Berlin (pag) – Prognostische Unsicherheit ist die Achillesferse auf dem Weg zu einer ethisch gut begründeten Entscheidungsfindung in der Notaufnahme, sagt Dr. Annette Rogge beim Kongress der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin.
Auf der Veranstaltung diskutieren Experten über Ethik in der Notaufnahme. Dort gebe es besonders viele Unsicherheitsfaktoren, erläutert Rogge, die Oberärztin für klinische Ethik am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein ist. „In der Regel kommen unbekannte Patienten, es fehlen häufig Zusatzinformationen zur Anamnese oder anderen Erkrankungen.“ Gleichzeitig bestehe der Zwang zu einer schnellen Entscheidung.
Eine weitere Herausforderung: In der aktuellen pandemischen Lage müssen sich Mediziner damit auseinandersetzen, wie potenziell knappe intensivmedizinische Ressourcen „gerecht und ethisch gut begründet“ verteilt werden können. Dabei orientiert man sich laut Empfehlung der Fachgesellschaften an der Erfolgsaussicht, die intensivmedizinische Behandlung zu überleben. „Man kann sich vorstellen, was das für eine schwierige und komplexe Aussage beinhaltet“, sagt Rogge. Prognostische Unsicherheit könne man unter anderem durch Big Data reduzieren. Trotzdem müsse der Behandler noch eine prognostische Aussicht machen. Ein Rest Unsicherheit verbleibe.
In der Zusatz-Weiterbildung Klinische Akut- und Notfallmedizin kommen Ethik und Palliativmedizin nicht vor, kritisiert Prof. Guido Michels, Chefarzt am St.-Antonius-Hospital in Eschweiler. Im Moment kämen zwei bis zehn Prozent der Patienten mit einem palliativen Ansatz in die Notaufnahme, in Zukunft werde man wegen des demografischen Wandels etwa 40 Prozent haben. Er fordert darum: „Wir müssen viel mehr an dieses Konzept Sterben in der Notaufnahme denken.“ Mediziner müssten Sterben erkennen, um es zuzulassen. „In dieser Situation ist die Medizin im Sinne der Kuration nicht an oberster Stelle, wir brauchen menschliche Zuwendung.“ Laut Dr. Susanne Jöbges, Institut für Bioethik der Universität Zürich, ist es „eine der größten Herausforderungen in der Notaufnahme“, jemanden sterben zu lassen. „Dieses Zulassen, ich glaube das fällt uns sehr, sehr schwer.“
Berlin (opg) – Die Reform der Notfallversorgung hat die neue Regierung von der alten geerbt. Zwar liegen tragfähige Reformrezepte längst auf dem Tisch – Stichwort Sachverständigenrat –, doch die Umsetzung gestaltet sich schwierig. Das liegt nicht zuletzt an der Beteiligung der Länder. Auch beim Kongress der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) Anfang Dezember wird darüber diskutiert. Dort zeigt sich, dass medizinische von politischen Fragen nicht immer einfach zu trennen sind.
Das erste Pro/Kontra in der Session zu neuen Strukturen in der Akut- und Notfallmedizin findet zu folgender These statt: „Alle Fachabteilungen in der Notaufnahme ist der richtige Weg“. Prof. Helge Topka, Chefarzt am Klinikum Bogenhausen, vertritt die Pro-Position. Er legt anhand mehrerer Studien dar, dass Spezialisten eine geringere Fehlerquote haben. Beispiele dafür sind etwa das Erkennen von zerebellären Infarkten sowie richtige EKG-Auswertungen. „Wir haben ein Problem mit der initialen Einschätzung“, sagt er. Schnell wird es grundsätzlich. Topka fragt zum Beispiel: Sind die richtigen Patienten in der Notaufnahme? Welche Strukturen versorgen wen? Der Neurologe definiert die zentrale Notaufnahme als hochspezialisierte Einrichtung für schwerwiegend Erkrankte. Aber ist sie das in der Praxis tatsächlich?
Michael Reindl, Leitender Notarzt der Stadt Oberhausen, stellt die Kontra-Position dar. Er weist darauf hin, dass sich dort 50 Prozent der Patienten selbst vorstellten. „Patienten kommen nicht mit einer Diagnose, sondern mit Symptomen“, betont er ebenfalls. Diejenigen mit keinem klaren Leitsymptom hätten eine vielfach erhöhte Mortalität. Er argumentiert, dass immer mehr Konsile zu einer längeren Verweildauer führten, damit steige die Mortalität. Auch er fragt ganz grundsätzlich, wem der Patient gehöre. Es gebe ein Tauziehen, das politisch getriggert sei.
Das zweite Pro/Kontra in der Session beschäftigt sich mit der medizinischen Ersteinschätzung mit SmED. Der Vorstandsvorsitzende des Zi, Dr. Dominik Graf von Stillfried, stellt das Instrument vor. Er berichtet von positiven Erfahrungen im Praxistest. Bei der anschließenden Diskussion hebt er unter anderem hervor, dass es ausgewogene Kooperationsstrukturen brauche. Auch müsse niemand SmED benutzen. Politisch ist das Instrument gewünscht und wird wohlwollend aufgenommen. An der Basis kann es anders aussehen, wie der Kontra-Beitrag von Dr. Harald Dormann zeigt. Der Chefarzt der zentralen Notaufnahme des Klinikums Fürth befürchtet eine Potenzierung von Weiterleistungszuständigkeiten und ist außerdem davon überzeugt, dass eine Weiterleitung ohne Arztkontakt keine valide Grundlage habe.
Berlin (pag) – Die Reform der Notfallversorgung ist im Bundesgesundheitsministerium kein Thema mehr. Nach der Bundestagswahl will sie der BKK Dachverband wieder auf der politischen Agenda sehen, denn „Notfallversorgung ist mehr als ein gemeinsamer Tresen“.
Ende April läuft nach drei Jahren das vom BKK Dachverband unterstützte und vom Gemeinsamen Bundesausschuss mit 700.000 Euro geförderte Innovationsprojekt „Inno RD“ aus. Es hat konkrete Ansatzpunkte für eine Reform ermittelt.
Eine Patientenbefragung im Rahmen des Projektes ergab, dass elf Prozent der Befragten den für sie gefahrenen Rettungsdiensteinsatz im Rückblick als nicht dringlich einstufen. Insgesamt, sagt Projektleiter Dr. Enno Swart von der Universität Magdeburg, bestehe bei bis zu 20 Prozent der Fälle Optimierungsbedarf. Diese „nennenswerte Fehlversorgung“ zeige, dass die Inanspruchnahme des Rettungsdienstes reflektierter als bisher erfolgen müsse. Dafür sei es nötig, die Gesundheitskompetenz der Menschen zu steigern.
