachweisbar ist, beginnt die Phase des „dauerhaften Überlebens“. Sie wird häufig mit „Heilung“ gleichgesetzt. Unsere Untersuchungen zeigen einerseits, dass sich gut zwei Drittel aller Langzeitüberlebenden nach Ende der regulären Tumornachsorge nicht mehr als „Krebspatientin“ oder „Krebspatient“ sehen. Dies gilt insbesondere, solange kein Rezidiv aufgetreten ist. Andererseits gibt ein Drittel der Langzeitüberlebenden an, dass sie die Krebserkrankung noch belastet.

Hier kommt das Konzept Survivorship ins Spiel?

Arndt: Ja, das Forschungsgebiet „Cancer Survivorship“ hat die Gesundheit und Lebenssituation über die akute Diagnose- und Behandlungsphase hinaus im Blick. Wir verfolgen das Ziel, Langzeit- und Spätfolgen besser zu behandeln und Negatives im Idealfall zu verhindern. Neben den physischen, psychosozialen und wirtschaftlichen Aspekten umfasst das auch solche der Nachsorge und Tertiärprävention. Das Konzept betrachtet die Betreuung von Langzeit-Krebsbetroffenen als integralen Bestandteil des Behandlungskontinuums. Deren Bedürfnisse werden hierzulande noch nicht ausreichend wahrgenommen. Ein „Cancer-Survivorship-Nachsorgeprogramm“ ist bislang nicht etabliert.

Was für Probleme gibt es dabei?

Nach Abschluss der regulären Nachsorgephase kann eine „Lost in Transition“-Problematik eintreten, also Unklarheiten darüber, wer Ansprechpartner für die möglichen vielfältigen, nicht immer direkt tumorbezogenen Probleme ist. © iStock.com, mathisworks

Arndt: Die Behandler in der Akutphase verlieren oft bereits während oder spätestens nach Abschluss der regulären Nachsorgephase den Kontakt zu den Patientinnen und Patienten. Es kann dann eine „Lost in Transition“-Problematik, also Unklarheiten darüber, wer Ansprechpartner für die möglichen vielfältigen, nicht immer direkt tumorbezogenen Probleme ist, eintreten. Es fehlt immer noch eine strukturierte Langzeitnachsorge, die alle physischen, psychoonkologischen und sozialen Aspekte gleichermaßen berücksichtigt. Außerdem sind die Betroffenen und behandelnde Ärzte oft unzureichend informiert.

Wie ist die Nachsorge in Deutschland geregelt?

Arndt: Bisher gibt es dazu in zahlreichen klinischen Leitlinien der Fachgesellschaften Vorgaben. Diese fokussieren aber in erster Linie das Erkennen von Tumorrezidiven und adressieren nur einzelne ausgewählte Spät- und Langzeitfolgen. Psychosoziale Aspekte sind zwar in gesonderten Leitlinien enthalten, werden aber im Behandlungsalltag oftmals nicht angesprochen oder nicht erkannt. Kolleginnen und Kollegen der Universität Duisburg-Essen erstellen gerade im Rahmen der vom Bundesgesundheitsministerium geförderten Optilater-Studie eine umfassende Ist-Soll-Analyse zur Langzeitbetreuung von Krebs-Betroffenen.

Seit 2016 leiten Sie die Arbeitsgruppe Cancer Survivorship beim Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ). Wie sieht Ihre Arbeit aus?

Arndt: Neben den physischen, psychosozialen und wirtschaftlichen Folgen interessieren uns Fragen im Zusammenhang mit der Gesundheitsversorgung, dem Zugang zu Unterstützungsmöglichkeiten und der Nachsorge. Wir arbeiten dabei primär „epidemiologisch“ im Rahmen von groß angelegten, meist bevölkerungsbezogenen Befragungsstudien und versuchen, uns ein Bild über die gesundheitliche Situation der Betroffenen zu machen. Wir versuchen, Bedarfe und damit Ansatzpunkte für eine verbesserte Betreuung in der Nachsorge zu identifizieren. Hier sind wir auch im Rahmen nationaler und internationaler Projekte bei der Instrumentenentwicklung zur Erfassung der gesundheitlichen Situation nach einer Krebsdiagnose aktiv beteiligt. Das Thema „Survivorship“ ist aber durch seine Multidisziplinarität noch bei weiteren Gruppen, etwa bei der Abteilung „Gesundheitsökonomie“ oder der Abteilung „Bewegung, Präventionsforschung und Krebs“ am DKFZ, verankert. Durch die Einrichtung zweier weiterer Abteilungen mit dem Fokus auf psychologische Resilienz sowie junge Personen mit Krebs wird die Expertise am DKFZ noch weiter ausgebaut. Hierfür sind wir der Dietmar-Hopp- und der Hector-Stiftung sehr dankbar.

Wie sieht die generelle Entwicklung in Deutschland aus?

Arndt: „Survivorship“ hat in den letzten Jahren zunehmend Niederschlag in der deutschen Forschungslandschaft gefunden. Es sind aber meist isolierte Aspekte oder Entitäten, die von den einzelnen Forschungsgruppen untersucht werden. Diese Gruppen sind zudem meist an deren größeren Abteilungen angegliedert. Eigenständige „Survivorship“-Abteilungen gibt es meines Wissens in Deutschland noch nicht. Allerdings gibt es zunehmend Aktivitäten. Ein wichtiger Impuls resultierte aus dem Nationalen Krebsplan, in dem 2018 eine Experten-Arbeitsgruppe „Langzeitüberleben nach Krebs“ eingerichtet wurde.

Wie steht Deutschland im internationalen Vergleich da?

Arndt: Bei der empirischen Datenlage sind die meisten Länder abgesehen von den skandinavischen auch nicht viel weiter. Um die Lücke zu schließen, haben wir gerade im Verbund der Deutschen Krebsregister dem Bundesgesundheitsministerium ein Konzept zur Integration detaillierter Daten auf Basis des kürzlich in Kraft getretenen Gesundheitsdatennutzungsgesetzes vorgeschlagen. Bei den umfassenden „ganzheitlich orientierten“ Nachsorgeprogrammen haben wir auch Aufholbedarf. Wir sind gerade im Rahmen eines europäischen Konsortiums dabei, uns einen Überblick über die „Survivorship“-Programme in allen europäischen Ländern zu verschaffen. Für Deutschland gibt es bisher nur eine Handvoll Modellprojekte.

Wie sieht die Versorgungslandschaft aus?

Arndt: Es gibt zahlreiche Versorgungsangebote für Langzeitüberlebende, die jeweils separate Themen adressieren aber nicht vernetzt sind. Neben der medi-zinischen Routine-Nachsorge gibt es Angebote wie psychosoziale Krebsberatungsstellen, Rehabilitationsmaßnahmen oder Physio- und Ergotherapie. Auch die Krebs-Selbsthilfe und Patientenverbände spielen eine wichtige Rolle. Die Selbsthilfe ist für viele Langzeitüberlebende schon lange eine bewährte Instanz zur Begleitung und Beratung von Betroffenen durch Betroffene. Trotzdem ist die Entwicklung von spezifischen und zugleich ganzheitlich ausgerichteten Survivorship-Angeboten notwendig. Um das zu erreichen, braucht es mehr Koordinierung.

Wie kann das gelingen?

Arndt: Es sind verschiedene Modelle denkbar und in anderen Ländern auch bereits im Einsatz. Die Spannbreite erstreckt sich von „nicht-ärztlichen“ Lotsen über ein allgemeinmedizinisches Gemeinschaftsmodell unter Einbeziehung spezifischer Konsiliardienste bis hin zur multidisziplinären Survivorship-Klinik. Bei allen Ansätzen ist aber zu bedenken: Die Gruppe der von Krebsbetroffenen ist nicht homogen. Zwar eint alle die Erfahrung, mit einer Krebsdiagnose konfrontiert gewesen zu sein – aber die krankheitsbedingten Herausforderungen und Krankheitsverläufe sind unterschiedlich. Deswegen braucht es eine differenzierte Betrachtung und zielgruppenspezifische Betreuungskonzepte.

.

privat

Zur Person Der Wissenschaftler Prof. Volker Arndt ist seit 2016 Leiter der Arbeitsgruppe „Cancer Survivorship“ am Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) in Heidelberg. Beim DKFZ ist er aber schon seit über 19 Jahren in der Krebsforschung aktiv. Außerdem ist er Leiter des Epidemiologischem Krebsregisters Baden-Württemberg.
.
.
.
.
.
.
.
.

 

„Wenn ich dann noch da bin…“

Dr. Cindy Körner über ihr Leben nach der Krebsdiagnose

Berlin (pag) – Krebsforscherin Dr. Cindy Körner wechselt nach einer Brustkrebsdiagnose die Seite und spricht im Interview über Herausforderungen als Krebsüberlebende, Lücken in der Nachsorge und der Angst vor einem Rückfall. „Die größte Veränderung ist wohl der Verlust der gesundheitlichen Unbeschwertheit“, konstatiert Körner.

