Prof. Kai Sassenberg: „Die faktenorientierte Berichterstattung ist beängstigend genug“

Nachgefragt bei Prof. Kai Sassenberg, Sozialpsychologe

 

Wie bewerten Sie die mediale Berichterstattung zur Coronakrise – überwiegend sachliche Informationen oder wird Panik geschürt?

Prof. Kai Sassenberg: Die mediale Berichterstattung ist weitgehend sachlich und faktenorientiert. Die Medien bemühen sich an vielen Stellen um sachliche und verständliche Kommunikation wissenschaftlicher Erkenntnisse. Auch schwer verständliche Sachverhalte wie exponentielles Wachstum und dessen Veränderung werden allgemeinverständlich erläutert und grafisch veranschaulicht. Vor dem Hintergrund der Fakten, wie der Zahl der Todesopfer in Italien, ist die faktenorientierte Berichterstattung allerdings an vielen Stellen beängstigend genug. Dies ist allerdings auch wichtig und funktional, um Zustimmung für die einschneidenden Schutzmaßnahmen zu erlangen. Problematisch allerdings ist die Berichterstattung über Ausnahmen wie intubierte 25-Jährige oder gestorbene Mittfünfziger.

Warum?

Sassenberg: Diese können durchaus Panik auslösen, leisten aber keinen Beitrag zur Information der Bevölkerung, weil es sich um Ausnahmen handelt, deren Ursache in der Berichterstattung nicht erörtert wird.

Die gesundheitlichen Schutzmaßnahmen bringen unser soziales Zusammenleben fast zum Stillstand. Was macht das mit einer Gesellschaft?

Sassenberg: Das öffentliche Leben kommt durch die Einschränkung des physischen Kontaktes in vielen Bereichen in der Tat zum Erliegen. Gleichzeitig können fehlende direkte Kontakte in unserer Zeit auch über digitale Medien zumindest zum Teil kompensiert werden. Trotzdem erleben Menschen den Wunsch nach sozialen Kontakten umso intensiver. Ein Ergebnis davon sind vermutlich die zahlreichen Solidaritätsbekundungen, zum Beispiel durch Musik am offenen Fenster; ein weiteres die Hilfsangebote und das soziale Engagement wie Einkaufshilfen für Mitglieder von Risikogruppen. Neben diesen positiven Effekten ist aber auch nicht auszuschließen, dass häusliche Gewalt und Depressionen zunehmen, weil weniger Aktivitäten möglich sind.

Und mittelfristig?

Sassenberg: …ist zu vermuten, dass viele Dinge, die alle Zeit selbstverständlich waren, zumindest für einige Zeit wieder stärker als positiv wahrgenommen werden, wenn sie wieder möglich sind. Dinge, die man eine Zeit lang entbehrt, weiß man danach umso mehr zu schätzen.

Warum wurde die Aufforderung zur Vermeidung von sozialem Kontakt zunächst nicht befolgt, inzwischen aber schon?

Sassenberg: Aufgrund der starken Einschränkungen überrascht der Widerstand nicht. Im Übergang zwischen dem Appell, Abstand zu halten, und dem Verbot von Zusammenkünften wurden aus wissenschaftlicher Perspektive zwei Dinge sehr gut gemacht: Medien und Politik haben wiederholt und übereinstimmend die gleiche Botschaft kommuniziert: „Jetzt müssen wir unser Verhalten ändern, sonst werden viele Menschen sterben“. Übereinstimmende Kommunikation führt zur Veränderung von Einstellungen und Verhalten. Während es sonst viele Gründe gibt, die Pluralität von Meinungen zu fördern, war in diesem Fall die Einheitlichkeit der Aussagen wichtig. Der gleichzeitig vorgenommene Schritt von Appellen zu rechtlichen Vorgaben hat vermutlich ebenfalls zur Verhaltensänderung beigetragen. Wenn Appelle als Einschränkungen wahrgenommen werden und Erwartungen verletzen, reagieren Menschen mit Widerstand – sogenannter Reaktanz. Wird aber, etwa durch Gesetze, keine Handlungsfreiheit mehr wahrgenommen, bleibt diese Reaktanz aus.

Zur Person:
Der Sozialpsychologe Prof. Kai Sassenberg ist Leiter der Arbeitsgruppe „Soziale Prozesse“ am Leibniz-Institut für Wissensmedien und Professor an der Eberhard Karls Universität Tübingen. Er beschäftigt sich mit den Einflüssen der Merkmale sozialer Beziehungen auf den medienvermittelten Wissensaustausch und die Zusammenarbeit. Ein weiterer Schwerpunkt seiner Forschung: der Einfluss von Emotionen und kognitiven Konflikten auf die Verarbeitung von selbstrelevanter Information vor allem im Gesundheitsbereich.

Prof. Mazda Adli: „Das Gefühl, hilflos einer unkontrollierbaren Situation ausgeliefert zu sein“

Nachgefragt bei Prof. Mazda Adli, Psychiater

 

Was macht diese Krise mit einer ohnehin schon ängstlicher werdenden Gesellschaft?

