Neue Therapieprinzipen – altes System

Über die Notwendigkeit innovativer Finanzierungsmodalitäten

© ggebl, Fotolia.com, Bearbeitung: pag, Anna Fiolka

Berlin (pag) – Die neuen CAR-T-Zelltherapien gelten als neuer Meilenstein in der Krebsbehandlung. Kann die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) dieses Tempo mitgehen? Das diskutieren Experten kürzlich auf einer Veranstaltung des Forum Instituts. Fest steht: Das System muss sich auf die Modalitäten neuer Therapieprinzipen einstellen.

Von einer neuen Ära der Krebsmedizin ist die Rede, als die beiden ersten CAR-T-Zelltherapien im vergangenen Jahr in Europa zugelassen werden. Kymriah® und Yescarta® heißen sie. Für die Therapie kommen etwa 1.400 bis 1.600 Blutkrebspatienten pro Jahr in Betracht, heißt es seitens der Krankenkassen. Konkret geht es um austherapierte Patienten, die an aggressiven Varianten von Leukämie und Lymphomen erkrankt sind. Das Besondere an den neuen Präparaten sind den Studien zufolge die hohen Heilungschancen und der Umstand, dass sie nur einmal verabreicht werden müssen – und zwar im Krankenhaus. Dort können die möglichen schweren Nebenwirkungen intensivmedizinisch überwacht werden. Bei Kymriah® liegen die Therapiekosten, so steht es im Dossier des Herstellers Novartis, bei 380.800 Euro pro Patient. Hinzu kommen noch weitere Zusatzleistungen von bis zu 23.751 Euro.

Kymriah® – eine der neuen CAR-T-Zelltherapien. Das Besondere: Das Arzneimittel muss nur einmal verabreicht werden bei gleichzeitig hohen Heilungschancen. Die Therapiekosten, so steht es im Dossier des Herstellers Novartis, liegen bei 380.800 Euro pro Patient. © Novartis
Kymriah® – eine der neuen CAR-T-Zelltherapien. Das Besondere: Das Arzneimittel muss nur einmal verabreicht werden bei gleichzeitig hohen Heilungschancen. Die Therapiekosten, so steht es im Dossier des Herstellers Novartis, liegen bei 380.800 Euro pro Patient. © Novartis

Die beiden CAR-T-Zellpräparate gehören zu den Immunonkologika und werden von der Europäischen Arzneimittelagentur als Gentherapien eingestuft. Einer kürzlich veröffentlichten IGES-Studie zufolge wird die Zahl genetischer Therapien in den kommenden Jahren stark zunehmen. Viele von ihnen zeichneten sich durch eine Langwirksamkeit aus, konkret sollen 42 solcher (Einmal-)Therapien kurz vor der Marktreife stehen. Aufhorchen lassen hat der Hinweis aus der Studie, dass sich auch drei Gentherapien gegen Volkskrankheiten, wie etwa Arthrose, in der Entwicklung befinden. Damit verbunden wären ganz andere Dimensionen, sowohl was die Patientenzahlen als auch was die Kosten betrifft.

Gentherapie für Volkskrankheiten?

Skeptisch gegenüber solchen Prognosen zeigt sich auf der Forum-Veranstaltung Dr. Siegfried Throm, Geschäftsführer Forschung, Entwicklung und Innovation beim Verband forschender Pharma-Unternehmen (vfa). Er kommt anstelle der von IGES genannten über 40 kurz vor der Marktreife stehenden Therapien nur auf etwa die Hälfte. Für die Gentherapien zur Behandlung von peripherer arterieller Verschlusskrankheit, Herzinsuffizienz und Arthrose erwartet er in den nächsten Jahren keine Zulassung in Europa – und selbst wenn, würden dann nicht alle Arthrose-Patienten mit einer Gentherapie behandelt, „das ist einfach Unfug“, sagt er. Angesichts der hohen Kosten und starken Nebenwirkungen von Gentherapien stimmt ihm Dr. Antje Haas vom GKV-Spitzenverband zu. Sie sagt aber auch: „Wenn Therapien machbar und verträglich werden, ändern sich die Indikationseinschätzungen.“
Wie Throm in seinem Vortrag darstellt, befanden sich 2017 hierzulande 26 Gentherapeutika in klinischen Studien, davon 19 in Phase III beziehungsweise Phase II/III. Bezogen auf CAR-T-Zelltherapieprojekte zählt der vfa-Vertreter fünf auf, die sich in den Prüfphasen I bis III befinden.