© Marius Stark, NCT Heidelberg

Zur Person Dr. Cindy Körner ist promovierte Molekularbiologin in der Krebsforschung. Nach ihrer eigenen Brustkrebsdiagnose steht sie plötzlich „auf der anderen Seite“. Als Sprecherin des Patientenforschungsrats Nationales Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) Heidelberg bringt sie Wissenschaft und das Patientensein in Einklang. Zudem beteiligt sich Körner an der im Rahmen der Nationalen Dekade gegen Krebs geförderten Studie SURVIVE zur Brustkrebsnachsorge.
.
.
.
.
.

 

Wie hat sich Ihr Leben durch die Brustkrebsdiagnose und -therapie verändert?

Körner: Die größte Veränderung ist wohl der Verlust der gesundheitlichen Unbeschwertheit. Es schwingt seit der Diagnose in allen langfristigen Plänen der Gedanke mit: „Wenn ich dann noch da bin…“. Meine größte Herausforderung ist nach wie vor, das Vertrauen in meinen Körper und mein Körpergefühl wieder zurückzufinden. Abgesehen von den psychischen Themen habe ich insbesondere während der Akuttherapie auch körperliche Beeinträchtigungen erlebt – beispielsweise akute Entzündungen mit hohem Fieber, Bewegungseinschränkungen durch die OPs oder eine temporär gefährliche Schwächung des Immunsystems. Das alles hat meinen Körper ganz schön mitgenommen und macht mir nach wie vor zu schaffen.

Wie geht es Ihnen jetzt?

Körner: Ich bin trotz einer gesünderen Lebensweise mit mehr Sport und einem gesünderen Gewicht als vor der Diagnose lange nicht so belastbar wie zuvor. Die Erschöpfung, auch Fatigue genannt, ist unter Langzeitüberlebenden weit verbreitet und beeinträchtigt den Weg zurück in ein normales Leben immens. Gleichzeitig hat meine Erkrankung mir neue Perspektiven eröffnet. Ich habe mich dazu entschieden, diese Perspektiven positiv zu nutzen und mich als Patientenvertreterin zu engagieren, um die künftige Versorgung von Patienten und Patientinnen zu verbessern. Dazu gehört auch, dass ich gemeinsam mit anderen Patientenforschungsräten am Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) dazu beitrage, dass klinische Studien patientenzentrierter werden.

Wie gestaltet sich die medizinische Nachsorge? Werden alle wichtigen Aspekte Ihrer Gesundheit ausreichend überwacht?

Körner: Die medizinische Nachsorge bei Brustkrebs ist klassisch sehr stark auf ein mögliches Wiederauftreten des Tumors in der Brust oder der Achselhöhle ausgerichtet. Das wird engmaschig mit verschiedenen Bildgebungsmethoden überwacht – obwohl das nicht das ist, wovor ich persönlich am meisten Angst hätte.

Sondern?

Körner: Schlimmer wäre das Auftreten von Fernmetastasen in anderen Organen, wie den Knochen, dem Gehirn, der Lunge oder der Leber. Nach aktuellem Stand der Nachsorge werden diese häufig erst erkannt, wenn sie so groß sind, dass sie Symptome verursachen. Das verunsichert uns Patientinnen natürlich.

Wie äußert sich das?

Körner: Viele von uns hören deswegen sehr genau in uns hinein, um Symptome frühzeitig wahrzunehmen. Und wenn wir etwas wahrnehmen, sind das natürlich meistens keine Symptome, die durch Metastasen verursacht werden – Kurzatmigkeit ist beispielsweise meist Folge einer Erkältung. Diese ständige Alarmbereitschaft belastet psychisch immens. Das ist für Außenstehende manchmal schwer nachvollziehbar und wird in der Nachsorge in meinen Augen unzureichend berücksichtigt. Zudem haben Langzeitüberlebende oft Schwierigkeiten, Ansprechpartner für das komplexe Zusammenspiel verschiedener Langzeitfolgen zu finden. Onkologen und Onkologinnen verweisen auf die jeweiligen Fachärzte und Fachärztinnen, die auf ihr Fachgebiet spezialisiert sind, aber etwa mit möglichen Wechselwirkungen zwischen Tumortherapien wenig Erfahrung haben. Da fühlt man sich oft hilflos und verloren.

Viele Betroffene berichten noch Jahre nach der Diagnose von Diskriminierungserfahrungen. Welchen Ungleichbehandlungen sind Patienten ausgesetzt?

© stock.adobe.com, InsideCreativeHouse

Körner: Persönlich habe ich keine sozialen und ökonomischen Ungleichbehandlungen erlebt. Glücklicherweise war mein Arbeitsvertrag als Wissenschaftlerin kurz vor der Diagnose entfristet worden. Dank einer Berufsunfähigkeitsversicherung war ich über die Dauer der Akut-therapie, welche mehr als ein Jahr dauerte, finanziell gut abgesichert. Außerdem habe ich in meinem sozialen und beruflichen Umfeld viel Unterstützung erfahren und die Erkrankung nie als Stigma empfunden. Möglicherweise lag das auch an meinem offenen Umgang mit der Diagnose, der Behandlung und den damit verbundenen Einschränkungen. Offene Kommunikation beugt unter den passenden Umständen vielen Missverständnissen und Spekulationen vor. Ich kenne allerdings auch andere Fälle.

Zum Beispiel?

Körner: Menschen mit einer Schwerbehinderung haben ein Anrecht auf zusätzliche Urlaubstage. Ich kenne Fälle, wo ihnen in der Folge vom Arbeitgeber der vertragliche Urlaub gekürzt wurde, damit sie keinen „Vorteil“ gegenüber den Kollegen und Kolleginnen haben. Manche Arbeitgeber verwehren ihnen, eine für ihre Situation angebrachte Tätigkeit zu übergeben – ohne Rücksicht auf die Auswirkungen zu nehmen, etwa die eingeschränkte Leistungsfähigkeit in bestimmten Bereichen. Ich kenne auch Menschen, denen aus diesen Gründen nahegelegt wurde, den Arbeitgeber zu verlassen. Zusätzlich haben gerade junge Langzeitüberlebende das Problem des Nicht-Vergessens. Ihre frühere Diagnose kann zu teils massiven Nachteilen führen, beispielsweise bei Versicherungen, Krediten, Berufswahl oder auch Adoptionswunsch.

An welchen gesetzlichen Stellschrauben sollte gedreht werden?

Körner: Gerade in Bezug auf die angesprochenen Schwierigkeiten von jungen Langzeitüberlebenden gibt es seit einiger Zeit Bestrebungen nach einem „Recht auf Vergessenwerden“, wie es in anderen europäischen Ländern schon besteht. Vorangetrieben werden diese Initiativen von Patientenorganisationen, darunter die Stiftung „Junge Erwachsene mit Krebs“, und von onkologischen Fachverbänden wie der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie. Dieses Recht würde beinhalten, dass es bei Langzeitüberlebenden nach einer Heilungsbewährung von beispielsweise zehn Jahren keine Benachteiligung mehr gegenüber Nicht-Erkrankten geben darf. Laut EU-Vorgabe muss auch hierzulande bis Ende 2025 eine entsprechende Regelung umgesetzt werden. Auch eine bessere finanzielle Absicherung wäre wünschenswert, wenn Menschen aufgrund einer Krebserkrankung langfristig nicht arbeiten können. Mit dem Verlust des Krankengeldes nach 78 Wochen fallen sie aktuell in die Arbeitslosigkeit oder in die Erwerbsminderungsrente. Beides führt zu finanziellen Einbußen und erschwert die Rückkehr in den Arbeitsmarkt. Außerdem wünsche ich mir eine konsequentere Umsetzung der Nachteilsausgleiche im Zusammenhang mit der Schwerbehinderung. Was nützt ein Kündigungsschutz, wenn es für Arbeitgeber Schlupflöcher gibt oder sie konsequenzlos schwerbehinderte Mitarbeitende aus ihren Beschäftigungsverhältnissen drängen können?

Stichwort psychische Unterstützung bei Langzeitüberlebenden: Welche Angebote gibt es? Sind sie ausreichend?

Körner: Die psychische Unterstützung kommt leider deutlich zu kurz. Aufgrund der steigenden Zahl von Langzeitüberlebenden ist davon auszugehen, dass sich der Mangel künftig eher verschärfen wird. In der Zeit um die Diagnose und die Akuttherapie besteht an den zertifizierten onkologischen Zentren die Möglichkeit einer hochqualifizierten psychoonkologischen Unterstützung. Wie viele andere Angebote der Zentren endet dieses allerdings mit der Akuttherapie. Doch gerade in dieser Phase stehen die Überlebenden vor den Herausforderungen der Rückkehr in einen neuen Alltag. Dabei treffen oft die Erwartungen des Umfeldes, dass alles wieder gut sei, auf die gefühlte Realität der Betroffenen, in der erstmal nichts gut ist.

Was kann helfen?

