Kontroverse zu Big Data und Leitlinien

Beim „quality of cancer care“ Kongress geht es ums Eingemachte

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Berlin (pag) – Spannende Debatten beim „quality of cancer care“-Kongress der Deutschen Krebsgesellschaft: Beim Thema Leitlinien treffen „barfüßige“ Kliniker und hochspezialisierte AMNOG-Methodiker aufeinander. Und Big-Data-Skeptiker Prof. Gerd Antes warnt vor den Verlockungen der großen Datenmengen. Energischen Widerspruch äußert Prof. Christof von Kalle.

Der Onkologe von Kalle nennt den Lungenkrebs als Beispiel dafür, wo etwa Sequenzierungen und hochauflösende Molekulardaten bereits heute Relevanz für die Behandlung von Patienten haben – „wo wir wirklich ein Big-Data-Konzept haben, das für die Patienten am Start ist“. Von Kalle, vor kurzem in den Sachverständigenrat Gesundheit berufen, analysiert in seinem Vortrag die Schwächen der hiesigen Krebsversorgung. Man wisse nicht, was die „ganz normalen Therapien in der ganz normalen Umwelt“ dem Patienten bringen, es gebe zu wenig Informationen über das Outcome der Verfahren. Das Problem bricht er auf zwei einfache Fragen herunter: Was haben wir mit unseren Patienten gemacht? Wie ist es ihnen daraufhin ergangen? Das Gesundheitssystem müsse sich in ein lernendes verwandeln, verlangt der Mediziner, „und dazu brauchen wir die Daten“.

Daten für und nicht über den Patienten

„Was haben wir mit unseren Patienten gemacht“, fragt Prof. Christof von Kalle. © pag, Fiolka

Er kritisiert außerdem, dass Patienten aus den Datenprozessen weitgehend ausgeschlossen seien. Der Patient habe zwar das Recht, über seine Daten Bescheid zu wissen, er oder sie verfüge aber über wenig Möglichkeiten, an dem Prozess teilzunehmen. Von Kalle plädiert daher für ein patientenzentriertes Gesundheitsdatenmanagement, damit Informationen für und nicht über den Patienten gesammelt werden. Nach Ansicht des Experten ließen sich damit auch viele Probleme des Datenschutzes oder transsektoraler Natur lösen. „Patienten sollten den Schlüssel zu dieser Entwicklung in der Hand halten“, appelliert er.

 

 

 

Qualitätsfreier Hype um Big Data: Prof. Gerd Antes teilt aus. © pag, Fiolka

Nach dem Pro-Daten-Impuls des Krebsexperten folgt der Konter von Antes, Mathematiker und Biometriker. Wie später auf einer KBV-Veranstaltung spricht er auch beim Kongress der Krebsgesellschaft in Bezug auf Big Data von einem „qualitätsfreien Hype“. Bullshit-Generator steht auf einer seiner Folien. Der ehemalige Direktor von Cochrane Deutschland will die Digitalisierungsideologie mit markigen Worten entlarven. Er ist davon überzeugt, dass der Nutzen von Big Data meist überschätzt und nicht belegt ist. „Jeder glaubt, dass mehr Daten besser sind – aber das stimmt nicht“, sagt er und verweist auf entsprechende Publikationen von Mathematikern, die er als einziger im Saal kennen dürfte. Mehr Daten verstopfen die Erkenntnisbahn und die richtigen Signale versacken im Rauschen, lautet seine Kernargumentation. Mittlerweile befinde man sich im Zeitalter der Korrelation, und Antes befürchtet, dass sich die Wissenschaft von der Qualität verabschiedet.

Verbindungsweg gesucht

In der folgenden Diskussion verweist PD Dr. Monika Klinghammer-Schalke, Direktorin des Tumorzentrums Regensburg, auf die vielen Datenquellen, die es in der Onkologie gibt – aus DMP, Qualitätssicherung, Zentren, klinischen Registern, Spezialregistern. „Warum begeben wir uns nicht auf den Weg, um das zu verbinden“, fragt die Expertin, die auch Direktorin des Instituts für Qualitätssicherung und Versorgungsforschung an der Universität Regensburg ist.