Um unnötige Fahrten in Kliniken zu vermeiden, plädieren die Projektteilnehmer dafür, den Notfallsanitätern ohne anwesenden Notarzt mehr Spielraum bei der Einschätzung des Handlungsbedarfs vor Ort zu geben. Das gelte ebenso für die Auswahl der geeigneten „Anschlussversorgung“: Muss der Patient überhaupt in die Klinik oder reicht nicht auch die Weiterleitung an eine Praxis? Dafür, sagt Enno Swart, sei es nötig, die ambulante Weiterversorgung und die Ausbildung der Sanitäter zu stärken. Empfohlen wird auch die Etablierung eines Telenotarztes, den die Rettungskräfte zu Rate ziehen können, sowie die Erlaubnis, in die elektronische Patientenakte zu schauen.
Das Innovationsfondsprojekt sieht noch weitere Handlungsfelder: „Die Notfallversorgung beginnt nicht in der Leitstelle und hört nicht im Krankenhaus auf“, sagt Prof. Bernt-Peter Robra, Sozialmediziner am Universitätsklinikum Magdeburg. Sinnvoll seien mobile Not-Pflegedienste, die etwa Menschen in der Nacht helfen könnten, einen verloren gegangenen Katheter zu ersetzen. Denn auch solche Fälle, die nicht dringlich seien, führten dazu, dass der Rettungsdienst alarmiert werde, so Robra. Für den Rettungsdienst müssten zudem die gleichen Regeln gelten wie für andere medizinische Dienstleister, etwa hinsichtlich der Qualitätssicherung. Eine Integration in das Sozialgesetzbuch und in die G-BA-Richtlinienkompetenz sei erstrebenswert. „Das wäre ein Gewinn an Versorgungsqualität und kein Verlust für die zuständigen Länder“, findet Robra.
Konsortialführer von „Inno_RD“ ist die Uni Magdeburg. Zu den Partnern gehören neben dem BKK Dachverband das Universitätsklinikum Magdeburg, das Deutsche Rote Kreuz und die Universität Oldenburg.
Ironie des Schicksals? Kaum ein Referat zum Thema Krankenhaus, das in jüngster Vergangenheit nicht die Überkapazitäten in Deutschland vor Augen geführt hätte. Der Vergleich mit Italien in Bezug auf Betten, Röntgen- und Beatmungsgeräte wurde regelmäßig ausgeschmückt. In der Krise profitieren wir hierzulande allerdings von den Kapazitäten. Sind die angedachten Reformen für Krankenhausstrukturen und Notfallversorgung jetzt perdu? Oder zeigt gerade die Krise, dass wir andere, flexiblere Konzepte benötigen? Noch ist sie in vollem Gang. Auf Dauer wird auch die Frage nach einer Balance zwischen öffentlicher Daseinsvorsorge und Privatisierung diskutiert werden. Der Ruf nach mehr Public Health ertönt in Krisensituationen laut. Überdauert er diese auch? Hier kommen einige Experten zu Wort, die unsere Fragen zur Lage beantworten: Allgemeinmediziner Prof. Ferdinand Gerlach und Gesundheitsökonom Prof. Jonas Schreyögg sind beide Mitglieder des Sachverständigenrates zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen. Nils Dehne vertritt die Position der kommunalen Großkrankenhäuser und Martin Litsch, Vorstandsvorsitzender des AOK-Bundesverbandes, die der Kostenträger.
Nachgefragt bei Prof. Jonas Schreyögg, Gesundheitsökonom
Mit Krankenhäusern und Betten ist Deutschland überversorgt, lautete die einhellige Analyse vor dem Ausbruch der Pandemie. Erscheint diese Erkenntnis gegenwärtig in einem anderen Licht?
Prof. Jonas Schreyögg:Generell ist klar, dass wir im internationalen Vergleich viel zu viele Fälle stationär behandeln, die ambulant behandelt werden könnten. Andere Länder sind in Sachen Ambulantisierung deutlich weiter. Dadurch haben wir nicht nur sehr viele nicht bedarfsnotwendige Krankenhäuser und Betten, sondern auch das Problem, dass das vorhandene pflegerische und medizinische Personal auf zu viele Krankenhäuser verteilt wird. Diese generelle strukturelle Problematik kommt auch in der aktuellen Krise zum Ausdruck.
Inwiefern?
Schreyögg:Von den 1.600 allgemeinen Krankenhäusern haben sich bisher 700 in das bundesweite Intensivregister eingetragen. Es wird sich zeigen, wie viele von diesen Krankenhäusern am Ende auch Patienten zur Beatmung aufnehmen können. Viele Krankenhäuser, die Beatmungskapazitäten haben, sagen, dass sie zu wenig Personal haben, denn das vorhandene Personal teilt sich eben in Deutschland auf ganz viele Kliniken auf – darunter viele Kliniken, die nicht für die Behandlung von Covid-19-Patienten ausgestattet sind. Hinzu kommt das Problem, dass im Intensivbereich ohnehin seit Jahren das Personal sehr knapp ist und viele Stellen nicht besetzt werden können.
Generell gefragt: Wie viele Ressourcen sollte sich eine Gesellschaft für den Ernstfall im Gesundheitswesen leisten? Den Begriff Vorhaltekosten für Intensivmedizin kennt man ja vor allem von den Unikliniken.
Schreyögg:In der aktuellen Krise hat die Gesundheitspolitik das beste aus der Situation gemacht. Man sollte aber tatsächlich für künftige Krisen im Hintergrund Ressourcen bereithalten, die dann innerhalb kürzester Zeit aktiviert werden können. Hierfür müssen nicht mehr Intensivbetten vorgehalten werden, aber es erscheint sinnvoll, eine substanzielle Menge an Beatmungsgeräten und Schutzmaterial zu bevorraten. Insgesamt hat uns aber diese Krise zu einer ungünstigen Zeit getroffen. Wir waren in Deutschland gerade dabei, im Krankenhaus und generell im Gesundheitswesen viele überfällige Strukturreformen anzugehen, darunter eine Umwandlung nicht bedarfsnotwendiger Krankenhäuser, eine Verbesserung der Personalsituation in bedarfsnotwendigen Krankenhäusern, eine Reform der sektorenübergreifenden Vergütung und vor allem die Implementierung der Digitalisierung im Gesundheitswesen. In fünf bis zehn Jahren hätte uns diese Krise in dieser Hinsicht mit geeigneteren Strukturen getroffen und weniger Rüstkosten für eine kurzfristige Vorbereitung erfordert. Daher hat uns diese Krise aufgezeigt, wie wichtig ein konsequentes Vorantreiben der Strukturreformen ist.