Gentherapien gegen Volkskrankheiten? Throm erwartet vorerst keine Zulassungen in Europa. © pag, Maybaum

Was sind ATMP – Advanced Therapy Medicinal Products?
Gentherapien, wozu auch CAR-T-Zelltherapien gehören, machen nur eine Untergruppe der sogenannten Advanced Therapy Medicinal Products, kurz ATMP, aus. Zu den Arzneimitteln für neuartige Therapien gehören außerdem medizinische Produkte auf Basis von Zellen (Zelltherapie) und Geweben (Tissue Engineering). Eine „sehr heterogene Produktgruppe“, sagt Dr. Throm. Von 2009 bis September 2018 waren zwölf ATMP in Europa zugelassen, wobei in vier Fällen die Zulassung zurückgenommen wurde oder ausgelaufen ist. Ihm zufolge laufen derzeit vier Zulassungsanträge für neue ATMP (Stand: Dezember 2018).

 

RSA-Logik und politische Entscheidungen

Die IGES-Studie belässt es nicht bei einem Überblick zu gentherapeutischen Behandlungen, die Autoren empfehlen, das GKV-Erstattungs- und Finanzierungssystem an die neuen Entwicklungen anzupassen. Wie das konkret funktionieren könnte, wird auf der Forum-Veranstaltung diskutiert. Dabei geht es insbesondere um den morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich (Morbi-RSA). Dieser ist, wie der Gesundheitsökonom Prof. Jürgen Wasem ausführt, auf chronische Erkrankungen mit kontinuierlichem Therapieverlauf ausgerichtet. Impulstherapien, bei denen anschließend eine längere Behandlungspause stattfindet oder gar keine Behandlung mehr erfolgt, brechen mit der Logik, dass chronische Erkrankungen kontinuierlich behandelt werden. Wasem stellt fest: „Therapien mit hohen Initialkosten und anschließender Nachbeobachtung gehen im aktuellen RSA mit negativen Anreizen für die Kassen im Vergleich zur Dauertherapie einher.“ Es sei eine politische Entscheidung, ob dieses Problem schwerwiegend genug sei, um dafür den Morbi-RSA zu verändern.

Risiko-Pool – „easy“ Lösung oder schlechteste Idee?

Eine solche Reform müsste dem Experten zufolge sowohl am prospektiven Charakter des RSA als auch bei den undifferenzierten Arzneimittelzuschlägen ansetzen. Als Alternative nennt der Ökonom ein Abschreibungsmodell, bei dem die hohen Initialkosten über ein mehrjähriges Zuweisungskonzept – über die „Abschreibungsdauer“ – ausgeglichen werden. Das sei zwar „theoretisch schick“, allerdings müssten auch dabei Modifikationen am prospektiven Modell vorgenommen werden. Außerdem erfordere jedes Medikament sein eigenes Modell hinsichtlich der jeweiligen Abschreibungsdauer. Als weitere Lösungsmöglichkeit hält Wasem die Wiedereinführung des Risikopools für „relativ easy“. Vor Einführung des Morbi-RSA wurden aus diesem gemeinschaftlichen Kassentopf 60 Prozent der Ausgaben für Versicherte finanziert, deren Kosten einen gewissen Schwellenwert überschritten. Für Dr. Ulf Maywald wäre dagegen die Einführung des Risikopools nach alter Couleur die „schlechteste Idee“. Chancen würden auf diese Weise privatisiert, Risiken dagegen sozialisiert, sagt der Geschäftsbereichsleiter Arznei- und Heilmittel der AOK Plus. Er stellt klar, dass für seltene Einmaltherapien gar keine Veränderungen nötig seien. CAR-T-Zelltherapien würden als Last-line-Therapie bei der Akuten Lymphatischen Leukämie zu „jedem“ Preis bezahlt. Der Knackpunkt sind für ihn Krankheiten, bei denen eine etablierte Standardtherapie existiere und die Gentherapie den Patienten für den x-fachen Preis „nur Convenience“ bringe.

Was passiert, wenn der Patient die Kasse wechselt?

Der AOK-Mann plädiert anstelle umfassender Morbi-RSA-Reformen für einen minimalinvasiven Ansatz: Ratenzahlung kombiniert mit Risk-Sharing. Letzteres löse das Problem, dass der Hersteller höhere Preisvorstellungen habe, als es die Zeit, für die er Effekte belegen kann, rechtfertige. Per Direktabrechnung zwischen Krankenkasse und pharmazeutischem Unternehmer könnte dieses Instrument bei der Therapieanwendung im Krankenhaus implementiert werden. Für die Kliniken, insbesondere kleine Häuser, entfalle dadurch das Liquiditätsrisiko, sie würden ferner von „Finanzdienstleistungen“ entlastet. Ebenso sprechen für die Kassen eine Reihe von Argumenten für diese Lösung, erläutert Maywald. Beispielsweise sei Risk-Share viel schwerer mit dem Hersteller zu erreichen, wenn der volle Preis am Tag eins gezahlt werde. Die Grenzen des Modells seien aber erreicht, wenn der Patient die Kasse wechselt. Dann stellt sich die Frage nach der Übertragbarkeit der Raten.