Weitere Impulse aus der Debatte: Geht es um ein Datensammeln des Sammelns wegen? Angemahnt wird, dass die Generierung von Daten nicht mit der Auswertung von Daten verwechselt werden dürfe. Und natürlich geht es auch um die großen Unternehmen, die große Datenmengen sammeln. Gefährlich findet es von Kalle, dass „Doubt-Diskussionen über das Marktverhalten von großen Internetunternehmen, deren Services wir fast alle benutzen, dazu führen, dass wir jetzt Entscheidungen darüber fällen, ob wir für uns selbst – zum Beispiel bei akademisch oder öffentlich geförderten Studien – Daten in bestimmter Form erheben oder ob wir das eben nicht tun“. Er warnt davor, das Kind mit dem Bade auszuschütten.

Wie methodisch naiv sind Leitlinien?

Leitlinien sind Handlungskorridor, kein Kochbuch, so Prof. Thomas Seufferlein. © pag, Fiolka

Der zweite Tag des Kongresses steht ganz im Zeichen von Leitlinien. Dabei geht es ans Eingemachte: Werden diese methodisch zu naiv erstellt? Und wie sind deren Aussagen zu neuen Arzneimitteln zu bewerten?

In Leitlinien stehe die optimale Patientenversorgung im Fokus, dabei handele es sich um einen Handlungskorridor, kein Kochbuch, stellt Prof. Thomas Seufferlein klar. Der Ärztliche Direktor der Klinik für Innere Medizin I am Universitätsklinikum Ulm betont auch, dass der Patientennutzen bei den Handlungsempfehlungen das Entscheidende sei und nicht die Kosteneffektivität von Behandlungen. „Diese spielt und wird hoffentlich keine Rolle spielen“, meint er. Verbesserungsbedarf räumt der Vizepräsident der Deutschen Krebsgesellschaft insbesondere in puncto Anwendungsfreundlichkeit ein.

 

Die eigene Position muss kritisch hinterfragt werden, meint Prof. Dr. Axel Heyll © pag, Fiolka

Die entscheidende Schwäche an Leitlinien ist für Prof. Dr. Axel Heyll, dass bei ihnen das Prinzip der evidenzbasierten Medizin noch immer nicht ausreichend umgesetzt wird. Viele der Beteiligten seien nicht bereit, ihre eigene Position ausreichend kritisch zu hinterfragen, „sodass wir meiner Meinung nach noch immer viele eminenzbasierte Empfehlungen haben“, sagt der Leiter des Kompetenz-Centrums Onkologie des GKV-Spitzenverbandes und der MDK-Gemeinschaft. Die Qualität einer Leitlinie bestehe darin, dass sie möglichst viele evidenzbasierte Empfehlungen und möglichst wenig konsensbasierte enthalte. Allerdings seien nicht alle konsensbasierten Maßnahmen schlecht, räumt Heyll ein.

