Berlin (pag) – Politiker unterschiedlicher Couleur – bis auf die AfD – fordern eine Ethikdebatte im Bundestag über Bluttests bei Schwangeren zur Früherkennung des Downsyndroms bei Ungeborenen. Sie soll möglichst zeitnah geführt werden: Januar 2019 ist im Gespräch. Die Zeit drängt, denn der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) wird darüber entscheiden, ob der Test GKV-Leistung wird. Derzeit tragen Schwangere die Kosten von 180 Euro selbst.
„Heute sind 400 Erbkrankheiten diagnostizierbar. Angesichts der rasanten Entwicklung solcher Tests müssen wir zu einer gesetzlichen Reglementierung kommen, um vor Diskriminierung zu schützen“, meint Kathrin Vogel (Linke). Denn in Deutschland entschieden sich heute neun von zehn Frauen bei einem positiven Testergebnis für eine Abtreibung. „Eine Orientierungsdebatte ohne Fraktionszwang muss darüber geführt werden, was erlaubt sein soll, was nicht“, ergänzt FDP-Mann Jens Beeck. „Jedes Menschenleben ist lebenswert. Würde und Lebensrecht dürfen nicht von genetischen Eigenschaften abhängen“, sagt Rudolf Henke (CDU). Die Trisomien seien nur die „Spitze des Eisbergs“, weitere vorgeburtliche Tests zur Diagnose von Gendefekten bereits zugelassen oder in der „Pipeline“. Der Arzt tendiert dazu, den Test als Kassenleistung einzuführen, wenn er die Anzahl durchgeführter Fruchtwasserpunktionen verringere – denn diese könnten im schlimmsten Fall zu einem Abort führen. Allerdings werde der Test diese Untersuchungen nicht ersetzen, weil bei einem positiven Testbefund eine invasive Nachuntersuchung erforderlich ist – darauf hat bereits das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen in seinem Abschlussbericht hingewiesen.
Schon im Juli forderten über 100 Politiker in einem überfraktionellen Positionspapier eine Ethikdebatte im Bundestag. Der Gesundheitsausschuss will im November das Thema auf die Tagesordnung setzen.
Prof. Woopen und Prof. Katzenmeier über widersprüchliche Standards
Berlin (pag) – Konflikte, die sich aus divergierenden medizinischen Standards ergeben, müssen angegangen werden. Dafür plädieren Prof. Christiane Woopen und Prof. Christian Katzenmeier. Für die Medizinethikerin und den Juristen ist das eine Frage der Verteilungsgerechtigkeit, über die man sich endlich verständigen sollte – doch die Politik scheut das Thema. Die Leidtragenden sind Ärzte und Patienten.
Mediziner, Ökonomen, Ethiker, Haftungs- und Sozialrechtler beurteilen den medizinischen Standard zum Teil recht unterschiedlich. Was bedeutet das für den behandelnden Arzt?
Woopen: Er ist den verschiedenen Ansprüchen ausgesetzt. Er will seinem ärztlichen Ethos gerecht werden und für den Patienten das Beste tun. Dieser kommt mit bestimmten Wünschen und Erwartungen auf ihn zu, die es zu berücksichtigen gilt. Der Arzt unterliegt gleichzeitig den Rahmenbedingungen, die ihm das Sozialrecht vorgibt. Außerdem hat er eigene wirtschaftliche Interessen oder Notwendigkeiten. Im Gesundheitssystem trägt der Arzt bei Fragen der Zugangs- und Verteilungsgerechtigkeit eine Verantwortung. Nicht zuletzt muss er darauf achten, dass er haftungsrechtlich nicht zur Rechenschaft gezogen wird.
Katzenmeier: Diesen zum Teil divergierenden Anforderungen kann ein Arzt kaum noch gerecht werden. Er gerät zunehmend in Bedrängnis und ist moralisch überfordert.
Das dürfte auch Auswirkungen auf das Arzt-Patienten-Verhältnis haben?
Woopen: Der Umstand, dass sich der Arzt nicht ausschließlich auf medizinische und psychosoziale Faktoren konzentriert, sondern auch wirtschaftliche Erwägungen berücksichtigen muss, kann das vertrauensvolle Arzt-Patienten-Verhältnis untergraben. Der Patient fragt sich, ob ihm wirklich die für ihn beste Therapie angeboten wird. Und der Arzt dürfte ihm auch nicht vorenthalten, wenn es eine Behandlung gibt, die ihm möglicherweise nutzen könnte, die aber von der gesetzlichen Krankenversicherung nicht übernommen wird. Informiert er den Patienten nicht darüber, nimmt er ihm eine Entscheidungsmöglichkeit, nämlich die Therapie aus eigener Tasche zu bezahlen, falls er dafür die Mittel hat.