Haas: Verteilungsfairness organisieren

Auch Dr. Antje Haas vom GKV-Spitzenverband beschäftigt sich in ihrem Vortrag mit den Herausforderungen von Erstattungsbeträgen „diskontinuierlicher Therapien“, wie sie es nennt. Bei Krankheiten, bei denen sehr schnell feststehe, ob es der Patient geschafft habe oder nicht, ist es für sie vorstellbar, den Erstattungsbetrag so schnell anzupassen, wie sich die Performance des Arzneimittels nachweisen lässt – also in kurzen Rhythmen. Dafür könnten sowohl Einzelpatientendaten als auch Kohortendaten zugrunde gelegt werden. Bei erfolgsabhängigen Raten macht die Leiterin der Abteilung Arznei- und Heilmittel auf Abgrenzungsprobleme aufmerksam: Der Todesfall könne auch unabhängig von der Grunderkrankung eintreten, zum Beispiel durch eine Infektion durch Immunsuppression. Grundsätzlich sei die Messung des Erfolgs weniger ein Problem als vielmehr die Zuordnung des Erfolgs beziehungsweise des Misserfolgs, denn gerade bei Gentherapien spiele das Komplikationsmanagement einen mitentscheidenden Faktor. Die Erfolgsmeldungen müssten so organisiert werden, dass sie in die Verhandlungen eingehen können. Nicht banal: Der Datenschutz ist dabei ebenfalls zu beachten. Grundsätzlich gehe es darum, meint Haas, Verteilungsfairness zu organisieren. „Wir stehen da noch sehr am Anfang und werden Lehrgeld bezahlen müssen.“

 

Behandlungserfolg nicht durch handwerkliche Fehler zunichte machen, warnt Josef Hecken. © pag, Fiolka

Hecken zu Qualitätsfragen und Zugangswegen
Qualitätsanforderungen für die Anwendung komplexer Gentherapien wie CAR-T-Telltherapien sollte der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) nicht per Einzelbeschluss festlegen. Dies habe vielmehr durch eine allgemeinverbindliche Richtlinie nach Paragraf 92 zu erfolgen. Dafür macht sich der unparteiische G-BA-Vorsitzende Prof. Josef Hecken stark. Sein Argument: Damit werde der Behandlungserfolg, der möglicherweise durch die Therapie eintrete, nicht durch handwerkliche Fehler zunichte gemacht. Außerdem könne so die Lücke von sechs Monaten, bis der G-BA-Beschluss vorliegt, vermieden werden. Werden ATMPs als Arzneimittel eingeordnet, durchlaufen sie die frühe Nutzenbewertung, dies ist bei einer Einordnung als Behandlungsmethode nicht der Fall. Bei Arzneimitteln steht der pharmazeutische Charakter im Vordergrund, bei Behandlungsmethoden die komplexe Verabreichungsmethode. Wenn es nach Hecken ginge, durchliefen alle ATMPs den AMNOG-Weg – als Ausweg aus der Diskussion: „Wann ist die Verabreichung von mindestens gleicher Signifikanz für einen erfolgreichen Therapieausgang wie die aktive Wirkungsweise und das Wirkprinzip des Produktes?“

Wettbewerb um Gesundheit

Berlin – Wie weit darf der Wettbewerb im Gesundheitswesen gehen, wo liegen dessen Grenzen? Darüber debattieren Experten bei einer Veranstaltung der Stiftung Marktwirtschaft. Dort präsentiert sich Bundesgesundheitsminister Jens Spahn als „Freund des Wettbewerbs“, der aber auch betont: „Wettbewerb ist Mittel zum Zweck und nicht Selbstzweck“.

von links: Jens Spahn, Bundesminister für Gesundheit, Prof. Achim Wambach und Prof. Jürgen Wasem © Stiftung Marktwirtschaft, Kay Herschelmann

Spahn wirbt dafür, die guten Zeiten mit Kassenüberschüssen dafür zu nutzen, um Strukturen zu verändern, damit das „große Versprechen, das unsere Gesellschaft sich selbst gegeben hat“, aufrechtzuerhalten. Mit dem Versprechen meint er einen 100-prozentigen Zugang zu einer qualitativ hochwertigen medizinischen Versorgung – zeitnah und flächendeckend. Angesichts der Herausforderungen des demografischen Wandels und des medizinischen Fortschritts sei Wettbewerb ein wichtiges Mittel, um die Versorgungsqualität zu sichern und die begrenzen Mittel effizient einzusetzen. Falsch gemachter Wettbewerb führe jedoch zu Verwerfungen, warnt Spahn mit Blick auf umstrittene Kassenausschreibungen zu Inkontinenzprodukten. Auch gehe es im Gesundheitswesen nicht ohne ein wenig Planwirtschaft, so der Minister und nennt unter anderem das Stichwort Bedarfsplanung.