Für wie belastbar halten Sie das unbegrenzte Liquiditätsversprechen von Bund und GKV für die Krankenhäuser?
Schreyögg:Ich halte dieses Versprechen für sehr belastbar, denn niemand wird in der aktuellen Krise einen Konkurs eines bedarfsnotwendigen Krankenhauses in Kauf nehmen. Vielmehr erscheint es mir wichtig, dass vor allem solche Krankenhäuser von den Finanzierungspaketen profitieren, die auch im Kern zur Bewältigung der Krise beitragen. Dabei stehen natürlich die Universitätsklinken und Maximalversorger im Zentrum des Geschehens. Dort hat man in der Regel am meisten Expertise, um auch Covid-19 Patienten mit schweren Verläufen zu behandeln.
Zur Person
Prof. Jonas Schreyögg ist seit 2011 wissenschaftlicher Direktor des Hamburg Center for Health Economics, Universität Hamburg. Er ist Mitglied des Sachverständigenrats zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen und im Aufsichtsrat des Universitätsklinikums Greifswald. Von 2015 bis 2017 arbeitete er in der Expertenkommission „Pflegepersonal im Krankenhaus“ beim Bundesministerium für Gesundheit.
Nachgefragt bei Prof. Ferdinand Gerlach, Vorsitzender des Sachverständigenrats
Bislang waren Sie ein Verfechter des Bettensabbaus im stationären Sektor. Hand aufs Herz: Haben Sie Ihre Meinung geändert?
Prof. Ferdinand Gerlach:Nein. Dazu sehe ich überhaupt keinen Anlass. Man muss jetzt erst einmal gucken, wie die Krankenhausstrukturen ausgelastet werden. Zurzeit werden ja auch unnötige Operationen abgesagt. Das ist eine Forderung, die haben wir nicht nur in Krisenzeiten, sondern generell. Außerdem muss man sehen, wie sich die Krankenhäuser verhalten. Ich höre, dass einige Häuser Covid-19-Patienten abweisen und in die Maximalversorgungskliniken schicken. Das bedeutet, sie stehen für die Versorgung nicht zur Verfügung. Die Krankenhausgesellschaft wird wahrscheinlich sagen, dass man alle Kapazitäten erhalten und noch ausbauen muss. Es ist aber noch viel zu früh, das zu beurteilen.
Gerlach:Eine gestufte Strategie und einen Public-Health-Ansatz für die Versorgung der Patienten. Wir hören aus Italien, dass dort die Beschäftigten in den Krankenhäusern und die Sanitäter selbst die Super-Spreader für dieses Virus sind. 41 Prozent der Patienten haben sich erst im Krankenhaus angesteckt. Das bedeutet, wir brauchen eine gute Strategie, wie zum Beispiel Verdachtsfälle von anderen getrennt werden. Wir sehen auch – das höre ich von Kardiologen –, dass normale Herzpatienten schon jetzt vernachlässigt werden, weil die ganze Aufmerksamkeit auf die befürchtete Covid-19-Welle gerichtet wird. Alle diese Entwicklungen muss man auswerten und auch sehen, was hätte man besser ambulant machen können. Viele Patienten müssen nicht ins Krankenhaus. Gefragt sind unter Versorgungs- und Infektionsschutzaspekten durchdachte, kluge Konzepte. So könnten beispielsweise zahlreiche Patienten mit überall einsetzbaren Pulsoximetern, digitaler Überwachung von Vitalparametern und einfacher Sauerstoffversorgung wahrscheinlich besser zu Hause isoliert und versorgt werden – bevor sie sich in kontaminierten Krankenhäusern anstecken oder dort selbst zum Infektionsherd werden. Die Frage, wie viele Patienten überhaupt zwingend krankenhauspflichtig sind, muss noch ausgewertet werden. Die Zahlen, die wir kennen, sind häufig sehr oberflächlich und es gibt zahlreiche Hinweise darauf, dass wir bei der Interpretation diversen Trugschlüssen unterliegen.
Die Pandemie trifft uns gerade in Zeiten des Umbruchs im Krankenhauswesen. Auf der politischen Tagesordnung steht eine Notfallreform. Was könnte sich durch die Pandemie, die wir gerade erleben, ändern?
Gerlach:Das muss man abwarten. Dazu gibt es schon jetzt unterschiedliche Meinungen. Aber eines kann man ganz klar sagen: Die Grundidee, die den Sachverständigenrat bei seinen Empfehlungen geleitet hat, nämlich, dass wir eine bedarfsgerechte Steuerung brauchen, die bestätigt sich mehr denn je. Wir brauchen ein gemeinsames Notfall-Leitsystem aus einem Guss. Wir brauchen eine qualifizierte telefonische Ersteinschätzung, die Patienten in die richtige Versorgungsebene steuert.
Wie würde das funktionieren?
Gerlach: Es gibt digital unterstützte Ersteinschätzungshilfen. Wenn man bestehende Algorithmen auf den aktuellen Ausbruch anpasst, kann man 24/7 gezielt fragen, etwa nach Kontaktpersonen, Besuchen in oder aus Risikogebieten, Symptomen und vielem mehr. Dann könnte man mit einer bundesweit abgestimmten, durchdachten Strategie einheitlich die Patienten testen und in die jeweils am besten geeigneten Einrichtungen steuern. Das fehlt uns jetzt. Wir haben 250 verschiedene Rettungsleitstellen und mehrere Dutzend Leitstellen der Ärztlichen Bereitschaftsdienste. Bei einer einheitlichen Strategie würden wir weit weniger Druck und Chaos im System haben.
Im Zuge einer fortschreitenden Ambulantisierung benötigen wir definitiv weniger Betten. Wer entscheidet eigentlich darüber, wie viel Vorsorge wir uns für den Notfall leisten wollen?
Gerlach: Krankenhausplanung ist derzeit nahezu alleinige Ländersache. Doch faktisch können diese wegen diverser Besitzstands-wahrender Einschränkungen nicht wirklich durchgreifen. Wir haben in Deutschland einen sehr komplexen Prozess. Das ist auch der Grund, warum das hier noch nicht geklappt hat. Es gibt nicht den einen, der das entscheiden kann. Insbesondere kann das nicht der Bundesgesundheitsminister.
Wieviel Kapazitäten sollten wir für Notfälle wie diesen vorhalten?
Gerlach: Wenn wir einmal eine solche Jahrhundert-Krise haben, können und müssen wir nicht 99 Jahre lang die Ressourcen vorhalten. Wir sollten allerdings mit einer klugen Strategie in der Lage sein, innerhalb von vier Wochen das System hochzufahren. Darauf müssen wir vorbereitet sein.
Können wir im Gesundheitswesen nach dieser Pandemie zur Tagesordnung übergehen? Was benötigen wir?