© Kateryna Onyshchuk, Alamy Stock Photo

Körner: In dieser Phase können Anschlussheilbehandlungen oder Rehabilitationsmaßnahmen hilfreich sein. In den Reha-Kliniken wird auch viel Aufmerksamkeit auf die psychische Rehabilitation gelegt. Eine weitere Option stellen Krebsberatungsstellen dar, in denen Betroffene und deren Angehörige auch zu späteren Zeitpunkten kostenfrei und unkompliziert psychoonkologische Beratung bekommen können. Diese kann sowohl in akuten Krisen als auch in der Wartezeit auf einen Psychotherapieplatz sehr wertvoll sein. Neuere Ansätze nutzen zudem wissenschaftlich validierte Smartphone-Apps, sogenannte Digitale Gesundheitsanwendungen, um – vereinfacht ausgedrückt – die Langzeitüberlebenden dazu zu befähigen, sich selbst zu helfen und so selbstwirksam ihre Belastung zu reduzieren.

Für viele Langzeitüberlebende ist die Angst vor einem Rückfall ein ständiger Begleiter. Wie gehen Sie damit um? Haben Sie Tipps für andere Betroffene?

Körner: Diese Gedanken kann ich gut nachvollziehen. Das Bewusstsein, dass es nach wie vor zu einem Rückfall kommen kann, schwingt auch bei mir immer mit. Wobei ich es nicht mehr als Angst bezeichnen würde. Es lähmt mich nicht mehr und ich hatte schon lange keine irrationale Paranoia als Reaktion auf unspezifische Symptome mehr. Das ist eine deutliche Verbesserung gegenüber der Situation vor ein oder zwei Jahren. Ähnliches höre ich von anderen Betroffenen, deren Diagnose weiter zurückliegt. Es gibt also Hoffnung für alle, die sich momentan noch durch die Angst vor einem Rückfall gelähmt fühlen. Wie sich die Angst überwinden lässt, ist sicherlich sehr individuell. Mein erster Impuls war, sie beiseitezuschieben – zu vermeiden, darüber nachzudenken. Dieser Weg hat für mich überhaupt nicht funktioniert. Die Angst hat mich in unerwarteten Momenten plötzlich überrollt, bis hin zu Panikattacken. In sehr intensiven und schwierigen Gesprächen in der Krebsberatungsstelle habe ich meine Gefühle mit der Beraterin thematisiert und aufgearbeitet. Mir hilft der Gedanke, alles in meiner Macht Stehende zu tun, um den Rückfall zu verhindern: Ich halte mich zuverlässig an meinen Medikations- und Nachsorgeplan und bemühe mich bewusst um eine gesunde Lebensweise. Zumindest im Rahmen dessen, was in meinen Alltag passt. Jede und jeder Betroffene muss den individuell passenden Weg für den Umgang finden. Ich kenne Menschen, für die der richtige Weg darin liegt, nicht über die Angst nachzudenken und sich auf das Positive und die Gegenwart zu fokussieren.

Sie nehmen an der klinischen Studie „SURVIVE“ teil. Worum geht es dabei?

Körner: SURVIVE hat das Ziel, die bereits angesprochene unzureichende Nachsorge in Bezug auf Fernmetastasen bei Brustkrebs zu verbessern. Im Rahmen der Studie soll der Nutzen von Liquid Biopsies, also der Untersuchung von Blutproben, geprüft werden.

Wie genau?

Körner: In den Blutproben von Patientinnen mit einem erhöhten Rückfallrisiko wird nach sehr spezifischen Markern für Tumorzellen, der sogenannten zirkulierenden Tumor-DNA, gesucht. Wenn diese im Blut einer Patientin entdeckt wird, ist es nahezu sicher, dass in der Folge Metastasen entstehen. Die Studie stellt die Frage, ob das frühzeitige Entdecken von Metastasen und die damit verbundene frühere Behandlung die Prognosen der Patientinnen weiter verbessern können. Dafür werden Blutproben von mehr als 3.000 Patientinnen gesammelt. Die Hälfte davon wurde zufällig dem Kontrollarm der Studie zugeteilt und die Proben werden nur gelagert. Die Proben der anderen Hälfte werden untersucht. Falls Tumormarker entdeckt werden, wird eine gezielte Suche nach den möglichen Metastasen ausgelöst. Als Studienteilnehmerin weiß ich nicht, welcher Gruppe ich angehöre. Ich weiß also nicht, ob ich selbst überhaupt von der Teilnahme profitieren könnte, falls ich einen Rückfall bekomme. Trotzdem war mir sofort klar, dass ich teilnehmen möchte – um einen winzigen Teil beizutragen, dass die Nachsorge für Patientinnen mit hohem Rückfallrisiko treffsicherer gestaltet werden kann, um ihnen die Angst vor großen, schwer behandelbaren Metastasen zu nehmen und die Prognose weiter zu verbessern.

Ignorierte Bedürfnisse

Wie Krebsüberlebende nach der Akuttherapie durchs Raster fallen

Berlin (pag) – Viele Krebsbetroffene kämpfen auch Jahre nach der ersten Diagnose mit Spät- und Langzeitfolgen. Neben körperlichen und psychischen Einschränkungen berichten Betroffene zudem von wirtschaftlicher und sozialer Diskriminierung. Ganzheitliche und strukturierte Versorgungsangebote sind noch rar. Allmählich kommt aber Bewegung in das Thema Survivorship.

© iStockphoto, ngkaki

Die Situation für Menschen mit einer Krebserkrankung hat sich in den letzten Jahrzehnten enorm verbessert. Neue Therapien, Frühuntersuchungsprogramme und Fortschritte bei der Diagnostik sorgen dafür, dass die Krankheit heutzutage nicht mehr automatisch ein Todesurteil ist. Bei einer Reihe von Tumorerkrankungen in Deutschland überlebt mittlerweile mehr als die Hälfte der Betroffenen 20 Jahre oder länger. Durch den medi-zinischen Fortschritt ergeben sich damit völlig neue Herausforderungen, auf die das Versorgungssystem allenfalls punktuell vorbereitet ist. Eine Gesamtstrategie fehlt. Die Bedürfnisse von Krebsüberlebenden werden hierzulande noch nicht ausreichend wahrgenommen, kritisiert etwa Prof. Volker Arndt, der die Arbeitsgruppe „Cancer Survivorship“ am Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) leitet.

Andauernde Angst vor dem Rückfall

Zur Einordnung: Etwa 4,5 bis fünf Millionen Menschen mit aktiver oder überstandener Krebserkrankung sind in Deutschland mit vielzähligen Langzeit- und Spätfolgen konfrontiert, welche teilweise erst Jahre nach der Krebstherapie auftauchen können, so die 2018 eingerichtete Expertengruppe „Langzeitüberleben nach Krebs (AG LONKO)“ des Nationalen Krebsplans. Für drei Millionen von ihnen liegt die Krebserkrankung mindestens fünf Jahre zurück – damit fallen sie unter die Kategorie Langzeitüberlebende, häufig gelten sie als „geheilt“. Und dennoch: Der Krebs überschattet für viele von ihnen auch ein halbes Jahrzehnt später noch das alltägliche Leben. In Form chronischer Schmerzen und ‚Fatigue‘ zum Beispiel, in Gestalt von Herzerkrankungen, Lymphödemen oder als Blasen- und Darmfunktionsstörungen. Psychisch steht für viele Langzeitüberlebende eine andauernde Angst vor einem Rezi-div auf der Tagesordnung. Zu den häufigen Langzeit- und Spätfolgen gehören daher Depressionen und posttraumatische Belastungsstörungen.

.

© iStock.com, FatCamera

Angebot endet mit Akutphase

Gerade die psychische Unterstützung kommt bei den Krebsüberlebenden häufig zu kurz. Das kritisiert etwa Brustkrebsüberlebende Dr. Cindy Körner (lesen Sie dazu das Interview auf Seite 14). In der Zeit um die Diagnose und die Akuttherapie bestehe an den zertifizierten onkologischen Zentren die Möglichkeit einer hochqualifizierten psychoonkologischen Unterstützung. „Wie viele andere Angebote der Zentren endet dieses allerdings mit der Akuttherapie“, so Körner. Sie geht davon aus, dass sich aufgrund der steigenden Zahl von Langzeitüberlebenden dieser Mangel künftig eher noch verschärfen wird. Doch gerade in dieser Phase nach der Akuttherapie stehen die Überlebenden vor den Herausforderungen der Rückkehr in einen neuen Alltag. „Dabei treffen oft die Erwartungen des Umfeldes, dass alles wieder gut sei, auf die gefühlte Realität der Betroffenen, in der erstmal nichts gut ist.“