Den nicht existenten Wettbewerb der privaten Krankenversicherungen um Bestandskunden moniert Prof. Achim Wambach, Vorsitzender der Monopolkommission. Er beschreibt die private Krankenversicherung als einen „Markt mit angezogener Handbremse“. Das Problem der nicht portablen Altersrückstellungen müsse dringend angegangen werden, meint er. Schließlich sei es ein Skandal, Vermögen und Gesundheit in die Hände einer Versicherung zu geben, „von der ich gar nicht mehr wegkann“.

Zur gesetzlichen Krankenversicherung: Gesundheitsökonom Prof. Jürgen Wasem warnt davor, dass Wettbewerb in einem so extrem fragilen System Risiken und Nebenwirkungen hervorrufe. Er sei sich nicht mehr so sicher, „wie weit wir gehen können“. Eine zentrale Rolle beim Wettbewerb in der GKV spielt der morbiditätsorientierte Risikostrukturausgleich (Morbi-RSA). Dessen Reform kündigt Spahn für den Herbst an – „spätestens, wenn alle Gutachten vorliegen“. Grundsätzlich habe man mit diesem Instrument bereits viel erreicht, es zeige sich aber auch, dass es nicht ganz sotreffsicher funktioniere. Wasem wiederum erinnert an ein schlichtes Ziel des Morbi-RSA: „Risikoselektion vermeiden.“ Dafür sei der Morbi-RSA das geeignete Instrument. Andere Ziele – wie etwa Umverteilungsabsichten – sollten darüber nicht angestrebt werden, meint der Ökonom.

Den Lobby-Nebel beiseite blasen

„Presse-Club Gerechte Gesundheit“ debattiert über Morbi-RSA

Berlin (pag) – Rollenwechsel: Für einen Austausch zum Morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich (Morbi-RSA) hat Gerechte Gesundheit diejenigen aufs Podium gebeten, die üblicherweise darüber berichten: Vier renommierte Fachjournalisten der Hauptstadtpresse diskutieren im „Presse-Club“ über medienpolitische Lehrstücke, Unschärfen des Systems und fairen Wettbewerb.

Im Presseclub, von links: Andreas Mihm, Gerhard Schröder, Lisa Braun, Peter Thelen, Dr. Dieter Keller © pag, axentis.de, Lopata

 

Der Morbi-RSA ist schwere Kost, ist das den Lesern bzw. Hörern überhaupt zu vermitteln?

Schröder: Das Thema ist zwar sehr wichtig, weil es um einen Kerngedanken des Sozialstaates geht, nämlich dass alte und kranke Menschen den gleichen Zugang zu Gesundheitsleistungen haben wie junge und gesunde. Allerdings ist der Morbi-RSA so komplex, dass im Detail nicht erklärbar ist, an welchen Stellschrauben gedreht werden müsste, damit es gerechter wird. Die Versicherten interessiert vor allem, ob sie Gesundheitsleistungen bekommen – und nicht, wie das System im Detail funktioniert.

Sollten Versicherte die Finanzierungsgrundsätze der GKV überhaupt kennen? Was wissen sie darüber?

Keller: Die Kassenbeiträge werden direkt vom Gehalt abgezogen, den meisten Versicherten dürfte daher die genaue Höhe gar nicht bewusst sein. Wie viele sich tatsächlich zum Jahresende hinsetzen, wenn ihnen die Kasse mitteilt, dass sich der Zusatzbeitrag ändert, und bei anderen Kassen recherchieren? Ich weiß es nicht. Wir machen zum Jahresanfang immer eine Übersicht für die Kassen in Baden-Württemberg. Es gibt eine gewisse Bewegung der Versicherten, die sich aber in Grenzen hält. Eine Ausnahme stellt die Metzinger Betriebskrankenkasse dar.

Warum?

Keller: Sie ist die günstigste Krankenkasse im Bundesland und bundesweit. Die Mitgliederzahlen haben sich mehr als verzehnfacht, wozu unsere Berichte möglicherweise beigetragen haben. Absolut gesehen ist die Mitgliederzahl aller-dings nur von 2.000 auf 27.000 gestiegen. Jetzt wartet die ganze Branche darauf, dass sich die Kasse einen besonders teuren Patienten einfängt, der durch den RSA nicht ausgeglichen wird.