Gerlach: Wir können auf keinen Fall zur Tagesordnung übergehen. Wir müssen systematisch aus der Situation lernen und da gibt es sehr, sehr viel. Ich habe große Zweifel an der Validität der Daten, auf deren Basis wir jetzt extrem weitreichende Entscheidungen treffen. Dass das Virus sehr infektiös ist und sich daher schnell ausbreitet, ist keine Frage. Aber wie gefährlich es tatsächlich ist, auch wenn wir es ins Verhältnis setzen zu jährlich rund 30.000 Todesfällen durch Krankenhauskeime oder der Übersterblichkeit von 25.000 Influenzatoten vor zwei Jahren, muss sich erst noch zeigen. Wir müssen sicher auch erkennen, dass der öffentliche Gesundheitsdienst an den allermeisten Standorten komplett überfordert war oder noch ist. Wir sehen Personalmangel, Unterausstattung und fehlende Konzepte. Wir haben das vielleicht größte Problem in Pflegeheimen. Hier leben die Hochrisikopatienten. Normalerweise müsste man genau dort den Einsatz der Mittel konzentrieren. Das alles müssen wir aufarbeiten und für die nächste Pandemie besser vorbereitet sein.
Was ist jetzt zu tun?
Gerlach: Wir brauchen eine Exit-Strategie. Wann kommen wir da wie raus? Dafür gibt es Vorschläge. Zum Beispiel die Strategie der zwei Geschwindigkeiten, die fragt, wann wollen wir die Einschränkungen wieder lockern und für wen? Es gibt risikoadaptierte Strategien, bei denen man sagt, wir schützen weiterhin, ggf. noch konsequenter die Hochrisikogruppen. Da müsste man vor allem zwischen jungen Menschen ohne Vorerkrankungen und älteren mit Vorerkrankungen unterscheiden. Außerdem brauchen wir dringend einen guten Antikörpertest, den wir noch nicht haben. Dann können wir die Immunisierten erkennen. Die vorhandenen Tests sind leider noch nicht treffsicher genug. Bei der Bedeutung und dem großen Einsatzgebiet können Sie davon ausgehen, dass mit höchster Intensität daran geforscht wird. Für die Exit-Strategie ist ein verlässlicher Test sehr wichtig.
Zur Person:
Prof. Ferdinand Gerlach ist Vorsitzender des Sachverständigenrates zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen. Seit vielen Jahren ist er außerdem Direktor des Instituts für Allgemeinmedizin der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Der Facharzt für Allgemeinmedizin hat Public Health studiert und als niedergelassener Arzt in Bremen, Kiel und Frankfurt gearbeitet.
Berlin (pag) – Der Krankenhaussektor gilt als die Dauerbaustelle des Gesundheitswesens. Zwei Sachverständigenräte haben daher kürzlich gemeinsame Sache gemacht und zusammen Vorschläge für einen Qualitätswettbewerb in diesem Sektor veröffentlicht. Derweil geht Bundesgesundheitsminister Jens Spahn die lang diskutierte Reform der Notfallversorgung an.
Das Ziel des Ministers: Eine bedarfsgerechte Notfallversorgung sicherstellen, stationäre Notfallambulanzen entlasten und Doppelstrukturen abbauen. Ein zentraler Baustein sei „die Notfallleitstellen der Ärzte und Rettungsdienste zusammenzulegen.“ Über die 112 und 116117 soll per qualifizierter Ersteinschätzung der Zugang zur Versorgungsebene erfolgen. Analog zu den Vorschlägen des Sachverständigenratsgutachtens, das im Juli 2018 vorgestellt wurde, sollen sukzessive Integrierte Notfallzentren (INZ) an den Kliniken aufgebaut und bestehende Bereitschaftsdienst- und Portalpraxen mit eingebunden werden. In den INZ gilt das „Ein-Tresen-Prinzip“. Dort verschmelzen der ärztliche Bereitschaftsdienst der KV und die zentrale Notaufnahme des Krankenhauses. Sie werden von Niedergelassenen und Krankenhausärzten gemeinsam betrieben. Auch hier wird eine Triage und Steuerung in die richtige Versorgungsstufe vorgenommen. KVen und Kliniken erhalten den Auftrag, INZ an bestimmten Häusern im Rahmen der Krankenhausplanung vom Land per Notfallversorgungsplan einzurichten und zu betreiben. Dabei müssen sie die Anforderungen des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) berücksichtigen, die das Gremium mit Beschluss vom April 2018 in seinen Kriterien für ein dreiteiliges Notfallstufensystem in Krankenhäusern festgelegt hat.
Abbau von Überkapazitäten, eine monistische Investitionsfinanzierung, eine Änderung des DRG-Systems und Ambulantisierung. Diese Vorschläge zur Krankenhausversorgung machen der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung und der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen. Die gemeinsame Erklärung beider Räte erfolge „erstmalig in ihrer Geschichte “, betont Ministerialrat Dr. Frank Niggemeier, Leiter der Geschäftsstelle des Sachverständigenrats zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen. Beide Gremien haben vor Kurzem getrennte Gutachten veröffentlicht und seien dabei zu „weitgehend übereinstimmenden Schlussfolgerungen“ gekommen. Die nun vorgeschlagenen Maßnahmen dienten dem „Qualitätswettbewerb im Krankenhaussektor“.
Ob, wann und wie diese Vorschläge Gehör finden, ist naturgemäß offen. Dafür steht der – vorläufige – Zeitplan für die Reform der Notfallversorgung: Im ersten Quartal dieses Jahres soll das Gesetzgebungsverfahren angestoßen und Anfang 2020 abgeschlossen sein. Dann ist der G-BA am Zug. Die geplanten Maßnahmen werden daher erst frühestens 2021 in die Versorgung kommen. Für die Umsetzung ist eine Grundgesetzänderung geplant.
Prof. Ferdinand M. Gerlach über Reformpläne zur Notfallversorgung
Berlin (pag) – Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen hat ein umfassendes Konzept zur Reform der Notfallversorgung vorgestellt. Diese soll „bürgernäher, bedarfsgerechter, qualitativ besser und kosteneffektiver“ sein als bisher, sagt Prof. Ferdinand M. Gerlach, als er die Vorschläge auf einem Werkstattgespräch der Fachöffentlichkeit präsentiert. Der Vorsitzende des Rates zeigt sich vorsichtig optimistisch, dass „uns das gelingen kann und wird“. Im Interview erklärt er seinen Optimismus und was man von Rohrkrepierern lernen kann.
Um die Notfallversorgung werden erbitterte Verteilungskämpfe an der Schnittstelle zwischen ambulant und stationär geführt. Auf dem Werkstattgespräch haben Sie sich optimistisch gezeigt, dass eine Reform gelingen kann. Woher nehmen Sie Ihre Zuversicht?