Wie kann man das heilen?
Katzenmeier: Man könnte versuchen, das Problem durch die Statuierung zusätzlicher Aufklärungs- und Informationspflichten zu lösen. Damit stellt man Transparenz her, der Patient weiß, welche Leistungen nicht in der GKV abgerechnet, aber von ihm möglicherweise privat finanziert werden können. Die Lösung ist freilich nicht unproblematisch. Langfristig kann dadurch eine Zwei-Klassen-Medizin befördert werden. Und sie birgt die Gefahr, dass die Vertrauensbeziehung zwischen Arzt und Patient sich weiter wandelt in eine reine Geschäftsbeziehung.
Von noch mehr Aufklärungspflichten dürften Ärzte nicht begeistert sein. Haben Sie weitere Lösungsansätze diskutiert?
Katzenmeier: Ein Patentrezept haben wir nicht gefunden, haben das aber auch nicht erwartet. Wir möchten die Diskussion entfachen, das Bewusstsein für die Problematik stärken und verschiedene Ansätze aufzeigen. An sich müssten die Politik und die Entscheidungsträger im Gesundheitswesen um eine Lösung bemüht sein. Stattdessen wird bis heute schlicht immer wieder behauptet, eine Rationierung finde nicht statt. Das ist falsch, natürlich wird im Gesundheitswesen rationiert.
Das dürfte der Gesundheitsminister aber vehement bestreiten.
Katzenmeier: Nicht nur der aktuelle. Alle Gesundheitsminister, egal welcher Partei sie angehören, scheuen das Thema wie der Teufel das Weihwasser. Verständlicherweise, denn das Eingeständnis, dass die Mittel begrenzt sind und man eben nicht jedem in jeder Situation alles angedeihen lassen kann, ist potenziell wahlentscheidend.
Momentan ist der Druck angesichts voller Kassen wahrscheinlich nicht übermäßig groß.
Katzenmeier: Richtig, aber sobald die nächste Krise kommt, wird sich dieses Problem verschärfen. Dann sind Konzepte für den Umgang mit der Knappheit unausweichlich.
Woopen: Die Politik prozeduralisiert die Probleme, beispielweise mit der frühen Nutzenbewertung und den Preisverhandlungen zu neuen Arzneimitteln. Auf dieser Ebene wird versucht, Kostenströme zu kontrollieren. Aber es bleibt in gewisser Weise intransparent für die Öffentlichkeit. Und Intransparenz fördert Vertrauensverlust, wobei das Vertrauen in das hiesige Gesundheitswesen noch recht gut ist. Man meckert sicherlich auf hohem Niveau, wenn man hier von Missständen spricht. Dennoch gibt es Bereiche, wo strukturell Fragen von Verteilungsgerechtigkeit verletzt werden, was implizit eine Rationierung bedeutet. Die Menschen bekommen nicht das, was ihnen eigentlich zustünde.
Können Sie Beispiele nennen?
Woopen: Betrachtet man einzelne Patientengruppen, so stellt man fest, dass etwa Kinder und Jugendliche nicht ausreichend gut behandelt werden. Auch alte, multimorbide Menschen werden im Krankenhaus nicht angemessen versorgt, weil man dort der Komplexität ihrer Lage nicht gerecht wird. In aller Regel werden Menschen mit Demenz in einem Akut-Krankenhaus nicht ihrem Bedarf gemäß versorgt, ebenso Menschen mit Behinderungen.
Ärzte beklagen zunehmend eine Ökonomisierung, eine Vorrangstellung ökonomischer Kriterien vor medizinischen bei der Behandlung. Zu Recht?
Woopen: Mir wurde von angehenden Medizinern berichtet, dass ihnen bereits im Studium von an sich geeigneten Therapien abgeraten worden sei, wenn sich diese nicht gut abrechnen lassen. Für diese Steuerung – dass wirtschaftliche Kriterien den Ausschlag geben – wird bereits im Studium ein Bewusstsein gebildet. An den wirtschaftlichen Kriterien selbst wird nicht ausreichend gearbeitet, obgleich die sprechende Medizin zumindest in der ärztlichen Gebührenordnung wohl künftig stärker berücksichtigt werden soll. Jedes Vergütungssystem bringt irgendeinen Anreiz mit sich. Es liegt abgesehen von Machtstrukturen letztlich an der Haltung derjenigen, die es umsetzen, dies auf eine Art und Weise zu tun, die dem Patientenwohl nicht abträglich ist.
