Berlin (pag) – Medizinische Versorgungszentren (MVZ) müssen stärker reguliert werden. Das fordert der Bundesrat in einer Entschließung von der Regierung. Mittels Gesetz soll die Monopolstellung einzelner Träger verhindert und eine am Patientenwohl orientierte ambulante Versorgung gestärkt werden. Über gute und schlechte Gewinne diskutieren auch Gesundheitsökonomen, Ärzte und Medizinethiker auf einem Kongress.
Wäre der Arzt vollkommener Sachwalter des Patienten, würde er seine Entscheidungen ausschließlich am Patientenwohl orientieren, hält Gesundheitsökonom Prof. Jürgen Wasem auf dem Hauptstadtkongress fest. Dann dürfte es weder Über- noch Unterversorgung geben, was erkennbar nicht der Fall sei. Die Trennung zwischen einer heilen Welt des vollkommenen Sachverwalters und einer bösen Welt des investorenbetriebenen MVZ sei eine Illusion.
Kein System ohne Anreize
Allerdings stuft der Wissenschaftler der Universität Duisburg-Essen die Gefahr, dass von der optimalen Behandlungsstrategie abgewichen wird, bei einer investorenbetriebenen ärztlichen Einrichtung tendenziell größer ein als bei einem niedergelassenen Arzt. Limitierend wirke jedoch, dass solche Abweichungen im Zentrum gegenüber den angestellten Ärztinnen und Ärzte durchgesetzt werden müssen und auch rufschädigend wirken könnten. Wasem empfiehlt bei der Vergütung auf Mischsysteme zu setzen, um ökomische Anreize besser austarieren zu können. „Es gibt kein Vergütungssystem, das keine Anreizwirkung bewirkt.“ Außerdem sollte stärker in die Qualitätssicherung investiert werden, um ökonomisch fehlgeleitete Entscheidungen besser erkennen zu können.
Dr. Klaus Reinhardt, Präsident der Bundesärztekammer (BÄK), attestiert dem GKV-System zahlreiche Fehlanreize: Gutes ärztliches Handeln werde nicht gefördert. Ein Arzt, der sich gründlich kranken Menschen widme, werde nicht belohnt. Es bestehe daher sehr großer Reformbedarf. Zwischen guten und schlechten Gewinnen will Reinhard nicht unterschieden, sondern vielmehr zwischen Ökonomisierung und Kommerzialisierung. Letzteres sei ein deutlich weitgehender Begriff. Wesentliches Gewinnstreben dürfe nicht im Vordergrund stehen, meint der BÄK-Präsident, der jedoch einräumt, dass sich Ärzte ökonomischen Zwängen stellen müssten. Diese könnten nicht gänzlich ausgeblendet werden. „Ökonomisches Verhalten muss man von uns bis zu einem gewissen Grad erwarten können.“
Der Medizinethiker Prof. Giovanni Maio, Universität Freiburg, betont bei der Diskussionsrunde, dass die Medizin kein Gewerbe sei. Ärzte dürften daher nicht in Konstellationen arbeiten, in denen sie bei jeder Entscheidung in einen Rollen- und Zielkonflikt hineinsteuern. Vor diesem Hintergrund bezeichnet er die 20 Jahre DRG-System im Krankenhaus als einen „Kardinalfehler“. Bei einer Durchkapitalisierung ärztlicher Tätigkeit bestehe die Gefahr, dass eine gute Versorgung der Bevölkerung gar nicht mehr angestrebt werde, sondern stattdessen eine Fokussierung auf lukrative Eingriffe stattfinde. Als Beispiel für eine solche Entwicklung nennt Maio die Augenheilkunde. „Die Ausrichtung der Medizin am Wohl des Patienten darf nicht etwas Fakultatives sein“, lautet sein Fazit.