Das Konstrukt Morbi-RSA ist auch Journalisten nur schwer „zu verkaufen“…

Andreas Mihm © pag, axentis.de, Lopata

Mihm: In den letzten Monaten haben wir gesehen, dass das durch Skandalisieren gelingt und der Morbi-RSA von einer breiten Öffentlichkeit wahrgenommen wird. Aber nicht nur der Journalist skandalisiert, sondern auch diejenigen, die ein eigenes Interesse an Veränderungen haben: Sie bieten den Boden dafür, um eine öffentliche Diskussionen loszutreten und das System in ihrem Sinne zu verändern. Für mich als Journalist ist das ein ganz schwieriges Thema – inwieweit mache ich dieses Spiel mit, um Themen, die ich wichtig finde, in die Diskussion zu bekommen und inwieweit trage ich wissentlich und willentlich dazu bei, anderer Leute Lobbyinteressen zu promovieren?

Thelen: Man muss das Ding skandalisieren, sonst gibt es keine Chefredaktion in Deutschland, die dafür auch nur 50 Zeilen opfert. Will man aber darstellen, was schief läuft, muss man zunächst das System erklären. Das ist so komplex, dass damit der Karton im Prinzip schon voll ist. Und nicht zuletzt fragt man sich als Journalist, auf welche Seite man sich stellt: Die einen tragen Dir die Informationen zu und die anderen machen „closed shop“ wie in diesem Fall die Allgemeinen Ortskrankenkassen. Dann muss man sich entscheiden.

Wie ist der Vorstoß von TK-Chef Baas mit der Schummel-Debatte retrospektiv zu bewerten?

Schröder: Das ist auch ein medien-politisches Lehrstück, wie eine Geschichte eingebracht wird: Zunächst macht man sich durch das Bekenntnis, selbst zu schummeln, glaubwürdig. Allen war aber klar, dass die AOKen gemeint sind, die nach Meinung der Ersatzkassen zu viel Geld aus dem RSA bekommen.

Mihm: Man muss die Geschichte auch im größeren strategischen Kontext sehen. Nach der Einigung im vdek beobachten wir jetzt eine gemeinsame Positionierung zwischen Ersatz-, Innungs- und Betriebskrankenkassen gegenüber der AOK. Um dem Thema mit Blick auf die Wahl den richtigen Wumm zu geben, brauchte man eine Nummer, um das ganze pauschal und plakativ zu vermitteln. Es gab verschiedene Ansätze und mit dem Schummelgeständnis von Baas hat es funktioniert.

Was bedeutet „funktioniert“ in diesem Fall?

Thelen: Jetzt wird im GKV-Spitzenverband und im Bundesversicherungsamt intensiv darüber geredet. Der Gesetzgeber ist tätig geworden und hat versucht, das Thema Saisonarbeiter und Versicherte ohne Leistungen auf den letzten Metern der Legislatur mit einem Änderungsantrag zu entschärfen. Ein sehr brisantes Thema, wenn es sich etwa einige Ortskrankenkassen zunutze machen, dass jeder Saisonarbeiter, dessen Verbleib nicht geklärt ist, bei ihnen weiterhin versichert ist. Der Umstand, dass in diesem Fall keine Ausgaben entstehen, führt dazu, dass wiederum die gemessenen Durchschnittsausgaben sinken. In der Folge bekommen alle Kassen für gesunde Versicherte weniger Zuweisungen. Den Kassen mit Saisonarbeitern, die diese Zuweisung kassieren, muss das keinen Kummer machen, weil sie für diese Personengruppe keine Leistungsausgaben haben. Gekniffen sind die anderen.

Auch beim Thema Betreuungsstrukturverträge wurde reagiert…

Thelen: … die sind jetzt verboten. Allerdings hatte ich bereits neue Verträge von Kassen in der Hand, die dieses Verbot umlaufen.

Gerhard Schröder © pag, axentis.de, Lopata

Schröder: Trotzdem müssen wir zwei Dinge grundsätzlich auseinander halten: Zum einen den Verdacht, dass geschummelt wird, das ist eine Frage der Aufsicht. Dann gibt es das Problem falscher Anreize. Existieren Mechanismen, die dazu führen, dass einzelne Kassen zu viel Geld bekommen? Beide Faktoren haben zur Folge, dass rund eine Milliarde Euro – so wird geschätzt – falsch verteilt wird. Dennoch kann ich nicht erkennen, dass die ganze Kassenlandschaft durch den Morbi-RSA gesprengt wird.

Thelen: Doch, die wird gesprengt. Früher hat die Beitragssatzautonomie die Kassen dazu gezwungen, ihre Reserven bis in die Verschuldung herunterzufahren, um Betragsveränderung zu vermeiden. Heute ist es für eine Kasse rational, Rücklagen zu horten. Inzwischen kann man ohne weiteres nachvollziehen, welche Krankenkassen unter den Bedingungen des neuen Morbi-RSA jedes Jahr reicher werden, obwohl sie unterdurchschnittliche Zusatzbeiträge erheben und welche Kassen gezwungen sind, ihren Zusatzbeitrag zu erhöhen.