Wie sieht es mit den rechtlichen Konsequenzen aus: Ist es realistisch, dass ökonomische Erfordernisse, denen Ärzte im Sozialrecht, sprich in der GKV, unterliegen, bei der haftungsrechtlichen Rechtsprechung berücksichtigt werden?
Katzenmeier: Wir haben die Rechtsprechung der Zivilgerichte über Jahrzehnte analysiert und vereinzelte Fälle festgestellt, in denen sozialrechtliche Wirtschaftlichkeitspostulate bei der Bestimmung der erforderlichen Sorgfalt vage angedeutet wurden. Letzten Endes aber spielen sie in der Haftungsrechtsprechung keine Rolle. Grund für die Divergenz ist die Zweigleisigkeit der Gerichtsbarkeit: auf der einen Seite die Zivilgerichte, auf der anderen die Sozialgerichte. Zwischen den obersten Instanzen, dem Bundesgerichtshof und dem Bundessozialgericht, fand bisher so gut wie keine Kommunikation statt. Allerdings haben wir inzwischen einen hoffnungsvollen Anfang beobachtet.
Inwiefern?
Katzenmeier:Vor ein paar Jahren fand in der deutschen Richterakademie ein Treffen statt, bei dem Mitglieder der beiden Bundesgerichte sich über dieses Thema austauschten. Diesen Ansatz gilt es fortzusetzen. Auch wenn die Rechtsprechung des VI. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs, das ist der zuständige Arzthaftungs-Senat, sozialrechtliche Maßgaben bis heute nicht explizit berücksichtigt, so scheinen die Senatsmitglieder doch sensibilisiert zu sein.
Woran machen Sie das fest?
Katzenmeier: Es hat keine weitere Verschärfung der Arzthaftung stattgefunden, wie das über Jahrzehnte zu beobachten war. Die Richter haben in jüngerer Zeit, wohl auch mit Rücksicht darauf, dass der Bogen nicht überspannt werden darf, etwas Einhalt geboten.
Gibt es denn viele Fälle von Ärzten, die verurteilt wurden, weil sie aus GKV-Rücksichtnahme weniger gemacht haben, als sie hätten machen sollen?
Katzenmeier:Die Zahl der Fälle, in denen das vor Gericht hart ausgetragen wurde, ist noch sehr gering. Doch werden Streitigkeiten zunehmen, wenn die öffentlichen Kassen nicht mehr so gefüllt sind.
Woopen: Man könnte dann etwa darüber nachdenken, dass die Gutachter ausdrücklich die ökonomischen Einflüsse, die sich zum Teil sehr subtil in üblichen Behandlungen und in institutionellen Rahmenbedingungen etwa innerhalb eines Krankenhauses niederschlagen, mit diskutieren. Wenn sie das reflektierten, wäre zumindest ein Schritt in Richtung Bewusstseinsbildung und Transparenz getan.
Sie sehen skeptisch aus, Herr Katzenmeier.
Katzenmeier:Ich wäre vorsichtig. Wenn medizinische Sachverständige ökonomische Gesichtspunkte in den Haftungsprozess hineintragen, kann das auf der Richterbank eine Gegenreaktion provozieren. Deswegen würde ich eher bei der Formulierung der Leitlinien ansetzen und überlegen, ob und wie dort Kostenaspekte mitberücksichtigt werden können. Leitlinien nehmen die Richter zur Hand, um das Sachverständigengutachten abzuklopfen.
Woopen: Kostenbezogene Leitlinien finde ich im Einzelfall schwer umzusetzen. Zum Beispiel verändern sich die Preise von Arzneimitteln. Aus Kliniken hört man zudem, dass bei derselben Erkrankung ältere Menschen andere Medikamente bekommen als jüngere. Die Begründung: Bei einem 80-Jährigen sei es nicht so dramatisch, wenn er – vielleicht für eine weniger aggressive Therapie – weniger Lebensjahre dazugewinnt als bei einem 40-Jährigen. Das kann man auch anders sehen. Fakt ist, dass es sich um eine eingeführte Praxis handelt, die sich aber schwerlich in Leitlinien wiederfindet.
In Ihrer Gruppe haben Sie auch darüber diskutiert, ob man die aufwändig generierten, sozialrechtlichen Standards der Haftungsrechtsprechung zur Adaption empfiehlt.