München (pag) – Patientenwohl und -wille, ökonomische sowie ökologische Nachhaltigkeit und last but not least medizinische Machbarkeit: Das sind Eckpfeiler, an denen sich ärztliches Handeln ausrichten muss. Was das für Augenärztinnen und Augenärzte konkret bedeutet, haben die Deutsche Ophthalmologische Gesellschaft (DOG) und der Berufsverband der Augenärzte (BVA) in einem Ethik-Kodex formuliert.
Bereits die Frage, was unter einer angemessenen Diagnostik und Therapie zu verstehen ist, stelle sich in der augenärztlichen Praxis täglich neu und müsse im Gespräch mit dem Patienten geklärt werden. „Der Respekt vor dem Patientenwillen und der Patientenautonomie ist die wichtigste Richtschnur augenärztlichen Handelns“, sagt DOG-Präsident Prof. Gerd Geerling. Von zentraler Bedeutung sei es daher, ergebnisoffen, ehrlich und transparent über diagnostische und therapeutische Möglichkeiten aufzuklären.
Wo beginnt Unterversorgung?
Der Patientenwille sei allerdings nicht der einzige Maßstab dafür, wo Unterversorgung einerseits und Überversorgung andererseits beginnen. Behandlungswünsche finden prinzipiell dort ihre Grenze, wo ihnen „ärztliches Gewissen oder ein Mangel an gesellschaftlichen Ressourcen entgegenstehen“, heißt es im Kodex. Zu diesen Ressourcen zählen auch die Behandlungskapazitäten der Augenärztinnen und Augenärzte selbst: Aufgrund des demografischen Wandels nimmt die Zahl ophthalmologischer Patientinnen und Patienten seit Jahren zu, sagt der BVA-Vorsitzende Dr. Peter Heinz. „Mit Blick auf die Altersstruktur ophthalmologisch tätiger Ärztinnen und Ärzte ist dagegen absehbar, dass deren Zahl in den kommenden Jahren eher abnehmen wird.“ Der Kodex rufe daher auch zum Engagement in Forschung und Lehre auf. Nur so könne die Weiterentwicklung des Fachs gewährleistet und – über die Ausbildung des augenärztlichen Nachwuchses – die Versorgung zukünftiger Patienten sichergestellt werden.
Ökonomie und Ökologie
Auch ökonomische Überlegungen spielen im ärztlichen Alltag eine Rolle. Die Augenärzte finden, dass das im Hinblick auf die einzelne Praxis legitim, angesichts der gesellschaftlichen Kosten sogar geboten sei. „Patientinnen und Patienten darf aber durch eine Überbewertung ökonomischer Kriterien kein Schaden entstehen“, heißt es im Kodex. DOG und BVA sehen daher primär renditeorientierte Investoren im niedergelassenen Versorgungsbereich kritisch.
Eine weitere Herausforderung: Zukünftig müsse auch die ökologische Nachhaltigkeit eine „größere Rolle im Behandlungsalltag“ einnehmen, betont Geerling. Nur wenn die zur Verfügung stehenden Ressourcen nachhaltig und verantwortungsbewusst eingesetzt werden, könnten zukünftige Generationen von Augenärzten sowohl zum eigenen als auch zum Wohl der Patienten arbeiten.
Berlin (pag) – Nicht erst seit Corona bedrohen Arzneimittel-Lieferengpässe die Versorgung von Patienten. Die Pandemie jedoch verleiht dem Thema ungeahnte Dringlichkeit. Bei einem Experten-Talk der Veranstaltungsreihe „Aufbruch in eine neue Dynamik“ diskutieren Expertinnen und Experten über neue Impulse für die Sicherheit und Zuverlässigkeit von Lieferketten.