Es fällt auf, dass die Politik das Thema nur mit spitzen Fingern anfasst. Woran liegt das, ist der RSA kein Gewinner-Thema oder steht dahinter die Erkenntnis, dass es doch gar nicht so schlimm um ihn bestellt ist?

Schröder: Bläst man den ganzen Lobbynebel beiseite, bleiben bei der Diskussion zwar viele wichtige Detailfragen, aber der Skandal bleibt aus. Dass es um eine grandiose Fehlsteuerung geht, die Verschwendung von Milliarden, kann ich nicht feststellen. Vielmehr gelingt es einer Gruppe von Kassen, die sich benachteiligt glaubt, das Thema durch hartnäckige Lobby-arbeit in die Diskussion zu bringen.

Keller: Das ist auch immer das Problem: Diejenigen, die einen Nachteil haben, schreien laut und tauchen deshalb in der Öffentlichkeit auf. Dankesschreiben werden selten verbreitet.

Mihm: Ich denke nicht, dass das Gutachten im Herbst umstürzende Ergebnisse enthalten wird, denn im Kern funktioniert das System. Bei so einem großen Geldverteilungsmechanismus geht es gar nicht ohne gewisse Unschärfen. Man kann versuchen nachzubessern oder man probiert einen anderen Ansatz nach dem Motto „Keep it simple“: Ich bin dafür lieber ein paar Unschärfen zu akzeptieren, dafür aber ein System aufzulegen, das allgemein verstanden werden kann und das damit automatisch eine höhere politische Legitimität hat.

Peter Thelen (links) und Dr. Dieter Keller © pag, axentis.de, Lopata

Thelen: Die Schweiz hat das bereits beherzigt und berücksichtigt nicht mehr Arztdiagnosen, um die Morbidität zu messen. Stattdessen werden nur noch bestimmte Krankheiten ausgeglichen, bei denen die Arzneimittelverschreibungen sehr eng mit dem Krankheitsbild verknüpft sind. Damit wurde eine wichtige Manipulationsmöglichkeit eliminiert.

Der RSA soll Risikoselektion verhindern und damit den fairen Wettbewerb ermöglichen. Ziel erreicht?

Keller: Gegenfrage: Was ist fairer Wettbewerb, was ist Gerechtigkeit in dieser Angelegenheit? Es ist irgendwie typisch deutsch, dass man alles in ein Rechensystem packen will, das dann am Ende für Gerechtigkeit sorgen soll. Doch was unten raus kommt, kann sehr unterschiedlich gedeutet werden, je nach Interessenlage.

Mihm: Der RSA regelt die Finanzierungsseite, die Ausgabenseite ist etwas anderes. Beim Wettbewerb fällt auf, dass die wegen des RSA attackierten AOKen aufgrund ihrer Konstruktion und ihrer hohen Marktdurchdringungen etwa bei den Rabattverträgen mit der Arzneimittelindustrie in der Lage sind, Konditionen herauszuschlagen, mit denen keine andere Kasse mithalten kann. Wenn der Gesetzgeber für fairen Wettbewerb sorgen will, dann müsste er an dieser Stelle überprüfen, ob die Aufsicht funktioniert und ob die Marktbedingungen alle richtig sind. Das halte ich für den ordnungspolitisch richtigen Ansatz.

Schröder: Man darf dem Morbi-RSA keine Aufgabe zuweisen, die er nicht erfüllen kann, nämlich alle Kassen zu erhalten und den Wettbewerb so gerade zu bügeln, dass ihm alle Kassen stand halten können. Können Kassen aus den unterschiedlichsten Gründen nicht mehr mithalten, dann ist es nicht die Aufgabe des Morbi-RSA dafür zu sorgen, dass diese noch genug Geld bekommen. Das ist der Wettbewerb, den alle im Gesundheitssektor wollen.

Thelen: Allerdings werden 70 bis 80 Prozent der Kassenleistungen gemeinsam und einheitlich durch den Kollektivvertrag festgelegt. Die Höhe der Ausgaben hängt indes sehr stark von der Anzahl der Leistungsanbieter und der Versorgungsdichte einer Region ab. Da sind wir beim Regionalfaktor, denn die Kassen in Regionen mit dichtem Leistungsangebot haben ein Problem, das sie nicht lösen können. Gelöst werden könnte es, wenn man auf der Ausgabenseite das tut, was bereits seit 30 Jahren gefordert wird, nämlich den Krankenkassen mehr Spielräume in der Vertragspolitik einzuräumen. Die Politik kann ihnen auf der einen Seite nicht Möglichkeiten verweigern, über die Vertragspolitik und die Auswahl von Leistungsanbietern das Ausgabenniveau zu beeinflussen, aber andererseits einen Finanzausgleich installieren, der das nicht berücksichtigt. Das ist ein Grundkonstruktionsfehler des Morbi-RSA: die Ausgabenseite hochreguliert zu lassen und auf der Einnahmenseite den Wettbewerb zu eröffnen.