Katzenmeier:Das stimmt. Allerdings sehen wir auch insoweit Schwierigkeiten, nicht zuletzt, was die demokratische Legitimation des Gemeinsamen Bundesausschusses anbelangt, der die sozialrechtlichen Standards erarbeitet.
Würde das Haftungsrecht stärker für ökonomische Gegebenheiten geöffnet, könnte es weiterhin seiner Schutzfunktion zugunsten der Betroffenen gerecht werden?
Katzenmeier: Es geht nicht darum, den Patientenschutz oder die Patientenrechte zu verkürzen. Es geht im Gegenteil um die Frage, wie sichergestellt werden kann, dass möglichst viele kranke Menschen mit den verfügbaren Ressourcen möglichst gut versorgt werden. Das ist eine Frage der Verteilungsgerechtigkeit. Darüber müssen wir uns verständigen.
Wo findet diese Verständigung in Zukunft statt?
Woopen: Mit einem Gesetz lässt sich das schlecht lösen. Das Thema wird an verschiedenen Orten verhandelt werden, weil auf der institutionellen Ebene keine Brücke zwischen den unterschiedlichen Anforderungen existiert. Die Auseinandersetzung kann in einer Klinik stattfinden oder in einer Praxisgemeinschaft, im Gemeinsamen Bundesausschuss und im Ministerium. Oder auch in den Gerichten. Unser Anliegen ist zunächst, dass nicht länger weggeguckt und das Verständnis für die Konflikte gestärkt wird._
ZUR PERSON: DIE ETHIKERIN UND DER JURIST
Prof. Christiane Woopen: Die ehemalige Vorsitzende des Deutschen Ethikrates ist an der Universität zu Köln Direktorin von ceres (Cologne Center for Ethics, Rights, Economics, and Social Sciences of Health). Sie war Mitglied im „International Bioethics Committee“ der UNESCO und ist Vorsitzende des Europäischen Ethikrates (EGE). Woopen studierte Humanmedizin und Philosophie.
Prof. Christian Katzenmeier ist Direktor des Instituts für Medizinrecht der Universität zu Köln. Er veranstaltet seit 2008 die „Kölner Medizinrechtstage” und gibt die „Kölner Schriften zum Medizinrecht“ heraus. Außerdem ist er Schriftleiter der Zeitschrift „Medizinrecht“ und Mitherausgeber des „Heidelberger Kommentar Arztrecht-Krankenhausrecht-Medizinrecht“. Woopen und Katzenmeier leiten die von der Fritz Thyssen Stiftung geförderte interdisziplinäre Forschergruppe zu Medizin und Standard.
Die Kluft zwischen medizinisch Machbarem und praktisch Finanzierbarem
Berlin (pag) – Der medizinische Standard ist wichtig für die individuelle Behandlung des Patienten, aber auch für eine gute und gerechte Versorgung. Das Problem: Mediziner bestimmen ihn anders als Ökonomen oder möglicherweise Ethiker. Besonders heikel wird es für den Arzt, wenn Anforderungen des Haftungs- und des Sozialrechts kollidieren. Eine Tagung in Berlin zeigt, dass der Austausch zwischen den Disziplinen überfällig, aber auch sehr mühsam ist.
Mit den verschiedenen Lesarten des medizinischen Standards hat sich eine von Prof. Christiane Woopen und Prof. Christian Katzenmeier geleitete Expertengruppe beschäftigt. Ihre Arbeit stellt die Gruppe auf einer Tagung in Berlin vor.
Keine Patentlösung habe man gefunden, dämpft Katzenmeier die Erwartungen. Wichtig sei es, das Problembewusstsein zu schärfen. Entsprechend eindringliche Worte findet der Jurist in seinem Vortrag – um so bedauerlicher, dass sich kaum ein politischer Vertreter auf der Veranstaltung blicken lässt, in deren Mittelpunkt insbesondere die Divergenzen zwischen Sozial- und Haftungsrecht stehen. Dabei handelt es sich um kein akademisches Problem, denn die Spannungen zwischen Sorgfalts- und Wirtschaftlichkeitserwägungen bedrängen den Arzt und wirken sich nachteilig auf die Patientenversorgung aus, lautet der Tenor der Veranstaltung.