Dem Vorwurf, dass es in der Vergangenheit nichts unternommen hätte, um Lieferengpässen vorzubeugen, will sich das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) nicht aussetzen. Bereits seit 2013 wurden Engpässe in der Behörde registriert, erläutert Gabriele Eibenstein, die als Fachgebietsleiterin im Institut mit dem Thema betraut ist. Mittlerweile existieren gefestigte Strukturen, um Lieferschwierigkeiten frühzeitig zu erkennen. „2016 ist die Aktivität wesentlich dokumentiert worden, indem ein Jour Fixe etabliert wurde, in dem das BfArM sein Lieferengpassmanagement deutlich verbessert hat“, erläutert Eibenstein. Pharmazeutische Unternehmer melden seither auf Basis einer freiwilligen Selbstverpflichtung Lieferengpässe für versorgungsrelevante Arzneimittel, die dann in einem öffentlich zugänglichen Online-Portal des BfArM abrufbar sind.
Eibenstein lobt das gewachsene Bewusstsein für die Problematik seitens der Industrie und das Miteinander der beteiligten Akteure, das auch losgelöst von Mitteilungen funktioniere und auf „Transparenz, Kooperation, Abstimmung“ basiere. Eine gesetzliche Verpflichtung zur Meldung von Engpässen besteht jedoch unverändert nicht für die Unternehmen. Welche Medikamente als versorgungsrelevant gelten, legt der besagte Jour Fixe, der mittlerweile in einen Experten-Beirat überführt wurde, fest. Darin vertreten sind neben Behörden wie dem BfArM und dem Paul-Ehrlich-Institut auch medizinische Organisationen und Industrieverbände.
Neue Ansätze beim Monitoring
Daneben setzt das BfArM seit Kurzem aber auch auf künstliche Intelligenz und Big Data. Das Institut erhebt umfangreiche Daten zu Produktionskapazitäten und Herstellungswegen und wertet diese mittels KI aus. Ziel ist es, Risikopotenziale möglichst lückenlos und weltweit abzubilden und Maßnahmen zu erarbeiten, die die kontinuierliche Verfügbarkeit aller Komponenten im Herstellungsprozess sicherstellen. Dafür bietet das BfArM den relevanten Akteuren unter anderem konkrete Beratungen an.
In Zukunft soll das Thema Lieferengpässe jedoch nicht mehr nur auf nationaler Ebene angegangen werden. „Auch Europa hat erkannt: Es bedarf einer harmonisierten Herangehensweise unter den Member States“, sagt Eibenstein. Mit Verweis auf aktuelle EU-Gesetzgebung kündigt sie zudem an: „Die EMA wird eine deutliche Erweiterung ihrer Kompetenzen im Bereich Lieferengpass-Management, -Koordination, -Festlegungen und -Maßnahmen erhalten.“ Noch sei die gesetzliche Grundlage dafür jedoch nicht in Kraft getreten.
Liefersicherheit muss sich lohnen
Bei der Diskussionsrunde wird deutlich: Die Initiativen des BfArM finden in der Praxis durchaus Anklang. „Es hat eine Weile gedauert und kam in Scheibchen“, resümiert Onkologe Prof. Bernhard Wörmann, Medizinischer Leiter der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Klinische Onkologie, mit Blick auf das verbesserte Lieferengpass-Monitoring. Aber: „Insgesamt sind wir froh, dass die Politik reagiert hat, auch wenn es vier bis fünf Jahre gedauert hat.“ Zwar wirkten sich schlagzeilenträchtige Lieferengpässe längst nicht in jedem Fall unmittelbar auf die Versorgung oder gar die Prognose der Patienten aus, doch aktuelle Beispiele wie das des kaum ersetzbaren Krebsmedikaments Vincristin machten deutlich: „Es muss alles getan werden, damit so etwas vermieden wird.“ Dies sei auch vor dem Hintergrund eines guten Arzt-Patienten-Verhältnisses unerlässlich. Aufgabe von Medizinerinnen und Medizinern sei es schließlich, Brücken zu bauen und Vertrauen zu schaffen. Dafür sei es „wichtig, dass wir Konstruktionen haben, die zuverlässig sind“, so Wörmann, der seine Feststellung mit einem Plädoyer für mehr europäische Arzneimittelproduktion verbindet: „Das muss qualitätsgesichert bei uns in der Region stattfinden, wo wir Einblick in die Herstellungsqualität haben und auch die Lieferketten selbst überwachen können.“