Gerlach:Bei der Analyse der aktuellen Situation – überfüllte Notaufnahmen, zu lange Wartezeiten, Über-, Unter- und Fehlversorgung nebeneinander – stimmen alle weitgehend überein. Damit meine ich Ärzte, Kassen, Krankenhäuser, aber auch Patienten. Insbesondere die medizinischen Profis, die in der Notfallversorgung an der Front sind, berichten übereinstimmend über Probleme, Defizite und über eine Verschärfung der Situation. In unserem Gesundheitssystem verändert sich häufig erst dann etwas, wenn sich ein gewisser Druck aufgebaut hat. Den gibt es jetzt.
Aber es existieren unterschiedlicheVorstellungen dazu, in welche Richtung die Veränderungen gehen sollen.
Gerlach: Dass es mehr Koordinationund Zusammenarbeit zwischen den Beteiligten geben muss, mehr Steuerung, Triage und qualifizierte Ersteinschätzung, dazu gibt es kaum Widerspruch. Bis zu dem Punkt folgen alle. Erst bei der Umsetzung gibt es Differenzen.
Zum Beispiel?
Gerlach: Unser Vorschlag, integrierte Leitstellen zu schaffen, ist offenbar mehr oder weniger Konsens. Es gibt eine Diskussion darüber, ob man das über eine Rufnummer machen muss oder über mehrere. Das ist aber letztlich eine technische Frage.
Wichtiger ist, was in der Leitstelle passieren soll.
Gerlach: Momentan sitzen in vielen Einzelleitstellen Feuerwehrbeamte, ärztliche Expertise fehlt dort. Unser Konzept sieht größere Leitstellen vor, in denen ärztlicher Bereitschaftsdienst und Rettungsdienst zusammenarbeiten. Bei Bedarf können auch Ärzte die Beratung von Patienten direkt am Telefon übernehmen, es findet eine qualifizierte Ersteinschätzung nach Algorithmenund Leitlinien statt. Schließlich kann man am Anfang nicht wissen, was hinter akuten Kopfschmerzen steckt. Um gut zu beraten, schnell zu entscheiden und die richtigen Maßnahmen einzuleiten, braucht man eine qualifizierte Ersteinschätzung. Soweit sind sich alle einig.
Und wo gibt es Kontroversen?
Gerlach: Bei der Umsetzung. Zum Beispiel erwarten wir, dass sich die Rettungsleitstellen, die wir zurzeit in jedem Landkreis haben und die von Innenministerien und von den Landkreisen finanziert werden, nicht so einfach integrieren lassen werden. Außerdem bleibt fraglich: Wie sollen die Kosten verteilt werden? Mut macht uns aber, dass man dafür in Baden-Württemberg bereits eine Lösung gefunden hat. Dort gibt es Verträge zwischen dem Innenminis-terium bzw. den Trägerorganisa-tionen DRK und Feuerwehr auf der einen Seite und der KV sowie den Krankenkassen auf der anderen Seite. Investitionskosten werden im Wesentlichen aus Steuermitteln und Betriebskosten über Leitstellenvermittlungsentgelte – für das Rettungswesen von den Krankenkassen, für die Vermittlung des vertragsärztlichen Bereitschaftsdienstes durch die KV – bestritten.
Eine noch schärfere Kontroverse dürften die Integrierten Notfallzentren (INZ) heraufbeschwören – so ist der Eindruck auf dem Werkstattgespräch des Rates.
Gerlach:Das Ein-Tresen-Prinzip, also alle gehen durch den gleichen Eingang und werden an der identischen Stelle ersteingeschätzt, ist absolut notwendig. Das sehen auch alle ein. Die Frage, wie das organisiert werden soll, wird wiederum kontrovers diskutiert.
Wie stellt sich der Rat die Organisation denn vor?
Gerlach:Das Notfallzentrum sollte eine eigene wirtschaftlich-organisatorische Einheit bilden. Es soll organisatorisch aus dem Krankenhaus herausgelöst werden, örtlich gesehen bleibt es dort. Vielfach wären nur kleinere Umbauten für den Eingang und Tresen notwendig. Wir stellen uns eine gemeinsame Trägerschaft von KV und Krankenhaus vor, aber die Betreiberfunktion, insbesondere des zentralen Tresens, an dem die Triage stattfindet, sollte allein der KV obliegen.
Warum?
Gerlach: Die Kliniken haben zu starke Interessenskonflikte, vor allem weil sie über die Notaufnahmen Patienten auf ihre Statio-nen bekommen. Das betrifft in Deutschland fast 50 Prozent der Patienten in der Notaufnahme. In welchem Umfang dieser Anteil gerechtfertigt ist oder nicht, ist schwer abzuschätzen, zumindest im internationalen Vergleich ist die Aufnahmequote viel zu hoch. Das sieht man auch daran, dass viele Patienten als Kurzlieger bzw. Ein-Tages-Fälle laufen. Dabei handelt es sich um einen Fehlanreiz für die Kliniken, den man ihnen allerdings kaum vorwerfen kann. Die statio-näre Aufnahme ermöglicht eine ganz andere Refinanzierung der Leistungen, die aus medizinischen Gründen durchaus sinnvoll sein können, beispielsweise ein Spiral-CT bei Verdacht auf Lungenembolie. Die Kliniken nehmen die Patienten stationär auf und rechnen das über eine DRG ab.
Halten Sie trotz der deutlichen Kritik an der Organisationsstruktur der INZ an Ihrem Konzept fest? Moniert wird insbesondere, dass man damit einen dritten Sektor schafft.
Gerlach: Auf dem Werkstattgespräch haben wir unseren ersten Aufschlag vorgestellt. Feinjustierung folgt. Man kann über die konkrete Ausgestaltung der Träger- und Betreiberfunktion diskutieren. Grundsätzlich sollte jedoch bedacht werden: Wenn wir in den alten Sektoren bleiben und so weitermachen wie bisher, kommen wir auch nicht weiter. Wenn wir neue sektorenübergreifende Versorgungsformen entwickeln wollen, müssen wir aus den Schützengräben heraus und Mauern einreißen. Dann brauchen wir gemeinsame regulatorische Rahmenbedingungen, eine gemeinsame Honorierung und dann könnte es sich um den Prototypen einer zukünftigen sektorenübergreifenden Versorgung handeln.
Impulse für eine sektorenübergreifende Versorgung sollte auch die Ambulante Spezialfachärztliche Versorgung, kurz ASV, liefern. Kein Beispiel, das Mut macht, oder?
Gerlach: Das ist, kurz gesagt, leider ein Rohrkrepierer.