Die Kluft zwischen „Verheißung und Erfüllung“
Katzenmeier führt aus, dass sich das Haftungsrecht am medizinisch Machbaren orientiere und damit tendenziell die optimale Behandlung verlange. Dem gegenüber dürfen nach Sozialversicherungsrecht Leistungen nur erbracht werden, wenn sie notwendig und wirtschaftlich seien. Er formuliert die brisante Frage: „Wenn die Finanzierung des medizinischen Standards durch Krankenkassen nicht mehr gesichert ist, kann die Rechtsordnung den Arzt verpflichten, Maßnahmen zu treffen, die er möglicherweise nicht liquidieren kann?“
Bei den derzeit vollen Kassen würden zwar gegenwärtig nur selten derartige Fälle vor Gericht ausgetragen, das werde sich aber in Zukunft ändern, prophezeit der Rechtswissenschaftler. Angesichts des Kostenanstiegs, der begrenzten finanziellen Ressourcen und des medizinischen Fortschritts sieht er im Gesundheitswesen eine Kluft zwischen dem in der Medizin theoretisch Machbaren und dem praktisch Finanzierbaren – „eine Kluft zwischen Verheißung und Erfüllung“. Der Arzt werde in Zukunft bei seiner Indikationsstellung mehr als bisher nicht nur den Nutzen für den individuellen Kranken, sondern auch die gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen zu bedenken haben.
Priorisierung anstelle verdeckter Rationierung
Rationierungen hält Katzenmeier für unumgänglich. Allerdings sei der Arzt vor Ort, der über Heilung oder Rettung eines konkreten Menschenlebens entscheide, von der Vorenthaltung effektiver medizinischer Leistungen moralisch überfordert. Der Ort der Entscheidung sei dafür der gesundheitspolitische Diskurs. Anstelle der derzeit praktizierten verdeckten Rationierung spricht sich der Experte für ein priorisierendes Verfahren aus. Dieses könnte mehr Transparenz, Rationalität, Nachvollziehbarkeit und Akzeptanz in die Patientenversorgung tragen.
Auffällig ist, dass auf der Tagung die größten Gefechte nicht zwischen Ethikern und Ökonomen oder Ärzten und Juristen ausgetragen werden, sondern innerhalb der rechtswissenschaftlichen Zunft. Besonders weit liegen die Vorstellungen des Sozialrechtlers Prof. Thorsten Kingreen, Universität Regensburg, und des Justiziars des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA), Dr. Dominik Rothers, auseinander.
Verfassungsrechtlich heikel
Kingreen zufolge kann die Diskrepanz zwischen sozialrechtlichem und haftungsrechtlichem Standard in ein verfassungsrechtliches Dilemma führen. „Es ist verfassungsrechtlich heikel, wenn ein Arzt wegen einer Behandlung in Anspruch genommen werden würde, zu der er zwar nach den Maßstäben der Leitlinien haftungsrechtlich verpflichtet war, die er aber krankenversicherungsrechtlich wegen fehlender Wirtschaftlichkeit gar nicht erbringen dürfte.“ Er warnt davor, diese Diskrepanz durch Aufklärungspflichten des Arztes zu minimieren, denn damit würde das Spannungsverhältnis ins Arzt-Patienten-Verhältnis abgeschoben. Auch die Idee, den krankenversicherungsrechtlichen Standard zum Maßstab für das Haftungsrecht zu machen, ist aus Kingreens Sicht problematisch – wegen der umstrittenen demokratischen Legitimation des G-BA. Der Justiziar des Ausschusses hält dagegen ein problematisches Auseinanderfallen der sozial- und haftungsrechtlichen Standards für konstruiert. Die Diskrepanz führe nicht zu Problemen, da beide aus der gleichen Quelle, der Evidenzbasierten Medizin, schöpften.
Sprachprobleme und implizite ökonomische Einflüsse
In der Diskussion konstatiert Prof. Ina Kopp, Leitlinienexpertin der Arbeitsgemeinschaft Medizinisch Wissenschaftlicher Fachgesellschaften, ein Sprachproblem, das eine Verständigung zwischen den Disziplinen erschwere: In der Medizin werde – etwa bei der Leitlinienarbeit – nie vom Standard gesprochen, „wir sprechen immer von der Qualität“. Zwischen dem, was in der Medizin im Sinne der Qualität als Nutzen bewertet werde, und dem, was der G-BA allein schon aus Machbarkeitsgründen in Richtlinien gießen könne, bestehe „ein Delta“.
Ein weiteres Thema sind implizite ökonomische Einflüsse. Für den Gesundheitsökonomen Prof. Jürgen Wasem sind fehlende gesundheitsökonomische Evaluationen bei der Messung des Standards einer der Gründe dafür, dass der G-BA Gefahr laufe, bei der Nutzenbewertung implizite ökonomische Erwägungen anzustellen. „Nur verbirgt er das in einer entsprechenden Ausgestaltung der Nutzenbewertung.“ Wasem mahnt eine bessere Transparenz über Kosten an, „sonst lügen wir uns als Gesellschaft in die Tasche“.