Lost in Transition

Ein weiteres Problem besteht den Betroffenen zufolge darin, Ansprechpartner für das komplexe Zusammenspiel verschiedener Langzeitfolgen zu finden. Onkologinnen und Onkologen verwiesen auf die jeweiligen Fachärztinnen und Fachärzte, die auf ihr Gebiet spezialisiert sind, aber etwa mit möglichen Wechselwirkungen zwischen Tumortherapien wenig Erfahrung haben. „Da fühlt man sich oft hilflos und verloren“, sagt Körner. Survivorship-Forscher Arndt vom DKFZ bestätigt das Problem. Die Behandler in der Akutphase verlieren dem Experten zufolge oft bereits während oder spätestens nach Abschluss der regulären Nachsorgephase den Kontakt zu den Patientinnen und Patienten. (lesen Sie hierzu das Interview auf Seite 17). „Es kann dann eine ‚Lost in Transition‘-Problematik, also Unklarheiten darüber, wer Ansprechpartner für die möglichen vielfältigen, nicht immer direkt tumorbezogenen Probleme ist, eintreten.“
Keine systematische Bedarfserfassung

Die fehlende Koordination beziehungsweise Ganzheitlichkeit zieht sich wie ein roter Faden durch das Thema Survivorship. Das zeigt sich auch an den Leitlinien der Fachgesellschaften, die zwar in zahlreichen Fällen Vorgaben zum Thema Nachsorge enthalten. Der Fokus liege aber in erster Linie auf dem Erkennen von Tumorrezidiven, nur vereinzelt würden ausgewählte Spät- und Langzeitfolgen adressiert, so Arndt. Psychosoziale Aspekte seien zwar in gesonderten Leitlinien enthalten, gingen aber im Behandlungsalltag oft unter.

.

© stock.adobe.com, freshidea

Rufe nach dem „Recht auf Vergessen“ Zum Thema Survivorship gehören auch die sozialen und ökonomischen Folgen der Erkrankung – etwa die eingeschränkte berufliche Perspektive für Cancer Survivors. Besonders gravierend können sich die beruflichen Langzeitfolgen für junge Menschen, die an Krebs erkranken, darstellen. Häufig diagnostizieren Ärzte ihnen die Erkrankung mitten in der Berufsausbildung oder in einer Phase, in welcher die beruflichen Aufstiegschancen definiert werden.
Die Stiftung „Junge Erwachsene mit Krebs“ fordert unter anderem ein „Recht auf Vergessenwerden“. Obwohl die jungen Betroffenen nach wissenschaftlichen Standards längst als geheilt gelten, erfahren viele von ihnen Benachteiligungen gegenüber Gleichaltrigen. So werden jungen Betroffenen beispielsweise Versicherungsabschlüsse, Kreditaufnahmen oder Verbeamtungen verwehrt. Auch beim Thema Adoption werden ehemals erkrankte junge Menschen benachteiligt.

.

Die Arbeitsgruppe LONKO vom Nationalen Krebsplan fasst die Situation wie folgt zusammen: Unter Expertinnen und Experten bestehe ein hoher Konsens darüber, „dass das deutsche Versorgungssystem für Langzeitüberlebende bislang keine adäquat strukturierten und ganzheitlichen Versorgungsangebote systematisch vorhält“. Zwar gebe es viele unterschiedliche Versorgungsangebote, aber keine ganzheitlichen Survivorship-Programme. Ein Grund dafür: Über die verschiedenen Angebote hinweg finde keine systematische Bedarfserfassung der Situation und Bedürfnisse der Langzeitüberlebenden statt. „Es fehlt dementsprechend eine Instanz, die einen systematischen Überblick über die Situation und die Bedarfe und Bedürfnisse der Langzeitüberlebenden hat und die eine bedarfsgerechte Versorgung steuern und eine gezielte Inanspruchnahme spezifischer Angebote initiieren könnte.“

Inzwischen haben einige Akteure reagiert. Das Bundesgesundheitsministerium (BMG) und die Deutsche Krebshilfe haben beispielsweise Forschungsprogramme ausgeschrieben. Das Programm der Krebshilfe umfasst ein Budget von drei Millionen Euro. Ende August 2024 veröffentlicht das Bundesministerium für Bildung und Forschung Förderrichtlinien für „Cancer Survivor-ship“-Projekte, die sich auf molekulare Ursachen und Risikofaktoren sowie molekulare Prädikations- und Präventionsmaßnahmen konzentrieren. Survivorship ist außerdem ein Schwerpunktthema in der zweiten Hälfte der Dekade gegen Krebs.

Auf der Forschungsebene tut sich somit einiges. Bleibt zu hoffen, dass die Erkenntnisse der Wissenschaftler möglichst rasch ihren Weg in die Versorgung finden, denn der Druck dürfte mit einer kontinuierlich steigenden Zahl von Krebsüberlebenden wachsen. Rasche Lösungen sind allerdings nicht zu erwarten, dazu ist die Gruppe der Betroffenen zu heterogen. Zwar eint sie alle die Erfahrung einer Krebsdiagnose, aber die krankheitsbedingten Herausforderungen und Krankheitsverläufe sind höchst unterschiedlich. Schnellschüsse nach dem Motto „One fits all“ dürften daher zum Scheitern verurteilt sein.

.

© iStock.com, Smederevac

Chancen durch digitale Gesundheitsdaten DKFZ-Forscher Arndt verknüpft auch mit dem Gesundheitsdatennutzungs-
gesetz Hoffnungen. Die Deutschen Krebsregister haben dem BMG im Verbund ein Konzept zur Integration detaillierter Daten zu den Langzeit- und Spätfolgen vorgeschlagen. Hintergrund ist das „Gesetz zur Zusammenführung von Krebsregisterdaten“ vom August 2021, welches die systematische Erfassung von Langzeit- und Spätfolgen von Krebserkrankungen anstrebt. Damit soll der Rückstand bei den empirischen Daten im Vergleich zu etwa den skandinavischen Ländern geschlossen werden.
.
.

Wenn Überleben zur Glückssache wird

Zu oft übersehen: die seltenen Krebserkrankungen

Berlin (pag) – Zwar werden neue Fortschritte in der Onkologie kontinuierlich vermeldet, aber gerade bei den seltenen Krebserkrankungen ist die Situation immer noch äußerst unbefriedigend. Auf dem Kongress Vision Zero tauschen sich Expertinnen und Experten kürzlich über Defizite und Vorbilder aus. Patientenvertreter Markus Wartenberg hält fest: „Da gibt es ganz viel, was wir in den nächsten Jahren besser machen müssen.“

Annährend jeder vierte neue Krebspatient erkrankt hierzulande an einer seltenen Krebsform. Das sind rund 120.000 Neuerkrankungen pro Jahr. Das Spektrum umfasst über 200 Diagnosen. Ein entscheiden-der Unterschied zwischen den häufigen und seltenen Krebsarten besteht hinsichtlich der Fünf-Jahres-Überlebensrate. „Mit 47 Prozent ist diese bei Rare Cancer signifikant schlechter als bei Common Cancer mit 65 Prozent“, berichtet Prof. Bernd Kasper bei Vision Zero.

© istockphoto.com, Sarawut
© istockphoto.com, Sarawut.

Netzwerke helfen

„Signifikant schlechtere“ Überlebensrate: Prof. Bernd Kasper © Deutsche Sarkom Stiftung
„Signifikant schlechtere“ Überlebensrate: Prof. Bernd Kasper © Deutsche Sarkom Stiftung

In seinem Impuls stellt der Ärztliche Geschäftsführer des Mannheim Cancer Centers die Herausforderungen seltener Krebserkrankungen am Beispiel der Sarkome dar. Dabei handelt es sich um seltene, bösartige Tumore, die vom Bindegewebe, Knochen und Muskeln ausgehen können. Genaue Zahlen zu Prävalenz und Inzidenz gibt es in Deutschland nicht, Experten gehen von bis zu 6.000 Fällen pro Jahr aus. Kasper weist auf die große Heterogenität dieser Krebsform hin: Es gebe 175 Subgruppen und -typen mit jeweils ganz unterschiedlichen Behandlungsstrategien. Rezidive könnten sogar noch nach 20 Jahren auftreten.
Trotz schwieriger Ausgangslage kann Kasper von einigen Erfolgen berichten: Mittlerweile existieren rund 20 zertifizierte Sarkom-Zentren, auch eine S3-Leitlinie gibt es. Auf europäischer Ebene haben sich zudem eine Reihe von Netzwerken zu seltenen Krebserkrankungen etabliert. Der Onkologe nennt unter anderem RareCareNet und Rare Cancers Europe. Als jüngste Initiative hebt er die 20 European Reference Networks (ERN) hervor. Davon kümmern sich vier um das Thema Krebs, das ERN EURACAN fokussiert sich auf seltene solide Krebsarten im Erwachsenenalter. Solche Netzwerke seien wichtig, um Informationen, aber auch Proben auszutauschen, heißt es auf der Veranstaltung.