Was wollen Sie besser machen?
Gerlach: Wir müssen aus den Fehlern, die bei der ASV gemacht wurden, lernen. Das Problem ist hier, dass die Kassen Leistungsausweitungen befürchten und sektoregois-tische Motive der Beteiligten dazu führen den Versorgungsbereich so klein wie möglich zu schrumpfen – ängstlich begrenzt auf ganz spezielle Erkrankungen, die nur wenige Menschen betreffen, mit hohen, bürokratisch überfrachteten Anforderungen und unattraktiver Hono-rierung. Man hat fast alles dafür getan, dass es nicht funktioniert.
Was wären Alternativen gewesen?
Gerlach: Damit es keine Leistungsausweitung gibt, haben wir in unserem letzten Gutachten vorgeschlagen, den Bereich einerseits gezielt auszuweiten und andererseits komplett selektivvertraglichen Regelungen zu unterstellen. Dann hätten die Vertragspartner Mengen, Preise und Qualität definieren können. Das hätte eine ganz andere Dynamik erzeugt. Die Angst der Krankenkassen vor der Leistungsausweitung wäre genommen.
Zurück zur Notfallversorgung und der Frage nach der Patientensteuerung. Sie hoffen auf einen edukativen Prozess. Ist das Thema Selbstbeteiligung vom Tisch? Wäre ein solches Instrument für die Lenkung nicht doch sachgerecht?
Gerlach:Noch können wir uns nicht für eine Selbstbeteiligung erwärmen. Vorher initiieren wir lieber einen auf Freiwilligkeit basierenden multimedialen Prozess mit mehrsprachigen Patienteninformationen, Apps, Plattformen und Social-Media-Aktivitäten. Denkbar wäre zum Beispiel ein 30-Sekunden-Spot vor der Tagesschau, in dem erklärt wird, wo man bei einem Notfall anruft und wie einem geholfen wird. Das müsste so lange wiederholt werden, bis jeder die Nummer kennt und die Prozesse versteht. Integrierte, auch mit Ärzten besetzte Telefonleitstellen sollen Patienten anhand IT-gestützter Versorgungspfade je nach Schwere-grad und Dringlichkeit gezielt in bedarfsgerechte Strukturen steuern. So kann die Leitstelle direkt einen individuellen Termin in einem konkreten Integrierten Notfallzentrum vergeben. Patienten, die durch Selbstüberweisung ohne vorherige telefonische Abklärung kommen und bei denen im Rahmen der orientierenden Eingangsuntersuchung keine Dringlichkeit festgestellt wird, müssen ggf. längere Wartezeiten in Kauf nehmen. Sollte das alles nicht funktionieren, könnte man über eine Selbstbeteiligung nachdenken. In Deutschland gibt es eine extrem geringe Selbstbeteiligung im Vergleich zu anderen Ländern in Europa. Diese Form der Steuerung nutzen wir bislang kaum.
Warum tut sich Deutschland insgesamt mit der Notfallversorgung so schwer? In anderen Ländern klappt es offenbar besser.
Gerlach: Dafür gibt es mehrere Gründe. Erstens haben wir mit den Notaufnahmen der Kliniken, dem ambulanten Bereitschaftsdienst und dem Rettungsdienst drei komplett voneinander getrennte Sektoren. Der Rettungsdienst hat sogar mit der Gesetzlichen Krankenversicherung gar nichts zu tun. Auch das wollen wir übrigens ändern. Alle drei haben ihre eigenen Rahmenbedingungen, eigene Honorierung, Dokumentation sowie Qualitätssicherung. Hinzu kommt als zweites die insbesondere den Rettungsdienst prägende Kleinstaaterei: Jeder Landkreis hat eine eigene Leitstelle. Dort werden auf unterschiedlichen Wegen beispielsweise das Rote Kreuz mit dem Rettungsdienst beauftragt, wo wiederum der Landrat im Vorstand sitzt. Es gibt also viele lokale – teilweise sogar vorteilhafte – Besonderheiten, die aber letztlich den Gesamtprozess verlangsamen. Und außerdem sitzen die Player, speziell Kassenärzte und Krankenhäuser, in ihren Gräben und haben bisher keinen überzeugenden Weg gefunden, wirklich miteinander zu kooperieren.
Minister Gröhe hat bei dem Werkstattgespräch die Beteiligten zur Kooperation aufgerufen.
Gerlach: Zu Recht. Dass es damit bisher noch nicht geklappt hat, kann man den Akteuren allerdings nicht einmal unbedingt vorwerfen, weil die Rahmenbedingungen schlicht zu unterschiedlich sind. Wir müssen Planung, Organisation und Finanzierung sektorenübergreifend annähern, erst dann kann es eine wirklich sektorenübergreifende Zusammenarbeit geben. Momentan ist echte Kooperation selbst bei bestem Willen kaum möglich.
Die Gutachten des SVR haben eine lange Tradition. Wie schätzen Sie deren Praxisrelevanz ein? Gerade die vor Jahren konstatierte Über-, Unter- und Fehlversorgung wurde oft zitiert, aber den Befund könnte man heute noch genauso stellen.
Gerlach: Man kann ihn stellen, aber anders. Über-, Unter- und Fehlversorgung wird es immer geben. Wir werden niemals einen stabilen Idealzustand erreichen, wo alles 100-prozentig passt. Das geht allein schon deshalb nicht, weil es ganz unterschiedliche Perspektiven gibt. Zur Praxisrelevanz der Empfehlungen: Anlässlich unseres 30-jährigen Jubiläums hat kürzlich Prof. Wille eine Übersicht aller zentralen Empfehlungen des Rates erstellt. Danach wurde ungefähr die Hälfte von ihnen umgesetzt.
Das ist eine erstaunlich gute Quote.
Gerlach: Finden wir auch. Allerdings kann die Umsetzung manchmal fünf bis zehn Jahre dauern. Aber wir sind heute schon wesentlich weiter als vor 20, 30 Jahren. Das muss man auch im Vergleich sehen und gleichzeitig werden das Gesundheitssystem und die Welt ja immer komplexer. Wenn Sie allein an die Digitalisierung denken, an den demografischen Wandel, an Angebotsstrukturen, die sich enorm entwickelt haben, oder an finanzielle und technische Möglichkeiten, die wir uns früher gar nicht vorstellen konnten. Da kann es nicht einen Stand geben, den man als Ideal erreicht und der bestehen bleibt. Das ändert sich jeden Tag. Insofern ist das eine Daueraufgabe.
Wie hat sich durch die Ratsmitgliedschaft Ihr Blick auf das Gesundheitswesen verändert?