Vera von Pentz, Richterin am Bundesgerichtshof und stellvertretende Vorsitzende des VI. Zivilsenats, warnt vor einer ökonomischen Infiltration der haftungsrechtlichen Sorgfaltsanforderungen. „Bei uns im Senat haben wir den Eindruck, dass der Standard schleichend herabgesetzt wird.“ Das passiere, wenn der medizinische Sachverständige eine Leistung als nicht mehr geboten bewertet, weil sie in der GKV nicht ersatzfähig sei und deswegen immer seltener praktiziert werde. Lege er das im Gutachten nicht offen, hätten die Richter keine Chance zu erkennen, dass die haftungsrechtlich maßgeblichen Sorgfaltsanforderungen von dem geringeren sozialrechtlichen Standard beeinflusst wurden. Es vollziehe sich eine Konvergenz der Standards – ohne dass jemand, mit Ausnahme des Sachverständigen, eine Entscheidung getroffen hat.
„Das ist ungut“, sagt Vera von Pentz.
Der Arzt: „Der Patient ist nicht standardisierbar“ Prof. Hans-Detlev Saeger, ehemaliger Direktor der Klinik für Viszeral-, Thorax- und Gefäßchirurgie an der Uniklinik Dresden „Der Standard braucht Konstanten – aber welche?“, fragt Saeger. Er nennt unter anderem die Stichwörter Evidenzbasierte Medizin, Leitlinien, Qualitätssicherung, wertbasierte Medizin, aber auch das Wirtschaftlichkeitsgebot. Die personalisierte Medizin mache die Ermittlung eines Standards nicht leichter. Der Arzt betont, dass auch Abwarten – „und nicht gleich die Knieendoprothese hinein zu hämmern“ – oder sogar das Auslassen einer Therapie in bestimmten Situationen Standard sein können. Grundsätzlich gilt: „Der Patient ist nicht standardisierbar.“
Der medizinische Gutachter: Operieren auf der Lernkurve Prof. Hans-Friedrich Kienzle, Chefarzt der Chirurgischen Klinik Köln-Holweide i.R.
Aus Sicht des medizinischen Gutachters geht es darum, den Standard für den konkreten Einzelfall zu ermitteln. „Im Gutachten werden Standards geprüft, nicht entwickelt“, sagt er. Bei der Prüfung spielen der Facharztstandard, Richt- und Leitlinien und Dokumentation eine Rolle. „Ein Riesenproblem“ stelle ein Standard in Entwicklung dar, sagt Kienzle – wenn beispielsweise neue Operationsmethoden verwendet werden, die aber noch nicht flächendeckend zum Einsatz kommen. In solchen Fällen spiele die Aufklärung eine besonders wichtige Rolle. Eng damit ist das Problem der Lernkurve verbunden. Die rhetorische Frage des Gutachters: „Wer möchte auf der Lernkurve operiert werden?“
Die Sozialrichterin: „Der Einzelfall kann aus dem Blick geraten“ Dr. Anne Barbara Lungstras, Richterin am Sozialgericht Berlin
Der Standard wird vor Sozialgerichten meist dann relevant, wenn es darum geht, welche neuen Therapien zulasten der GKV erbracht werden dürfen. Am Beispiel der Kopforthese stellt die Richterin den Konflikt zwischen dem, was der Arzt rät, und dem, was die Krankenkasse zahlt, dar. Das Qualitätsgebot und Wirtschaftlichkeitsgebot bildeten die Pfeiler der Standardsetzung im Sozialgesetzbuch V. Der Standard werde nicht von Fall zu Fall durch den einzelnen Arzt festgelegt, sondern durch eine Vorabentscheidung. „Der Einfall kann aus dem Blick geraten“, räumt die Richterin ein. Ausnahmeregelungen – „Nikolaus-“, Seltenheits- und Systemversagensfälle – dienten der „Abfederung“. Mengenbegrenzende Maßnahmen haben Lungstras zufolge nichts mit der Standardbestimmung im SGB V zu tun, sie schränkten den GKV-Leistungskatalog in keiner Weise ein.