„Späte und falsche Diagnosen“: Patientenvertreter Markus Wartenberg © Deutsche Sarkom Stiftung
„Späte und falsche Diagnosen“: Patientenvertreter Markus Wartenberg © Deutsche Sarkom Stiftung

Späte und falsche Diagnosen

Patientenvertreter Markus Wartenberg, Vorstand Deutsche Sarkom Stiftung, bedauert, dass der Schwung von der europäischen Ebene nicht in Deutschland angekommen zu sein scheint. Die von ihm vorgetragene Liste an Defiziten ist lang: „Wir sehen vor allem späte und falsche Diagnosen“, zum Teil seien die Patienten vier bis sechs Monate oder noch länger unterwegs. Es fehle die „Awareness“ bei den Erstbehandlern, dass Schwellungen etwas Bösartiges sein könnten. Probleme gebe es auch in der Pathologie, so Wartenberg, der den Anteil falscher Diagnosen auf 20 Prozent beziffert.
Stichwort Therapie: Probleme bereiten gerade in der Anfangsphase falsch durchgeführte Behandlungen und Biopsien sowie Operationen, die nicht von Experten durchgeführt werden. Wartenberg kritisiert insbesondere, dass nur maximal 40 Prozent der Patienten an zertifizierten Zentren behandelt werden. Die meisten würden dort viel zu spät landen, nach dem Motto: „Wenn nichts mehr hilft, hilft vielleicht ein Sarkomzentrum.“ Die Folge: Den Betroffenen werden Spezialwissen und -verfahren sowie klinische Studien vorenthalten. Hinzu komme ein Mangel an innovativen Therapien und an organisierten Daten- und Gewebesammlungen, so der Patientenvertreter.

Keine zweite Chance

Aus Perspektive der Betroffenen prangert Wartenberg an, dass die bisherigen Erfolge vor allem auf Einzelinitiativen basierten, die Krebs-Community und die Politik hätten organsiert bisher zu wenig getan. Beispielhaft nennt er den nationalen Krebsplan, der seltene Formen nicht berücksichtige. Er fordert daher mehr Verbund, mehr Zusammenarbeit: „Es kann nicht sein, dass bei Patienten mit seltenen Krebserkrankungen das Überleben zur Glückssache wird.“ Je nachdem, wo sie zuerst behandelt werden, falle die Prognose günstiger oder weniger günstig aus. „Der erste Behandlungsschritt hat keine zweite Chance“, ergänzt Prof. Angelika Eggert, Direktorin der Klinik für Kinderonkologie und -hämatologie der Charité Berlin. Wartenberg fordert eine Multi-Stakeholder-Initiative für die seltenen Krebsarten, eine nationale Strategie oder einen Aktionsplan, „um das ganze wirklich voranzutreiben“.

Eine Blaupause könnte die onkologische Pädiatrie sein, von der Privat-Dozentin Dr. Ines Brecht, Universitätsklinikum Tübingen, auf dem Kongress berichtet. Man habe effektive Strukturen und ein enges Netzwerk aufgebaut, die als vorbildliches Modell für den Umgang mit seltenen Tumoren dienen könnten, so die Fachärztin für Pädiatrische Onkologie und Hämatologie. Durch kontinuierliches Sammeln von Daten und Proben sei es gelungen, die Evidenz für Behandlungen konsequent zu verbessern. Als Beispiel nennt sie die Heilungsraten bei Leukämie, die in den 70er- und 80er-Jahren bei bis zu 40 Prozent lagen. Jetzt beträgt die Rate über 90 Prozent – „und zwar langfristig mit wenig Nebenwirkungen“, berichtet Brecht. Stolz ist die Pädiaterin auch darauf, dass 90 Prozent der jungen Patienten in klinischen Studien und Registern eingeschlossen sind. „Davon sind wir im adulten Bereich meilenweit entfernt“, sagt Sarkom-Experte Kasper. Von den zertifizierten Zentren werde gefordert, dass gerade einmal fünf Prozent der Patienten in Studien eingeschlossen sind.

Trotz beeindruckender Erfolge müssen aber auch in der Kinderonkologie noch einige Herausforderungen gemeistert werden. Brecht spricht beispielsweise von Datenschutzregularien, „die uns erdrücken.“ Sie verlangt zu dem Thema eine ethische Debatte, in die auch Patienten eingeschlossen werden. Die Klinikerin fragt: „Ist es moralisch, den Datenschutz so wichtig werden zu lassen, dass Patienten nicht mehr am medizinischen Fortschritt teilhaben?“

RCT oder anders denken?
Stichwort Studien: In der onkologischen Pädiatrie habe man im Rahmen von randomisierten kontrollierten Studien (Randomized controlled trials, RCT) Standardtherapien gegeneinander verglichen und so einen „soliden Fortschritt“ erzielt, berichtet Brecht. Sie sagt aber auch, dass man bei besonders seltenen Tumoren anders denken müsse. Unter europäischen Forschern gelte daher: „If you work on frequent cancers, do randomised trials. If you work on rare cancers, find friends.“ berichtet PD Dr. Ines Brecht vom Universitätsklinikum Tübingen.

Jeder darf alles?
Der Onkologe Prof. Peter Reichardt kritisiert, dass jeder Arzt Erwachsene mit seltenen Krebsbehandlungen behandeln dürfe. Das Motto laute: „Jeder glaubt, das kriegen wir schon hin.“ Der Leiter des Sarkomzentrums Berlin-Brandenburg am Helios Klinikum Berlin-Buch befürwortet daher regulierende Eingriffe, die eben dies verhindern. Reichardt wird auf dem Kongress deutlich: „Dass ein approbierter Arzt in der Medizin, von Mindestmengen abgesehen, fast alles darf, auch jedes Medikament verordnen, ist in jeder anderen Branche undenkbar.“

 

Jugendliche für HPV-Impfungen an Schulen

Heidelberg (pag) – Drei Viertel der Jugendlichen sprechen sich für HPV-Impfungen an Schulen aus. Das offenbart eine repräsentative Umfrage des Deutsche Krebsforschungszentrums (DKFZ). Gleichzeitig zeigen aktuelle Krankenkassendaten, dass lediglich 27 Prozent der 15-jährigen Jungen und 54 Prozent der gleichaltrigen Mädchen vollständig gegen Humane Papillomviren (HPV) geimpft sind.

© istockphoto.com, Marc Dufresne

Die Impfung ist wirksam gegen Gebärmutterhalskrebs, Krebs im Mund- und Rachenraum und im Genitalbereich. Zielgruppe der Impfung sind Kinder und Jugendliche im Alter von 9 bis 14 Jahren, ebenso 15- bis 18-Jährige, die verpasste Impftermine nachholen können.
Die Studie des DKFZ zeigt, dass die Impfung von weiten Teilen der Bevölkerung befürwortet wird: 68 Prozent der Befragten sprechen sich dafür aus, nur 23 Prozent lehnen sie ab und 9 Prozent sind unentschieden. Auffällig ist, dass die Zielgruppe der Impfung, Jugendliche im Alter von 14 bis 17 Jahren, diese auch in Form einer Schulimpfung begrüßen würden. 76 Prozent von ihnen sprechen sich bei der Umfrage dafür aus. „Erfahrungen aus Ländern wie Australien und England zeigen, dass HPV-Impfprogramme in Schulen die Impfquote erhöhen können“, sagt Nobila Ouédraogo, Public-Health-Experte vom DKFZ.
Besondere Aktualität hat die Studie vor dem Hintergrund eines deutlichen Impfrückgangs hierzulande. 25 Prozent weniger Impfdosen sind 2022 an Kinder und Jugendliche verteilt worden, zeigen Untersuchungen des Kinder- und Jugendreports der DAK. Besonders stark ist der Rückgang bei den 15 bis 17-jährigen Jungen: Bei ihnen sanken die HPV-Impfungen um 42 Prozent.

In Sichtweite

Vorbereitungen für Lungenkrebs-Screening sind in entscheidender Phase

Berlin (pag) – Vor Lungenkrebs kann sich niemand in Sicherheit wiegen. Denn nicht nur Raucher kann diese Krankheit befallen. Jeder achte Lungenkrebspatient hat niemals in seinem Leben zur Zigarette gegriffen. Allerdings sind Raucherinnen und Raucher immer noch mit Abstand am meisten gefährdet. Der Krebs kann durch ein Lungenkrebs-Screening früh erkannt werden. Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) arbeitet momentan ein solches Programm aus. Zu den Hintergründen.

© stock.adobe.com, master1305

In den vergangenen Jahren hat die Behandlung durch medizinische Innovationen deutliche Fortschritte erzielt und die Überlebensraten der Betroffenen zum Teil erheblich verbessert. Lungenkrebs bleibt aber weiterhin eine heimtückische Krankheit: Ein Lungenkarzinom ist lange nicht spürbar und wird in den meisten Fällen erst dann entdeckt, wenn der Krebs weit fortgeschritten ist. Die späte Diagnose bleibt die größte Hürde, um die Krankheit effektiv zu bekämpfen. Mit der Einführung des Lungenkrebs-Screenings soll sich das grundlegend ändern. Es besteht berechtigte Hoffnung, dass durch frühere Diagnosen viele Menschenleben gerettet werden können. Es gibt nicht nur immer differenziertere und passgenauere Therapiekonzepte, sondern frühe Diagnosen ermöglichen auch andere Behandlungsmaßnahmen und machen sogar Heilungen möglich. Es wird künftig auch mehr Menschen geben, die mit Lungenkrebs als chronische Erkrankung leben.