Gerlach: Es ist ein Privileg, dass man sich in einer so hochkarätigen Runde losgelöst von der Tagespoli-tik wirklich fundamental mit dem Versorgungssystem beschäftigen kann. Das Gesundheitswesen ist extrem breit, und es gibt niemanden, der wirklich alle Winkel und Facetten überblickt. Aber mit der Zeit bekommt man ein immer besseres Verständnis dafür, wie die informellen Spielregeln funktionieren, wo Veränderungspotenzial besteht und wo nicht. Natürlich würde ich mir manchmal wünschen, dass Reformen schneller umgesetzt werden, aber auf der anderen Seite weiß ich auch, dass wir dicke Bretter bohren. Da muss man geduldig bleiben.
ZUR PERSON Prof. Ferdinand M. Gerlach ist seit 2012 Vorsitzender des Sachverständigenrats zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen. Dem Gremium gehört er bereits seit 2007 an, von 2011 bis 2012 war er dessen stellvertretender Vorsitzender. Seit 13 Jahren ist Gerlach Direktor des Instituts für Allgemeinmedizin an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main. Von 2010 bis 2016 war er Präsident der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM). Der Facharzt für Allgemeinmedizin hat zudem Public Health studiert und als niedergelassener Arzt in Bremen, Kiel und Frankfurt gearbeitet.
Warum die Notfallversorgung in Deutschland reformiert werden muss
Berlin (pag) – Die Notfallversorgung gilt inzwischen selbst als dringend behandlungsbedürftig. Doch Sektorengrenzen und Verteilungskämpfe erschweren eine Reform, deren Notwendigkeit niemand mehr abstreitet. Eine Bestandsaufnahme. Die Notfallversorgung in Deutschland ist kompliziert – sowohl was die Anbieter betrifft als auch die Inanspruchnahme und Lenkung der Patienten. Rettungsdienst, Notaufnahmen der Krankenhäuser und ärztlicher Bereitschaftsdient agieren eher neben- als miteinander, wobei letzterer bei weiten Teilen der Bevölkerung noch immer weitgehend unbekannt ist. Die jüngste Versichertenbefragung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) ergab etwa, dass der Bereitschaftsdienst nur knapp 30 Prozent der Befragten ein Begriff ist. Immer mehr Patienten suchen dagegen die Notaufnahmen der Kliniken auf, Experten beziffern die jährlichen Steigerungsraten der Fallzahlen auf bis zu acht Prozent. Überfüllte Notaufnahmen und lange Wartezeiten sind die Folge.
Gefühlte und echte Notfälle
Der Run auf die Notaufnahmen ist nicht allein durch den demografischen Wandel zu erklären. 50 Prozent der Patienten stuft sich selbst nicht als Notfall ein. Das hat eine aktuelle Befragung in Hamburg und Schleswig-Holstein, die PiNa-Nord-Studie, ergeben. Für die Inanspruchnahme der Notaufnahme gibt es der Erhebung zufolge vielfältige Gründe: „Da spielt die subjektive Dringlichkeit des Gesundheitsproblems eine Rolle, die wahrgenommene ambulante Versorgungssituation, individuelle Patientenpräferenzen, aber auch Gesundheitskompetenz und die psychische Belastung der Patienten“, fasst Prof. Martin Scherer vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf die Ergebnisse zusammen.
Auch eine allgemein verbreitete On-Demand-Erwartungshaltung der Bevölkerung könnte zur „Beliebtheit“ der Notaufnahmen beitragen. Wer permanent erreichbar ist und rund um die Uhr online shoppen kann, beansprucht möglicherweise auch zu jeder Uhrzeit das Komplettpaket: Zugang zu umfangreicher Diagnostik und zu Experten verschiedener Fachdisziplinen. Unproblematisch ist das nicht, denn auch die nicht dringlichen Fälle binden in der Notaufnahme Kapazitäten, die an anderer Stelle – womöglich bei den echten Notfällen – fehlen.
„Umerziehungsprogramm“ für Patienten?
Scherer plädiert daher dafür, die Kompetenz der Patienten zu steigern. „Wir müssen die Fähigkeit der Menschen verbessern, sich vor der Notaufnahme im Gesundheitswesen zu orientieren.“ Den ärztlichen Bereitschaftsdienst bekannter zu machen, scheint die logische Schlussfolgerung. Doch müssen wirklich die Patienten den Strukturen oder nicht eher die Strukturen den Patienten angepasst werden? SPD-Gesundheitspolitiker Prof. Karl Lauterbach etwa hält nichts davon, die Menschen davon abzuhalten, in die Notaufnahmen zu gehen. „Wir brauchen kein Umerziehungsprogramm, sondern mehr Wettbewerb im Gesundheitswesen“, sagt er in einem Interview.
KBV und Kassenärztliche Vereinigungen (KVen) bemühten sich am 11. Oktober, die Nummer des ärztlichen Bereitschaftsdienstes – 116117 – mit einem bundesweiten Aktionstag bekannter zu machen. Und in Hamburg beispielsweise geht die KV mit einem neuen umfangreichen Bereitschaftsdienst- und Service-Projekt, dem „Arztruf Hamburg“, in die Offensive.
Wie erfolgreich solche Aktionen sind, muss abgewartet werden. Fest steht: Die KVen sind in der Pflicht, weil sie den Sicherstellungsauftrag für die ambulante Notfallversorgung, sprich den Bereitschaftsdienst, haben. Nach Ansicht der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG) nehmen sie diesen aber nur ungenügend wahr. Stattdessen seien die Kliniken die unterfinanzierten Lückenbüßer für die Bereitschaftsdienste, lautet deren Argumentation.
Die DKG kritisiert beispielsweise die in diesem Jahr in Kraft getretene Abklärungspauschale. Diese wird für Patienten in Notaufnahmen abgerechnet, die keinen Notfall darstellen und deshalb an die reguläre vertragsärztliche Versorgung verwiesen werden können. Als zeitlicher Aufwand werden zwei Minuten veranschlagt, die Höhe der Pauschale beträgt tagsüber 4,74 Euro. Für die DKG nur ein weiteres Beispiel für die finanzielle Benachteiligung der Kliniken. Mit Verweis auf ein Gutachten zur ambulanten Notfallversorgung im Krankenhaus von der Management Consult Kestermann GmbH rechnet Hauptgeschäftsführer Georg Baum bereits im Februar 2015 vor: „Mehr als zehn Millionen ambulante Notfälle mit einem Fehlbetrag von 88 Euro pro Fall führen zu einer Milliarde Euro nicht gedeckter Kosten“.