Prof. Mazda Adli: Wir merken im Moment alle, dass wir ängstlicher und unsicherer werden. Der Grund dafür ist, dass unser Leben, unsere üblichen Routinen in kürzester Zeit komplett auf den Kopf gestellt worden sind – und das flächendeckend. Wir haben es gleichzeitig mit einer Risikosituation zu tun, die für den Einzelnen nach wie vor sehr schwer bezifferbar bleibt. Ein unsichtbares Virus zu verstehen, ist sehr schwierig und die epidemiologischen Zahlen richtig zu deuten, ist auch sehr schwierig. Dann ist das Thema im Moment unglaublich präsent. Es gibt kaum noch ein anderes Thema als Corona, wenn man die Nachrichten schaut. Und diese Mischung facht zusätzlich noch Angst an, sodass man das Gefühl hat, hilflos einer unkontrollierbaren Situation ausgeliefert zu sein – was man ja eigentlich nicht ist. Aus einer psychologischen Perspektive betrachtet führt das dann zur Verunsicherung und bei vielen Menschen zu starken Ängsten und bei einigen gar zu irrationalen Ängsten. Das erleben wir im Moment. Jetzt fragen Sie ja nach einer ohnehin schon ängstlicher werdenden Gesellschaft.

Genau.

© iStock.com, ArtistGNDphotography

Adli: Wir sind in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten insgesamt ängstlicher geworden und haben spürbar mehr Sicherheits- und Absicherungsbedürfnis entwickelt. Das merkt man daran, dass unsere Autos immer größer werden und damit auch die Knautschzonen, Kinder werden vor der Schule abgesetzt und so weiter. Der Trend ging auch schon vor Corona hin zu etwas mehr Ängstlichkeit. Dort, wo mehr Sicherheitsbedürfnis besteht, ist auch gleichzeitig das Kontrollbedürfnis groß – also, dass die Dinge um einen herum in kontrollierter Weise ablaufen. Und das ist in Pandemiezeiten, in denen wir gerade leben, überhaupt nicht der Fall. Gefühlt geht das bei einigen bis hin zum Kontrollverlust.

Inwiefern sind Psychiater und Psychotherapeuten jetzt in besonderer Weise gefragt. Oder schlägt ihre Stunde erst nach der Krise?

Adli: Nein. Ich kann berichten, dass schon jetzt der Bedarf an Hilfe steigt. Wir erleben es in meiner Klinik: Menschen mit psychischer Vorerkrankung, die lange Jahre stabil waren, dekompensieren jetzt plötzlich, weil sie mit der neuen Situation ganz schlecht klarkommen, die Isolation zu Hause schwer zu ertragen ist. Wir erleben aber auch, dass Menschen ohne jedwede psychische Vorerkrankung den Bedarf an psychotherapeutischer Hilfe anmelden. Wir müssen im Moment mehr für Kriseninterventionen tun. Ich rechne mit einer weiteren deutlichen Zunahme des psychiatrischen Hilfebedarfs in den nächsten Wochen.

Kann unser Gesundheitswesen das überhaupt noch packen? Schon vor der Krise gab es keine ausreichenden Kapazitäten für psychiatrische Behandlungen und Psychotherapien.

Adli: Ich denke, wir werden noch größere Engpässe erleben, viele Menschen sind jetzt schon schwer psychisch belastet. Wie das werden soll, müssen andere beantworten. Die Bedarfsplanung orientiert sich an krisenfreien Zeiten. Und da sind kaum Reserven vorgesehen. Das erleben wir in dramatischem Ausmaß ja gerade in der Notfallmedizin. Das wird nicht die letzte große Krise sein. Wir müssen uns besser darauf vorbereiten. Wir lernen gerade, wie wichtig Gesundheit ist. Wenn die Gesundheit infrage steht, dann steht die Wirtschaft still, die Kultur und alles andere.

Zur Person:
Der Psychiater und Stressforscher Prof. Mazda Adli ist Chefarzt der Fliedner Klinik Berlin. Er leitet außerdem an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Charité den Forschungsbereich „Affektive Störungen“. Dazu gehören: stressassoziierte Symptome, die Depression und die manisch-depressive Erkrankung.

Gesellschaft im Krisenmodus – was passiert da?

Das omnipräsente Virus greift auch die mentale Gesundheit der Menschen an. Nicht alle halten den permanenten Ausnahmezustand aus. Corona lässt die eigene Welt aus den Fugen geraten, das innere Gleichgewicht wird gestört. Das Besondere an der Coronakrise ist die kollektive Erfahrung – nicht nur hierzulande, sondern global wird das Virus als beispiellose Bedrohung erlebt. Weltweit leben Menschen in Angst vor dem Erreger und sind mit bisher noch nie erlebten Restriktionen im Alltag konfrontiert. Was macht diese Krise mit uns in einer ohnehin schon ängstlicher werdenden Gesellschaft? Das haben wir den Psychiater Prof. Mazda Adli gefragt. Er rechnet mit einer weiteren deutlichen Zunahme des psychiatrischen Hilfebedarfs in den kommenden Wochen. Der Sozialpsychologe Prof. Kai Sassenberg analysiert die mediale Berichterstattung. Diese sei weitgehend sachlich und faktenorientiert, allerdings sei die faktenorientierte Berichterstattung an vielen Stellen beängstigend genug.

 

© iStock.com, Serhii Yakovliev