Zielgruppe: Starke Raucher und Ex-Raucher

Technisch ist Deutschland gut auf ein Screening-Programm mittels Niedrig-Dosis-CT vorbereitet. Bis zu einer halbe Million Untersuchungen pro Jahr wären nach Schätzungen von Experten möglich. Die KI-Auswertung von CT-Bildern, kombiniert mit der fachlichen Expertise von Radiologen, Pneumologen und Thoraxchirurgen werden die Fälle falsch-positiver Befunde weiter verringern, wie bereits eine aktuelle Studie in Deutschland zeigen konnte (siehe Infokasten). Die moderne Diagnostik verspricht also vieles, und doch muss vorab gründlich geprüft werden, für wen die Untersuchung wirklich infrage kommen soll. Internationale Studien haben belegt, dass das Lungenkrebs-Screening starken Rauchern oder ehemaligen Rauchern in der zweiten Lebenshälfte als Vorsorgeuntersuchung am meisten nutzt. Genau für diese Risikogruppe ist die Lungenkrebsvorsorge derzeit in Deutschland auch vorgesehen: Denn nur bei ihr überwiegt statistisch gesehen der Nutzen gegenüber dem möglichen Schaden durch Fehldiagnosen und ionisierte Strahlung.

Nichtraucher und Lungenkrebs

Zugleich wirft die Eingrenzung der Personengruppe Gerechtigkeitsfragen auf: Denn viele der Lungenkrebsfälle bei Nichtrauchern werden ausgerechnet von dem Screening-Programm nicht erfasst, weil sie weder vom Alter noch vom Gesundheitsverhalten her zur Risikogruppe zählen. Die Deutsche Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin (DGP) fordert deshalb sogar ein systematisches Lungenkrebs-Screening für alle Erwachsenen. Das Lungenkarzinom sei die Krebserkrankung mit der höchsten Mortalitätsrate, begründet die Fachgesellschaft ihr Drängen auf systematische Früherkennung für alle: Die Früherkennung eines Lungenkarzinoms durch die Computertomografie senkt die Sterberate erheblich – ersten Studien zufolge um bis zu 20 Prozent.

Der G-BA muss nun also darum ringen, welche Personen zum Screening eingeladen werden sollen, und er muss im deutschen Gesundheitssystem erstmals ein risikobasiertes Früherkennungsprogramm auf den Weg bringen.

© iStockphoto.com, :ilbusca

Lungenkrebs in Zahlen
In Deutschland erkranken jedes Jahr etwa 57.000 Menschen an Lungenkrebs. Er ist bei Männern nach Prostatakrebs die zweithäufigste Krebserkrankung mit rund 35.000 Erkrankten. Bei Frauen ist das Bronchialkarzinom nach Brustkrebs und Darmkrebs der dritthäufigste Krebs, mit rund 22.000 Erkrankten. Frauen sind im Mittel 69 Jahre und Männer 70 Jahre alt, wenn Ärzte bei ihnen die Krankheit feststellen.
Quelle: DKFZ-Krebsinformationsdienst
.

Schneller Leistungsanspruch

Die DGP fordert, der G-BA solle nun schnellstmöglich den Leistungsanspruch der Versicherten definieren. Die Politik habe das Thema schon viel zu lange vernachlässigt. Stattdessen sind die Fachgesellschaften tätig geworden. In einem im Oktober vorgestellten Positionspapier stellen die im Lungenkrebs-Screening beteiligten Fachgesellschaften erstmals konkrete Eckpunkte für ein einheitliches, strukturiertes und qualitätsgesichertes Früherkennungsprogramm vor, um zu diesem Prozess konstruktiv beizutragen. „Wir geben behandelnden Ärztinnen und Ärzten sowie der Gesundheitspolitik klar definierte Empfehlungen an die Hand, die ein einheitliches, strukturiertes, qualitätsgesichertes Früherkennungsprogramm ermöglichen, das effektiv, sicher und zudem kosteneffizient ist“, sagt Prof. Torsten Blum, einer von drei federführenden Autoren des Positionspapiers. An diesem haben Expertinnen und Experten der DGP, der Deutschen Röntgengesellschaft und der Deutschen Gesellschaft für Thoraxchirurgie ein Jahr lang gemeinsam gearbeitet. Darin halten sie fest, dass nur in einem strukturierten Ansatz der Nutzen, die ausreichende Begrenzung der Risiken sowie die Kosteneffektivität hinlänglich mit Evidenz belegt seien. Unstrukturierte Ansätze bergen hingegen substanzielle Risiken für die Teilnehmer und sollten nicht unterstützt werden. Der abschließende Appell lautet: In Deutschland sollten die Voraussetzungen für ein strukturiertes Programm zeitnah geschaffen werden.

HANSE-Studie für Deutschland
Mit der HANSE-Studie ist die Einführung des Lungenkrebs-Screenings in Deutschland wissenschaftlich vorbereitet worden. Dementsprechend breit waren die Fragestellungen: Sie reichten von der Definition der Hochrisikogruppe, über sämtliche Fragen der Implementierung bis zur Festlegung des Screening-Intervalls. Die Studie, die im Sommer 2023 abgeschlossen wurde, dient als Grundlage zur Erarbeitung der Screening-Richtlinien durch den Gemeinsamen Bundesauschuss (G-BA).
Im Rahmen  der HANSE-Studie an der Medizinischen Hochschule Hannover, dem Universitätsklinikum UKSH in Lübeck sowie an der LungenClinic Großhansdorf haben sich 5.000 Raucherinnen und Raucher zwischen 55 und 79 Jahren einem Lungen-Check mittels Niedrigdosis-CTs unterzogen. Ziel war es, die Möglichkeiten des CT-Screenings zur Früherkennung von Lungenkarzinomen zu überprüfen und Standards für das Programm zu entwickeln.

 

Weiterführender Link:

Positionspapier zur „Implementierung eines nationalen organisierten Programms in Deutschland zur Früherkennung von Lungenkrebs in Risikopopulationen mittels Low-dose-CT-Screening inklusive Management von abklärungsbedürftigen Screeningbefunden“
https://www.thieme-connect.de/products/ejournals/html/10.1055/a-2178-2846

Qualitätssicherung: weniger Aufwand, mehr Nutzen

Berlin (pag) – Über Qualitätsdefizite in der Gesundheitsversorgung und wie sich diese beseitigen lassen, diskutieren kürzlich deutsche und internationale Experten auf einem Symposium des Instituts für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen (IQTIG). Dessen Leiter, Prof. Claus-Dieter Heidecke, muss einräumen: „Andere Länder in Europa sind uns ein ganzes Stück voraus.“

„Offene Flanken im Gesundheitswesen zeigen“: IQTIG-Chef Prof. Claus Heidecke will die Qualitätssicherung des Instituts zielgerichtet weiterentwickeln. © pag, Fiolka

Das Institut wurde vor immerhin acht Jahren gegründet. Jetzt will Heidecke die Qualitätssicherung zielgerichteter weiterentwickeln. Im Mai hat der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) das IQTIG beauftragt, ein Konzept zu entwickeln. Es geht darum, kontinuierlich und systematisch relevante Qualitätsdefizite und Verbesserungspotenziale zu identifizieren. „Da können wir zeigen, wo offene Flanken im Gesundheitswesen sind“, so Heidecke auf dem Symposium. Die Beauftragung umfasst beispielsweise eine raschere Entwicklung von Qualitätsindikatoren in einem eng begrenzten Versorgungsausschnitt. Das IQTIG will mit einem kontinuierlichen datenbasierten Monitoring Versorgungsbereiche mit relevanten Qualitätsdefiziten erkennen und priorisieren. „Dadurch können in Zukunft Verbesserungspotenziale deutlich schneller erkannt werden“, schreibt das Institut in einer Mitteilung. Das IQTIG will dem G-BA seine Empfehlungen bis zum 31. Januar 2025 vorlegen. Die Beauftragung ist ein weiterer Schritt, um das vom G-BA im vergangenen Jahr beschlossene Eckpunktepapier zur Weiterentwicklung der datengestützten gesetzlichen Qualitätssicherung umzusetzen. Der Ausschuss will, dass Aufwand und Nutzen der datengestützten gesetzlichen Qualitätssicherung besser zusammenpassen.