 

TEILNEHMER DES „PRESSE-CLUBS GERECHTE GESUNDHEIT“
• Dr. Dieter Keller: Der Betriebswirt und promovierte Politikwissenschaftler arbeitet als Berlin-Korrespondent der Südwest Presse. Er berichtet über Wirtschafts- und Sozialpolitik.
• Andreas Mihm: Mihm ist Korrespondent der F.A.Z. in Berlin. Der Volkswirt schreibt über Gesundheits-, Wirtschafts- und Energiepolitik.
• Gerhard Schröder: Schröder, ebenfalls Volkswirt, ist Wirtschaftsredakteur beim Deutschlandradio. Die Schwerpunkte seiner Berichterstattung sind: Renten-, Gesundheits- und Arbeitsmarktpolitik.
• Peter Thelen: Der Volkswirt ist Parlamentskorrespondent des Handelsblatts in Berlin. Er berichtet vor allem über soziale Sicherungssysteme, Arbeitsmarkt sowie Tarifpolitik.
• Moderiert wurde das Gespräch von Lisa Braun, Herausgeberin Gerechte Gesundheit.

Begehrlichkeiten beim Morbi-RSA

Faire Wettbewerbsbedingungen für Krankenkassen gestalten

Berlin (pag) – Der Name ist sperrig, das Thema komplex: der Morbiditätsorientierte Risikostrukturausgleich, kurz Morbi-RSA. Damit bezeichnet wird ein 200 Milliarden schwerer Zuteilungsmechanismus an die 137 Krankenkassen in Deutschland. Um die Reform dieser Geldzuweisung wird momentan erbittert gerungen. Eine Einführung in das Thema.

Glück und Steuerungskompetenz gehören zum Flippern und zum RSA. © DutchScenery – iStockphoto

Krankenkassen haben – vor allem historisch bedingt – eine ungleiche Versichertenstruktur: Einige haben viele gut verdienende und gesunde Versicherte, andere mehr kranke Menschen und Beitragszahler mit niedrigem Einkommen. Seit 1994 gibt es einen Mechanismus, der diese Risikounterschiede zwischen den Krankenkassen in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) ausgleichen soll: der Risikostrukturausgleich (RSA). Er soll den Rahmen für faire Wettbewerbsbedingungen für die Krankenkassen gewährleisten. Der anfängliche Mini-RSA, der vor allem die Aufgreifkriterien Alter und Geschlecht berücksichtigte, wurde immer weiter ausdifferenziert und orientiert sich seit 2009 am Krankheitszustand, also der Morbidität, der Versicherten: der Morbi-RSA. Wichtig: Damit einher geht auch ein neues Finanzierungsverfahren, reiche Krankenkassen finanzieren nicht mehr bedürftige Wettbewerber, sondern alle werden aus einem Topf bezahlt, bekommen das Geld nach Krankheitslast ihrer Versichertengemeinschaft zugeteilt. Es gibt also keine Nehmer- und Geberkassen mehr. Die Geldquelle heißt Gesundheitsfonds und dieser steht in Bonn beim Bundesversicherungsamt.

Wie funktioniert der Morbi-RSA?

Die Mittel des Gesundheitsfonds – rund 200 Milliarden Euro jährlich – sollen so an die Krankenkassen verteilt werden, dass sie möglichst zielgenau dort ankommen, wo sie zur Versorgung der Versicherten benötigt werden. Zunächst erhält jede Krankenkasse für jeden Versicherten eine Grundpauschale in Höhe der durchschnittlichen Pro-Kopf-Ausgaben in der GKV. Diese Grundpauschale wird durch ein System von Zu- und Abschlägen angepasst. Neben den Merkmalen Alter, Geschlecht und Bezug einer Erwerbsminderungsrente gibt es Zuschläge für 80 ausgewählte Krankheiten. Sie sollen die zusätzlichen Ausgaben ausgleichen, die im Durchschnitt von dieser Krankheit verursacht werden. Grundlage dafür, ob die Kasse einen Morbiditätszuschlag erhält, sind die von Vertragsärzten erstellten Diagnosen, verschlüsselt nach dem ICD-10-Code.