Kostendruck macht abhängig
In dieselbe Kerbe schlägt Prof. Frank Dörje, Leiter der Apotheke des Universitätsklinikums Erlangen und Präsidiumsmitglied beim Bundesverband Deutscher Krankenhausapotheker (ADKA). Er macht vor allem den Kostendruck im Gesundheitswesen für die zunehmende Abhängigkeit von asiatischen Herstellern verantwortlich. Niedrige Preise bei gleichbleibender Qualität und Zuverlässigkeit? „Das ist ein Trugschluss: Man kann nicht alles gleichzeitig haben“, mahnt Dörje. Er betont, auch mit Blick auf die Erfahrungen im Zuge der Corona-Pandemie: „Die Rückverlagerung von Produktionsprozessen ist sicherlich eine wichtige Erkenntnis.“
In Ergänzung hierzu schlägt Dörje vor, für Ausschreibungen von Krankenkassen künftig neben einem weltweiten auch ein ausschließlich europäisches Vergabesegment zu schaffen. Das geht jedoch nicht zum Nulltarif, denn: „Dann haben Sie möglicherweise auch zwei Preissegmente“, so Dörje. Er hält trotzdem an seinem Vorschlag fest und fordert: „Wir müssen dafür sorgen, dass sich Liefersicherheit auch lohnt.“
Lieferketten im Lichte der Menschenrechte
Johannes Klotz, Referent im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, bringt derweil einen weiteren Aspekt in die Diskussion ein. Im Ministerium hat er zuletzt das Lieferketten-Sorgfaltspflichten-Gesetz begleitet, das Unternehmen mit Sitz in Deutschland dazu verpflichtet, die Einhaltung der Menschenrechte in ihren Lieferketten sicherzustellen. Dazu müssen sie ab 2023 in einem abgestuften System unter anderem Risikoanalysen durchführen, Präventions- und Abhilfemaßnahmen entwickeln und einen Beschwerdemechanismus für Betroffene einrichten.
Von dem Gesetz erfasst werden allerdings nur große Unternehmen mit mindestens 3.000 (ab 2023) beziehungsweise 1.000 (ab 2024) Beschäftigten. Neben der Einhaltung der Menschenrechte soll das Gesetz auch für mehr Transparenz in den Lieferketten sorgen, betont Klotz, der darin auch einen unmittelbaren Nutzen in Bezug auf die Liefersicherheit erkennt: „Aus Unternehmenssicht lassen sich Lieferengpässe gut vermeiden, wenn man seine Lieferketten kennt, weiß, wo Probleme liegen und eine Risikoanalyse durchführt.“ Auch hier dürfte die nationale Regelung jedoch nur eine Übergangslösung darstellen. Ein Vorschlag der EU-Kommission für eine europäische Regelung soll noch in diesem Jahr vorgelegt werden, kündigt Klotz an.
Berlin (pag) – Wie viel Geld darf mit Gesundheit verdient werden? Keine einfache Frage, auf die es eine einfache Antwort gibt. Bei einer Diskussionsveranstaltung der apoBank geht es weniger um harte Zahlen als ums Grundsätzliche, vor allem um die reformbedürftige Krankenhausfinanzierung.
Ab wann ist eine Rendite nicht mehr in Ordnung? Diese Frage zu beantworten, sei „nicht trivial“, warnt Moderator Prof. Andreas Beivers, Gesundheitsökonom an der Hochschule Fresenius, gleich zu Beginn des apoBank-Talks mit Politikern und Ärzten. Wenige Sätze später ist Beivers sogar schon beim Unmöglichen: Die Frage nach einer anständigen Rendite werde man „nie beantworten können“. Wenn Erträge allerdings erzielt werden, sollten sie analog zum Leitbild des ehrbaren Kaufmanns wenigstens dem kollektiven Nutzen zugutekommen.