„Riesiger Datenschatz“

IQWiG-Vertreter Dr. Thomas Kaiser sieht Handlungsbedarf. © pag, Fiolka

IQWiG-Vertreter Dr. Thomas Kaiser hat die Relevanz von Leitlinien hinsichtlich ihrer Aussagen zu neuen Arzneimitteln anhand der Beschlüsse des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) der letzten zwei Jahre untersucht. Er kommt zu einem ernüchternden Fazit: Erstens werde nur ein Drittel der Themen der frühen Nutzenbewertung in aktuellen S3- oder S2-Leitlinien adressiert. Zweitens sei die zugrunde liegende Recherche der Leitlinien veraltet. Laut Kaiser beträgt die Latenzzeit zwischen Leitlinienrecherche und Veröffentlichung des G-BA-Beschlusses im Mittel drei Jahre. Drittens basierten die Aussagen zu neuen Arzneimitteln „regelhaft“ auf unvollständiger Datenbasis. Hierzu führt der Co-Leiter des Ressorts Arzneimittelbewertung aus, dass in Fachzeitschrift-Publikationen, Zulassungsberichten und Studienregistern nur etwa 50 Prozent der verfügbaren Ergebnisse aus Studien veröffentlicht werden. Dagegen seien nahezu 100 Prozent im AMNOG-Prozess vorhanden – damit meint er Herstellerdossier, IQWiG-Bericht und G-BA-Beschluss. Für Kaiser ein „riesiger Datenschatz“, der für Leitlinien jedoch nur im Einzelfall und niemals vollständig recherchiert werde.

Unvollständigkeit wirft Fragen auf

Ein weiterer Kritikpunkt: Nur jede fünfte aktuelle Leitlinie befasse sich systematisch mit der Lebensqualität in Bezug auf neue Arzneimittel. Fast 100 Prozent der Bevölkerung kümmerten sich darum allerdings bei Yoga, Sport oder Musiktherapie. „Im Bereich Arzneimitteln ist es bei den Leitlinien-Erstellern offensichtlich noch nicht im Kopf, dass das wichtig ist.“ Als Beispiel nennt Kaiser eine 2018 veröffentlichte Leitlinie zum Lungenkarzinom, welche hinsichtlich der Nebenwirkungen eines neuen Wirkstoffes aus dem IQWiG-Bericht für die AMNOG-Bewertung zitiert. Der Leitlinie ist außerdem zu entnehmen, dass eine Analyse zur Lebensqualität bisher nicht publiziert wurde. Kaiser weist jedoch darauf hin, dass eine solche ebenfalls in jenem IQWiG-Bericht enthalten ist, der in der Leitlinie wenige Zeilen zuvor zitiert wurde. Diese Unvollständigkeit wirft Fragen auf.

Leitlinien im AIS

Anlass für Kaisers Analyse ist das geplante Arztinformationssystem (AIS), genauer gesagt eine Stellungnahme der AWMF aus dem vergangenen Jahr dazu. Die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften hat darin bemängelt, dass Leitlinien im AIS nicht berücksichtigt werden. Dabei verfüge das AIS über keine Informationen über parallele oder spätere Zulassungen sowie über spätere Daten. Diesen Mangel könnten Leitlinien ausgleichen. Nach den Ausführungen des IQWiG-Mitarbeiters ist es wenig verwunderlich, dass dieser großen Handlungsbedarf bei den Aussagen zu neuen Arzneimitteln in Leitlinien sieht und hinterfragt, ob diese tatsächlich Datenlücken im AIS füllen können.

Enthusiastische Laien und das AMNOG

Die folgende Diskussion dreht sich um die vom Generalsekretär der Deutschen Krebsgesellschaft formulierte Kernfrage: Wie ist der „barfüßig“ breite klinische Blick der Leitlinien mit dem hochtechnisch selektiven Blick des AMNOG-Prozesses auf Arzneimittel zusammenzubringen, will Dr. Johannes Bruns wissen. Dr. Monika Nothacker von der AWMF findet, dass Leitlinien im AIS berücksichtigt werden sollen, auch wenn sie veraltet seien. Sie vermittelten dem Nutzer das klinische Umfeld, meint sie. Kaiser appelliert an die Leitlinien-Ersteller, die vorhandenen Datenquellen zu nutzen und mahnt eine hohe methodische Expertise an. Seufferlein räumt zwar ein, dass Leitlinien-Autoren „enthusiastische Laien“ seien. Er stellt aber auch heraus, dass Leitlinien für die Anwender gemacht werden. Die Empfehlungen müssten richtig, verständlich und umsetzbar sein. Die sperrige AMNOG-Sprache in klinische Realität zu übersetzen – „das leisten Leitlinien“.

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