Der Haftungsrichter: Der Handlungskorridor eines Arztes Wolfgang Frahm, Vorsitzender Richter am Oberlandesgericht Schleswig
Zur Ermittlung des Standards nennt Frahm folgende Kriterien: Sorgfalt des Arztes, konkrete Behandlungssituation, individuelle Bedürfnisse des Patienten, der Zeitpunkt (ex ante), fachliche Erkenntnisse und Erfahrung sowie die Eingrenzung auf das betreffende Fachgebiet. Der Richter betont, dass sich der Arzt in einem Korridor bewegen dürfe – vom Goldstandard bis hin zur noch ausreichenden Behandlung. Vor Gericht spielen Sachverständige eine wichtige Rolle; wichtig sei bei ihnen Fachgleichheit, überragende Sachkunde, Objektivität, Unbefangenheit. Richtlinien des G-BA lässt der Bundesgerichtshof Rechtsnormqualität zukommen, sagt Frahm. „Was dort steht, ist Mindeststandard – auch für Privatversicherte.“
Die Ethikerin: Behandlungsbündnis zwischen Arzt und Patient Prof. Christiane Woopen, ceres Universität zu Köln
Als zentral stellt Woopen das Patientenwohl heraus. Dafür hat der Deutsche Ethikrat drei Elemente bestimmt: selbstbestimmungsermöglichende Sorge, gute Behandlungsqualität sowie Zugangs- und Verteilungsgerechtigkeit. Arzt und Patient bildeten ein „Behandlungsbündnis“. Die Ethikerin wünscht sich, dass dieser Umstand bereits bei der Forschung berücksichtigt wird, etwa bei der Definition von Outcome-Parametern. Nutzenbewertungen, Leitlinien und Co., auf deren Grundlage der medizinische Standard erarbeitet werde, griffen in dieser Hinsicht noch zu kurz, kritisiert sie. „Für die Ethik sind die Patientenpräferenzen von vornherein genuiner Bestandteil dessen, was in einen medizinischen Standard einfließen sollte.“ Essenziell sei die Aufklärung der Patienten über mögliche Behandlungsalternativen.
Der Ökonom: Die Illusion, nicht zu rationieren Prof. Jürgen Wasem, Universität Duisburg-Essen
Nach der reinen gesundheitsökonomischen Lehre müsste bei der Entscheidung, ob neue Leistungen von der GKV erstattet werden, ein Abgleich zwischen gesellschaftlicher Zahlungsbereitschaft für Innovationen und deren Kosten-Nutzen-Relation vorgenommen werden. Das übliche Outcome-Maß seien dafür QALYs. Bei deren Ermittlung könnten gesellschaftliche Vorstellung von Gerechtigkeit durch Gewichte berücksichtigt werden. Hierzulande gebe es allerdings keine Schwellenwerte für die gesellschaftliche Zahlungsbereitschaft. Wasem appelliert: „Wir brauchen Ergebnisse ökonomischer Evaluation als Informationsgrundlage für einen qualitativen gesellschaftlichen Entscheidungsprozess.“ Bedauerlich sei, dass faktisch keine vernünftige gesundheitsökonomische Evaluation bei der Messung des Standards gemacht werde. „Das vermittelt die Illusion, wir rationieren nicht und machen alles.“
Berlin (pag) – Respektlose Ansprachen dieser Art sind noch immer weit verbreitet, kritisiert Prof. Ursula Lehr von der Bundesarbeitsgemeinschaft der Senioren-Organisationen (BAGSO) auf einer Veranstaltung des Hauptstadtkongresses zum Thema Menschenwürde.
In ihrem Vortrag geht die ehemalige Bundesministerin insbesondere auf die Bedeutung des subjektiven Gesundheitszustandes ein. Zwischen ihm und dem Wohlbefinden im Alter sowie Langlebigkeit bestehe Studien zufolge eine enge Korrelation. Der subjektive Gesundheitszustand werde entscheidend durch das Verhalten der Ärzte und des Pflegepersonals mitbestimmt, unterstreicht die Seniorenvertreterin. „Versteht man den Arzt nicht ganz, deutet man das gerne zum eigenen Ungunsten um. “ Ärzte sollten nicht nur die Begrenzungen durch Krankheiten ansprechen, sondern auf verbleibende Möglichkeiten hinweisen.