Erfolgsstory Zertifizierung

Als Erfolgsstory gelten dagegen die Brustkrebszentren, die seit 20 Jahren von der Deutschen Krebsgesellschaft (DKG) zertifiziert werden. Mittlerweile wurde dieses System auf fast alle Tumorarten ausgeweitet. „Als wir vor 20 Jahren das Zertifizierungssystem mit den ersten Brustkrebszentren gestartet haben, war noch nicht abzusehen, wie sehr das die onkologische Versorgung prägen würde“, sagt PD Dr. Simone Wesselmann von der DKG auf einem Jubiläumssymposium in Juni. Die Erfolge seien enorm. Studien belegten unter anderem, dass die Behandlung in zertifizierten Zentren im Vergleich zur Behandlung in nicht-zertifizierten Einrichtungen zu deutlichen Überlebensvorteilen der Patientinnen und Patienten führt, weniger Komplikationen auftreten und die Begleit- oder Spätfolgen der Behandlung und der Erkrankung milder ausfallen. Außerdem wurde bereits exemplarisch für Darmkrebszentren gezeigt, dass in Zentren niedrigere Behandlungskosten entstehen. Bundesgesundheitsminister Prof. Karl Lauterbach bekräftigt anlässlich des Symposiums seine Unterstützung für das Zertifizierungssystem: „Die Exzellenz der Brustkrebszentren hat vielen Frauen das Leben gerettet.“

Zertifizierte Zentren sind Netzwerke aus stationären und ambulanten Einrichtungen, in denen alle an der Behandlung beteiligten Fachrichtungen eng zusammenarbeiten. Die Zentren bilden den gesamten tumorspezifischen Patientenpfad ab: Von der Früherkennung, über Diagnostik und Therapie bis hin zur Nachsorge und Palliation. Mittlerweile können Krebspatienten sich europaweit in über 1.900 zertifizierten Zentren behandeln lassen.

Mitten in der Dekade

Auf dem Weg zur Spitzenposition in Krebsforschung und -versorgung?

© stock.adobe.com, CleverStock
© stock.adobe.com, CleverStock

Berlin (pag) – Es ist fast Halbzeit bei der Dekade gegen Krebs, die 2019 vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) initiiert wurde, und die sich mittlerweile als deutschlandweite Bewegung etabliert hat. Während an der offiziellen Zwischenbilanz noch gearbeitet wird, steht ein wichtiges Thema der kommenden Jahre bereits fest: Survivorship – das Überleben einer Krebserkrankung.

Streit um den Datenschutz: „Wir müssen an jeder Stelle den gesellschaftlichen Diskurs führen“, appelliert Staatssekretärin Judith Pirscher. © Steffen Kugler
Streit um den Datenschutz: „Wir müssen an jeder Stelle den gesellschaftlichen Diskurs führen“, appelliert Staatssekretärin Judith Pirscher. © Steffen Kugler

Das verrät BMBF-Staatssekretärin Judith Pirscher kürzlich auf dem Krebs-Kongress Vision Zero. Der Politikerin zufolge wird das Thema Survivorship ähnlich wie die Prävention noch immer zu wenig betrachtet: „Der Forschungsbedarf ist groß.“ Immer mehr Menschen in Deutschland leben mit einer Krebserkrankung oder haben diese überstanden. In der Dekade wollen sich die Expertinnen und Experten künftig mit folgenden Fragen auseinandersetzen: Mit welchen Langzeitfolgen haben die Patientinnen und Patienten zu kämpfen? Was wünschen sich Langzeit-Überlebende? Welchen Einfluss hat die Krebserkrankung auf sie und auf ihre Angehörigen? Das Problem besteht Pirscher zufolge insbesondere darin, dass es nur unzureichende Daten gibt oder dass diese nicht strukturiert genutzt werden können – „und genau hier werden wir ansetzen“, verspricht die Staatssekretärin.

Das Datenproblem treibt sie um. In der Forschung und Versorgung generiere man heute so viele Daten wie nie zuvor, aber als Entscheidungsgrundlage für Diagnose und Therapie werde nur ein kleiner Teil davon genutzt – ein viel zu kleiner Teil. „Das wollen und müssen wir ändern, gerade im Hinblick auf die Krebsbehandlung der Zukunft, die ganz stark auf personalisierte Therapien setzen wird“, meint die Politikerin und verweist beispielhaft auf das Projekt PM4Onco, das im Rahmen der Medizininformatik-Initiative umgesetzt wird (siehe Infokasten). Sie will außerdem gezielt mit Datenschützern das Gespräch suchen – zum Beispiel auf deren Fachkonferenzen. Die Szene schätzt die Politikerin, die selbst einmal stellvertretende Landesbeauftragte für Datenschutz des Landes Nordrhein-Westfalen gewesen ist, als „sehr abgekapselt“ ein. „Datenschutz darf kein Verhinderungsinstrument sein für das, was wir dringend nötig haben“, sagt Pirscher und appelliert: „Wir müssen an jeder Stelle den gesellschaftlichen Diskurs führen.“

Ist der Druck hoch genug?

Ihr Plan löst bei Prof. Michael Baumann, dem Vorstandsvorsitzenden des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ), und bei der Patientenvertreterin Ulla Ohlms spürbar Erleichterung aus. „Wir sagen ja immer etwas frech, dass Datenschutz etwas für Gesunde ist“, erzählt letztere. Das sei natürlich ein bisschen übertrieben. „Aber wir hätten es gerne eine Nummer kleiner.“ Patienten wünschten sich, dass ihre Daten in große Datenbanken und -pools eingespeist werden, damit durch Algorithmen und KI daraus etwas entstehen könne, um Krebs besser zu behandeln oder sogar zu heilen. Dieser Wille von Ärzten, Forschern, Patienten und Krankenkassen müsse in die „Datenschutz-Bürokratie“ eindringen, verlangt die Vorstandsvorsitzende von PATH, einer Stiftung von Brustkrebspatientinnen.

Ähnlich argumentiert Baumann, der auf repräsentative Umfragen verweist, wonach Patienten die Forschung mit ihren Daten befürworteten. Aber die Datenschützer hörten „offensichtlich nicht, was die Betroffenen sagen“, kritisiert der Mediziner. Letztlich könne der Datenschutz aber nur das repräsentieren, „was wir als Gesellschaft wollen und da frage ich mich, ob der politische Druck aus der Gesellschaft und ganz speziell von Patientinnen und Patientin hoch genug ist“.

Staatssekretärin Pirscher ist trotz der komplexen Gemengelage optimistisch. Sie glaubt sogar, dass Gesundheitsdaten der Treiber sein könnten, um den Datenschutz zu ändern, denn: „Im Gesundheitsbereich ist dieses überbordende Schützen eigentlich ein Vernachlässigen.“ Ein weiteres Argument liefert Dr. Ruth Hecker, die zu bedenken gibt, dass der Datenschutz darauf ausgerichtet sei, Sicherheitslücken zu erkennen und zu schließen. „Aber es gibt viel, viel größere Sicherheitslücken in der Versorgung der Patientin und Patienten, weil wir eben den Datenschutz haben“, sagt die Vorstandsvorsitzende des Aktionsbündnisses Patientensicherheit. Das werde allerdings nicht gleichberechtigt diskutiert. Sie empfiehlt, die Probleme anhand praktischer Beispiele auf Augenhöhe gegenüberzustellen.

Vieles spricht dafür, dass der Umgang mit Daten einer der entscheidenden Erfolgsfaktoren für die Dekade sein wird. Nach dem Jahrzehnt sollte Deutschland eine „Spitzenposition in Krebsforschung und -versorgung“ einnehmen. So formuliert DKFZ-Chef Baumann die Zielmarke. Das Format der Dekade hat Pirscher allerdings schon jetzt überzeugt: Es gebe für zehn Jahre eine klare Priorisierung. Auch werde das Thema aus politischen Streitigkeiten herausgehalten und die verschiedenen Akteure hätten Gelegenheit, „in Ruhe“ miteinander zu arbeiten. Vor einem inflationären Einsatz rät sie jedoch ab: Eine Dekade für dieses und jenes sollte es nicht geben.

© pag, Fiolka
© pag, Fiolka

Innovationen in die Klinik bringen
Auf dem Krebskongress Vision Zero verkündet der DKFZ-Vorstandsvorsitzende Prof. Michael Baumann schlechte Nachrichten: Bei der klinisch-translationalen Krebsforschung, bei der es darum geht, Innovationen in die Klinik zu bringen, bestehe großer Nachholbedarf. Die gute Nachricht: Diese Situation werde durch die Erweiterung des Nationalen Centrums für Tumorerkrankungen (NCT) „gezielt angegriffen“, wie es der Wissenschaftler ausdrückt. Neben Heidelberg und Dresden wird es vier neue Standorte geben. Damit arbeiteten elf Universitätsklinika und das DKFZ zusammen, um Innovationen zur klinischen Anwendung zu bringen. Die Mission des erweiterten NCT sei nicht nur Forschung, sondern auch der faire Zugang zu Studien und Innovationen in ganz Deutschland, stellt Baumann klar. Förderbeginn sei am 1. Juni gewesen, man befinde sich damit in der Phase der Implementierung, und „wir haben das Versprechen abgegeben, dass Ende dieses Jahrzehntes dieses NCT mit einer weltweit einmaligen Struktur komplett implementiert ist“.