Verteilungskämpfe an der Grenze zwischen ambulant und stationär
Bei der Notfallversorgung geht es somit nicht nur um optimierungsbedürftige Strukturen, sondern auch um knallharte Verteilungskämpfe an der Grenze zwischen ambulant und stationär. Die Schützengräben sind tief. Das zeigt sich auch am Beispiel Portalpraxen. Der Gesetzgeber schreibt sie als erste zentrale Anlaufstelle für Patienten ins 2016 in Kraft getretene Krankenhausstrukturgesetz, um die Organisation eines gemeinsamen Notdienstes zu ermöglichen. Viele KVen empfinden das aber als Affront. Inzwischen haben sich die Wogen geglättet und an vielen Klinikstandorten gibt es solche Einrichtungen bereits. Bundesweite Zahlen liegen allerdings nicht vor.
Modernisierte Bereitschaftsdienste und Portalpraxen sind zweifelsohne sinnvolle Initiativen. Damit sie aber in der Versorgungsrealität nachhaltige Wirkung zeigen können, müssen sie weitergedacht und in ein Gesamt-konzept eingebettet werden. Eine umfassende Reform-strategie muss auch die „Kette finanzieller Fehlanreize“ in der Notfallversorgung beseitigen, die Prof. Marion Haubitz vom Klinikum Fulda anprangert: Da Rettungs-wagen in der Regel kein Geld für Leertransporte erhielten, brächten diese mehr Patienten in die Rettungsstellen. Dort stiegen zudem die stationären Aufnahmen, weil sie finanziell attraktiver seien als ambulante Behandlungen, erläutert die Medizinerin auf einer Veranstaltung des Sachverständigenrates (SVR) zur Begutachten der Entwicklung im Gesundheitswesen, dessen Mitglied sie ist. Mit Blick auf die Überlastung und Unzufriedenheit des Personals sowie die steigenden Kosten mahnt sie unverblümt: „Hier muss etwas geschehen, so kann es nicht weitergehen.“
Die Vorschläge des Sachverständigenrates
Das Ziel des Sachverständigenrates ist eine Notfallversorgung, die „bürgernäher, bedarfsgerechter, qualitativ besser und kosteneffektiver“ als bisher ist. Ein umfassendes Konzept hat er im September vorgestellt. Eine zentrale Rolle spielen darin voll integrierte regionale Leitstellen. Sie sollen über eine bundeseinheitliche Rufnummer erreichbar sein und je nach Patientenanliegen die beste Versorgungsoption wählen. Die telefonische Beratung übernehmen erfahrene Pflegekräfte, Ärzte können bei Bedarf zum Gespräch dazu geschaltet werden. Über die Leitstellen kann eine direkte Terminvergabe in Praxen niedergelassener Ärzte erfolgen, die spezielle Notfall-Slots vorhalten sollen, oder in den nach den Vorstellungen des Rates neu zu schaffenden integrierten Notfallzentren (INZ). Auch Hausbesuche des ärztlichen Bereitschaftsdienstes und Rettungseinsätze werden dort koordiniert.
Ebenfalls eine zentrale Rolle im Reformkonzept spielen die INZ, die Bereitschaftsdienstpraxis und Notaufnahme unter einem Dach vereinigen. Wichtig ist dem Rat dort das Ein-Tresen-Prinzip: Alle Patienten gehen durch den gleichen Eingang und werden an der identischen Stelle ersteingeschätzt. Obgleich in einer Klinik verortet, haben die INZ sektorenübergreifenden Charakter und sollen dort als eigenständige organisatorisch-wirtschaftliche Einheit angesiedelt werden. Als Träger können KVen und Kliniken gemeinsam agieren. Um unangemessene Anreize zur stationären Aufnahme zu vermeiden, sollten die INZ jedoch von den KVen allein betrieben werden. Nicht jedes Krankenhaus soll ein solches INZ beherbergen, der Rat schlägt eine Ausschreibung durch die Länder vor. Die Finanzierung habe durch einen extra-budgetären, aus ambulanten und stationären Budgets bereinigten, separaten Finanzierungstopf für sektorenübergreifende Notfallversorgung zu erfolgen.
Realistischer Optimismus?
Der SVR denkt die Notfallversorgung mit den INZ als sektorenübergreifende Versorgungsform zum Teil völlig neu, greift dabei aber auch auf Ideen aus anderen Gutachten (siehe Infokasten) beziehungsweise regionale Initiativen und Beispiele aus dem Ausland zurück. „Dass es mehr Koordination und Zusammenarbeit zwischen den Beteiligten geben muss, mehr Steuerung, Triage und qualifizierte Ersteinschätzung, dazu gibt es kaum Widerspruch“, sagt der Ratsvorsitzender Prof. Ferdinand M. Gerlach im Interview. Seinen öffentlich verkündeten Optimismus, dass eine Reform der Notfallversorgung „gelingen kann und wird“, kann man teilen oder nicht. Doch dass es ein Thema in der neuen Legislatur sein muss, ist unbestritten – zu lange schon liegen die Dinge im Argen. Vielleicht ist die Zeit endlich reif dafür, nicht nur die eine oder andere Stellschraube vorsichtig neu zu justieren, sondern den Bereich umfassend neu zu gestalten.
Quelle: Präsentationsfolien des SVR-Werkstattgesprächs, 7. September 2017, Vortrag Prof. Gerlach
DENKANSTÖSSE ZUR NOTFALLVERSORGUNG
September 2017: „Integrative Notfallversorgung aus ärztlicher Sicht“, Konzeptpapier von KBV und Marburger Bund
September 2017: „Zehn-Punkte-Programm für eine bessere Notfallversorgung“, Autorenpapier von Harald Terpe u.a., Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen
September 2017: „Instrumente und Methoden zur Ersteinschätzung von Notfallpatienten – Bestandsaufnahme und Konzeptentwicklung für die kassenärztliche Notfallversorgung“, erstellt von aQua-Institut im Auftrag des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung in Deutschland (Zi)
September 2016: „Ambulante Notfallversorgung – Analyse und Handlungsempfehlungen“, erstellt vom aQua-Institut im Auftrag des Verbands der Ersatzkassen
Juli 2016: „Ambulantes Potential in der stationären Notfallversorgung“ Projektphase II, erstellt vom IGES Institut im Auftrag des Zi
Mai 2015: Mehrere Notfallmediziner veröffentlichen ein „Positionspapier für eine Reform der medizinischen Notfallversorgung in deutschen Notaufnahmen“.
März 2015: „Ambulantes Potential in der stationären Notfallversorgung“ Projektphase I,erstellt vom IGES Institut im Auftrag des Zi
Februar 2015: „Gutachten zur ambulanten Notfallversorgung im Krankenhaus – Fallkostenkalkulation und Strukturanalyse“, erstellt von der Management Consult Kestermann GmbH (MCK) in Kooperation mit der Deutschen Gesellschaft interdisziplinäre Notfall- und Akutmedizin (DGINA)