Gesetzgeber nimmt weitere Anpassungen vor

Zwar hat der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesversicherungsamt 2011 festgestellt, dass der Morbi-RSA zielgenauer wirkt als der Alt-RSA und die durchschnitt-lichen Leistungsausgaben der Krankenkassen deutlich besser deckt.
Er hat aber auch Handlungsbedarf zur Weiterentwicklung des Morbi-RSA gesehen: bei den Zuweisungen für Krankengeld, den Zuweisungen für Auslandsversicherte und bei der Berücksichtigung der Ausgaben für Ver-sicherte, die im Ausgleichsjahr verstorben sind. Dem hat der Gesetzgeber 2014 mit dem GKV-Finanzstruktur- und Qualitätsweiterentwicklungsgesetz (GKV-FQWG) Rechnung getragen. Bei der Berechnung der Zuweisungen für Krankengeld und Auslandsversicherte hat er Ist-Kosten-Elemente als Übergangslösung eingeführt. Darüber hinaus werden im Einklang mit der Rechtsprechung die Ausgaben für Versicherte, die im Ausgleichsjahr verstorben sind, seit dem Jahresausgleich 2013 in gleicher Weise bei der Ermittlung der standardisierten Zuweisungen zur Deckung der Leistungsausgaben berücksichtigt wie die Ausgaben von Versicherten, die aus anderen Gründen kein vollständiges Jahr in der Krankenkasse versichert sind.
Seit Januar 2015 gibt es außerdem einen zusätzlichen Einkommensausgleich, der die Erhebung der einkommensbezogenen, kassenindividuellen Zusatzbeiträge flankiert.

Die Diskussion um den Morbi-RSA spitzt sich zu

Rosinenpickerei, die: laut Duden egoistisches Bemühen, sich von etwas Bestimmtem nur die attraktivsten Teile zu sichern, um die eher unattraktiven anderen zu überlasssen. © pag, Fiolka

In den letzten Monaten mehren sich kritische Stimmen, die weitere Reformen fordern – wenig überraschend melden sich jene Kassen zu Wort, die sich durch die aktuelle Ausgestaltung des Morbi-RSA benachteiligt sehen. Sie bemängeln Wettbewerbsverzerrungen, die dazu führten, dass ihre Kosten nicht gedeckt seien und sie einen höheren Zusatzbeitrag von ihren Mitgliedern erheben müssten. Um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen, haben sich zwölf Krankenkassen aus den Verbänden der Innungs-, Ersatz- und Betriebskrankenkassen 2016 zu einer „RSA-Allianz“ zusammengeschlossen. Zu ihnen gehören unter anderem Barmer, BIG direkt und Schwenninger Krankenkasse.

 

 

 

 

Die Kritiker des gegenwärtigen Ausgleichsystems fordern insbesondere:

  • Streichung der Erwerbsminderungsrente als Surrogatparameter für eine Erkrankung
  • Berücksichtigung unterschiedlicher regionalen Kosten bei der gesundheitlichen Versorgung
  • Hinterfragung der 80 ausgewählten Krankheiten, weg von einer Prävalenzgewichtung hin zu einer Kostenbetrachtung
  • Schaffung eines Hochrisikopools für extrem teure Krankheitsfälle
  • Berücksichtigung von Sprunginnovationen im Arzneimittelbereich
  • Berücksichtigung des Grundlohns bei der Krankengeldzuweisung
  • Abbau der Über- und Unterdeckungen bei Auslandsversicherten
  • Abkehr von der pauschalen Erstattung von Präventionsausgaben und Schaffung von Anreizen für die Kassen, in Prävention zu investieren
  • Gleiche Aufsicht durch Bundes- und Landesbehörde
  • Beendigung von „Schummeleien“ bei der Kodierung von Krankheiten

Deutlich zufriedener mit dem gegenwärtigen System sind die AOKen. Sie fordern eine grundlegende Gesamt-evaluation des Systems und machen darauf aufmerksam, dass auch die Wirtschaftlichkeit der Kassen eine Rolle spiele: Bei Rabattverträgen mit Pharmaherstellern agierten sie beispielsweise wesentlich erfolgreicher als andere Kassenarten.

Wie geht es weiter?

Das Bundesgesundheitsministerium hat im Dezember 2016 den Wissenschaftlichen Beirat beim Bundesversicherungsamt beauftragt, bis zum 30. September 2017 ein Sondergutachten zum Morbi-RSA zu erstellen. Darin sollen die Experten den bisherigen Mechanismus überprüfen sowie die Folgen relevanter Reformvorschläge abschätzen – eine Entscheidungsgrundlage für eine neue Regierungskoalition von höchster Instanz.

 

WAS JOURNALISTEN VOM RSA-STREIT HALTEN
Im „Presse-Club Gerechte Gesundheit“ debattieren Fachjournalisten über den Morbi-RSA. Auszüge dieser Diskussion lesen Sie in „Den Lobby-Nebel beiseite blasen“.