 

 

 Personalized Medicine for Oncology
Ziel von PM4Onco ist es, die IT-technischen Grundlagen zur Etablierung der personalisierten Medizin in der Krebsbehandlung zu legen, um an Krebs erkrankten Patientinnen und Patienten eine bestmögliche, individuell angepasste und somit möglichst wirksame Therapie zu bieten. Indem sämtliche Datenquellen zusammengebracht werden – etwa aus der genetischen Diagnostik, der standardisierten Tumordokumentation, der Vorgeschichte der Betroffenen und letztlich dem Verlauf der Erkrankung nach der Therapie – kann der gesamte Krankheitsverlauf für die Wissenschaft und damit für viele weitere und künftige Erkrankte nutzbar gemacht werden.
.
Weiterführender Link:
Mehr Informationen über das Projekt
https://www.uniklinikum-dresden.de/de/das-klinikum/universitaetscentren/zentrum-fuer-medizinische-informatik/leistungen/pm4-onco

Krebsberatung: Kritik am Windhundprinzip

Berlin (pag) – Seit drei Jahren gibt es sie in der Regelversorgung: die ambulante psychosoziale Krebsberatung. Eine Zwischenbilanz zieht die Deutsche Krebsgesellschaft kürzlich auf einer Veranstaltung. Dort wird deutlich: Es gibt noch viel Verbesserungspotenzial.

Wie klappt die Förderung der Krebsberatungsstellen? Kathleen Lehmann (links) vom GKV-Spitzenverband und Hanna Bohnenkamp (rechts), Leiterin der KBS der Hessischen Krebsgesellschaft, berichten über ihre Erfahrungen. © pag, Fiolka

 

Die Finanzierung der Krebsberatungsstellen (KBS) ist gesichert, aber die vom GKV-Spitzenverband (GKV-SV) erlassenen Förderrichtlinien, nach denen das Finanzvolumen von 42 Millionen Euro auf der Grundlage des Königsteiner Schlüssels verteilt werden, müssen noch nachjustiert werden. Das weiß auch Kathleen Lehmann, Referentin Ambulante Versorgung im GKV-SV, die über ihre Erfahrungswerte referiert. Um herauszufinden, wie die Verteilung der Fördermittel auf die KBS hinsichtlich einer flächendeckenden Versorgung aussieht, nimmt der GKV-SV statistische Auswertungen vor. Danach finden sich die mit Abstand meisten geförderten KBS in Nordrhein-Westfalen (22), Baden-Württemberg (18) und Bayern (10). Schlusslichter sind Mecklenburg-Vorpommern und Saarland (je 1) und die Stadtstaaten Berlin, Hamburg und Bremen (je 2). Um allerdings genauere Aussagen über den Versorgungsgrad machen zu können, müssten auch die unterschiedlichen Größen, Personalausstattung und inhaltliche Ausrichtung betrachtet werden. Legt man den Bezug zur Einwohnerzahl zugrunde, so sieht das Bild schon ganz anders aus: Danach stehen Sachsen, Thüringen und Hamburg bei geförderten KBS ganz oben und Berlin, Mecklenburg-Vorpommern und Hessen sind abgeschlagen.

ÖGD quersubventioniert?

Die rechtlichen und finanziellen Rahmenbedingungen unterzieht Rechtsanwalt Prof. Peter Wigge einer kritischen Bestandsaufnahme. Er konstatiert: „Die Regelförderung der Krebsberatungsstellen befindet sich im Spannungsfeld der vom Gesetzgeber intendierten einrichtungsbezogenen Unterstützung und der rechtlich definierten Aufgaben der Gesetzlichen Krankenversicherung.“

Für die Beratungsstellen spricht Hanna Bohnenkamp. Die Leiterin der KBS der Hessischen Krebsgesellschaft kritisiert das „Windhundprinzip“, wonach die Fördermittel nach Reihenfolge des Antragseingangs vergeben werden. Das könne dazu führen, dass bereits etablierte Stellen in der nächsten Förderperiode auf der Strecke blieben. Die Psychologin kritisiert außerdem die Vorgaben der Wirtschaftlichkeitsprüfung: Es würden nur die Beratungsleistungen angeschaut und die vielen darüberhinausgehenden Angebote nicht einbezogen.

Ein Zuhörer, der aus Dresden angereist ist, meldet sich in der Diskussion zu Wort: Alle Fördergelder seien im Nu ausgeschöpft gewesen. Für sein Angebot der psychoonkologischen Beratung für Kinder und Jugendliche sei nichts mehr übrig. Der Grund ist schnell gefunden: Der Öffentliche Gesundheitsdienst (ÖGD) in Sachsen und Thüringen hat sich nach dem „Windhundprinzip“ an dem Fördertopf kräftig bedient. Ist das Sinn der Sache, den ÖGD mit Quersubventionen zu unterstützen? Kathleen Lehmann sieht hier durchaus Korrekturbedarf und räumt ein, dass dies so nicht gewollt sei.

 

Die Kosten der Krebsberatung
– 21 Mio. Euro Fördersumme im Jahr 2020
– 42 Mio. Euro Fördersumme ab 2021 per Gesetz
– GKV förderte 104 KBS im Jahr 2022
– PKV fördert anteilig mit sieben Prozent

 

 

 

Krebsüberleben: Der Einfluss der Postleitzahl

Berlin (pag) – Männer und Frauen mit niedrigem sozioökonomischen Status erkranken durchschnittlich sieben Jahre früher an Krebs als Menschen mit einem höheren Status. Der Unterschied zeigt sich ausnahmslos bei allen Arten der Erkrankung. Diese Erkenntnis enthält der Onkologie-Report der AOK Rheinland/Hamburg, der kürzlich veröffentlicht wurde.

Ein niedriger sozioökonomischer Status gehe oft einher mit höheren Gesundheitsbelastungen und schlechteren Gesundheitschancen, beispielsweise einer niedrigeren Gesundheitskompetenz, so die Verantwortlichen. Wesentliche Risikofaktoren bei Menschen mit niedrigem sozioökonomischen Status seien der höhere Anteil an Raucherinnen und Rauchern, weniger sportliche Aktivität, ein ungünstiges Ernährungsverhalten sowie die stärkere Verbreitung von Adipositas.

Unterschiede zwischen Stadtteilen

Zuvor haben bereits Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ) und des Hamburgischen Krebsregisters bei der Hansestadt erstmals das Krebsüberleben zwischen den verschiedenen Stadtteilen verglichen. Dabei fanden sie teilweise erhebliche Differenzen: Um bis zu 15 Prozentpunkte unterscheidet sich das Fünf-Jahres-Krebsüberleben zwischen den sozioökonomisch stärksten und schwächsten Vierteln.

Zur Einordnung: Sozioökonomische Ungleichheiten beim Krebsüberleben wurden in vielen Ländern dokumentiert. Die Studien basieren meist auf länderweiten Erhebungen, die Städte als eine Einheit behandeln. „Dabei ist ein Vergleich einzelner städtischer Gebiete besonders interessant“, sagt Erstautorin Lina Jansen vom DKFZ. Die Unterschiede bei der Erreichbarkeit medizinischer Versorgung spielten innerhalb einer Stadt eine geringere Rolle. Außerdem lebe die Mehrheit der Weltbevölkerung in Städten.

© iStockphoto.com, Agromov

Keine eindeutige Erklärung

Die Studie basiert auf Daten von 73.106 Patienten, die im Hamburgischen Krebsregister erfasst und zwischen 2004 und 2018 an Darm-, Lungen-, Brust- oder Prostatakrebs erkrankt waren. Für sie wurde das altersstandardisierte relative Fünf-Jahres-Überleben ermittelt. Um den sozioökonomischen Status der Stadtteile einzuordnen, nutzten die Epidemiologen den Hamburger Sozialindex. Dieser erfasst unter anderem Arbeitslosenquote, Anzahl der Sozialwohnungen und der Sozialhilfeempfänger sowie Haushaltseinkommen.
Das Ergebnis der Analyse: Je höher der sozioökonomische Status des Stadtteils, desto mehr Patienten überlebten die ersten fünf Jahre nach der Krebsdiagnose. Die Überlebensunterschiede betrugen zwischen den sozioökonomisch stärksten und schwächsten Stadtteilen bei Prostatakrebs 14,7 Prozentpunkte, bei Darmkrebs 10,8 Prozentpunkte, bei Brustkrebs 8 und bei Lungenkrebs schließlich noch 2,5 Prozentpunkte. Eine mögliche Erklärung für die teilweise erheblichen Differenzen könnte die unterschiedliche Wahrnehmung von Vorsorge- und Früherkennungsuntersuchungen sein. Die Forscher konnten bei Brust- und Prostatakrebs einen erheblichen Anteil der Überlebensdifferenz auf weiter fortgeschrittene Krebsstadien bei Diagnose zurückführen. Für Darmkrebs und Lungenkrebs galt dies allerdings nicht. Weitere Analysen seien daher dringend erforderlich.