Ein würdevoller Umgang sei eine Frage der inneren Haltung, werde aber auch durch die Arbeitsbedingungen mitbestimmt, zeigt sich Uwe Kropp, Pflegedirektor des Evangelisches Krankenhaus Königin Elisabeth Herzberge, überzeugt. „Für die notwendige innere Haltung bedarf es nicht mehr Personal.“ Es liege an einem persönlich, ob man sagt: „Die Niere von Zimmer sechs.“ Es werde keine Zeit gespart, wenn man den Namen des Patienten durch die Diagnose ersetze. Kropp hebt aber auch hervor: „Um Menschenwürde in allen Bereichen lebbar zu machen, brauchen wir mehr Menschen, die entlastend mitwirken können.“ Die Politik habe aktuell einiges für eine angemessene Personalstruktur der Pflege auf den Weg gebracht, anhand einiger Zahlen verdeutlicht Kropp indes auch den hiesigen Nachholbedarf. In Deutschland sei eine Pflegekraft in der Regel für zehn Patienten zuständig, in Großbritannien für acht, in der Schweiz für sechs, in den Niederlanden für fünf und in Norwegen für vier.
Der Präsident der Berliner Ärztekammer, Prof. Günther Jonitz, betont die politische Dimension des Themas Menschenwürde. Grundsätzlich kritisiert er das Primat der Ökonomie, speziell die Einführung der Diagnosis Related Groups (DRG) stelle einen Sündenfall dar. „Dadurch sind Patienten flächendeckend zur Nummer geworden“, so der Mediziner. Statt Deckelung und Dezimierung gelte es, die Versorgung zu optimieren. Notwendig dafür seien gemeinsame Verantwortung, eine kluge politische Führung „… und wenn wir es richtig hinkriegen, greifen wir das Thema ‚value based healthcare‘ auf … da finden sich dann auch die Ökonomen wieder“.
Berlin (pag) – Über Eizellspende im Ausland und Konsequenzen dieser Praxis im Inland hat kürzlich der Deutsche Ethikrat diskutiert. Zur Diskussion stellt der Ratsvorsitzende Prof. Peter Dabrock dabei folgende Frage: „Ist es eigentlich fair und nachvollziehbar, wenn wir Samen- und Embryospende erlauben oder als rechtlich möglich ansehen und die Eizellspende verbieten?“
Immer wieder nehmen Paare Angebote von Kliniken im Ausland wahr, um ihren Kinderwunsch mithilfe von Reproduktionstechnologien zu erfüllen, die in Deutschland verboten sind. Dazu gehört auch die Eizellspende. Bei der Veranstaltung des Ethikrates setzen sich Experten mit Gerechtigkeitsproblemen dieser Praxis auseinander.
Ratsmitglied Dr. Petra Thorn berät als Paar- und Familientherapeutin Frauen und Paare auch zu Fragen der Eizellspende. Sie erläutert, weshalb die Eizellspende ein sehr umstrittenes Verfahren sei: Die Spenderinnen gingen aufgrund des erforderlichen medizinischen Eingriffs ein Risiko für die eigene Gesundheit ein. „Zwischen den Empfängerpaaren und den Spenderinnen besteht ein Einkommensgefälle, und viele Frauen spenden wahrscheinlich nicht nur aus altruistischen, sondern auch finanziellen Gründen.“ Die Weltkarten der internationalen Reproduktionsmedizin seien stark in Bewegung geraten, berichtet die Ethnologin Prof. Michi Knecht, Universität Bremen. Auf Basis ökonomischer und rechtlicher Asymmetrien entständen große kommerzielle Märkte. Man müsse sich fragen, so Knecht, ob durch Reproduktionsmobilität „reicher“ Frauen und Paare die Gesundheitsrisiken auf Frauen in Ländern mit niedrigeren Einkommen verschoben würden und ob eine restriktive nationale Gesetzgebung wie die deutsche – wenngleich unbeabsichtigt – zur Folge habe, dass Ausbeutungsrisiken in andere Länder verlagert würden. Die Philosophin PD Dr. Susanne Lettow, Freie Universität Berlin, verlangt daher, bei den mit „reproduktiven Reisen“ verbundenen ethischen Fragen auch die Situation der Eizellspenderinnen im Ausland einzubeziehen. Aus Sicht der Medizinethikerin Prof. Claudia Wiesemann wirft das transnationale reproduktive Reisen ein massives Gerechtigkeitsproblem auf. Konkret nennt die stellvertretende Ratsvorsitzende die gesundheitliche Versorgung der Spenderinnen, die Nichtverfügbarkeit des Verfahrens für finanziell schwächer gestellte Paare hierzulande sowie die Ungleichbehandlung von Samen- und Eizellspende in Deutschland. Für konsequent hält sie es daher, das Verbot der Eizellspende im Embryonenschutzgesetz aufzuheben.