Fast zwangsläufig geraten da die privaten Krankenhausträger ins Visier von Dr. Wolfgang Albers, Berliner Gesundheitspolitiker (Die Linke). Es sei eine „Dreistigkeit“, mit der sich die Anteilseigner der privaten Einrichtungen am Gesundheitssystem bedienten, sagt er. Dazu komme, dass die Renditen auf Kosten der Belegschaft erwirtschaftet werden. Denn die Fallpauschalen sehen für die Krankenhäuser keine Gewinnmargen vor. „Die Personalkosten sind die Stellschrauben, mit denen im DRG-System Geld verdient werden kann“, so Albers.
Zwang zum Überschusserwirtschaften
Laut Beivers trifft der Zwang zum Überschusserwirtschaften aber nicht nur die privaten, sondern auch die übrigen Krankenhausträger. Grund dafür seien die fehlenden Investitionszahlungen aus den Ländern. Was hier fehle, müssten die Kliniken selbst aus dem Betrieb herausholen. FDP-Gesundheitspolitiker Prof. Andrew Ullmann hält deswegen die duale Krankenhausfinanzierung für dringend reformbedürftig. Sie funktioniere schon seit Jahrzehnten nicht. Er wie Albers fordern deshalb gleichermaßen, bei den Krankenhäusern über eine andere Form der Finanzierung nachzudenken.
„Warum müssen sich Krankenhäuser rechnen? Wir sollten als Gesellschaft doch eigentlich über leere Kliniken froh sein“, sagt Albers. Eine Frage, die sich Sven Supper, niedergelassener Kinderarzt am Bodensee, während seiner Zeit als Oberarzt auch gestellt hat. Als Praxisinhaber ist er einer Honorierung über pay for performance nicht abgeneigt. „Das wäre für mich ein Anreiz für qualitativ gute Arbeit.“ Vor allem für mehr Zeit und Empathie für Patienten müsste es mehr Honorar geben. Als Selbstständiger macht er zudem darauf aufmerksam, dass die wichtigen Lohnsteigerungen für die Medizinischen Fachangestellten im EBM berücksichtigt werden müssten. Dafür gebe es für niedergelassene Vertragsärzte keine Gegenfinanzierung.
Berlin (pag) – Die Ökonomie sollte nicht als Ökonomisierung verteufelt werden, sondern als Impulsgeber für eine bessere Versorgung genutzt werden. So lautet die Botschaft eines zwölfseitigen Strategiepapiers des Bundesverbandes Managed Care (BMC).
Das Papier mit dem Titel „Mehr Ökonomie wagen“ beschreibt das Dilemma leistungsfähiger Gesundheitssysteme: Je mehr aufgrund von medizinischem und technischem Fortschritt möglich sei, desto stärker werde der Finanzierungsdruck und desto bedeutender eine effiziente Ressourcenallokation. Die Pandemie habe das Potenzial, die Akteure aus tradierten Strukturen und Denkmustern zu lösen. Angesichts der sich abzeichnenden Verknappung finanzieller Ressourcen im Gesundheitswesen und dem daraus resultierenden Handlungsdruck wird eine sinnvoll ausgerichtete Ökonomie empfohlen, um Herausforderungen zu bewältigen und Impulse für eine Versorgung zu liefern, die sich tatsächlich am Outcome Gesundheit orientiere. „Lediglich eher ‘einfältige‘ Leistungskürzungen werden nicht genügen, es sind politische Reformen gefragt, die eine sinnvolle Allokation von Ressourcen in den Vordergrund stellen“, konstatieren die Autoren.
Teil des Solidarprinzips
Als zukunftsorientierte ökonomische Ansätze werden Value-based Health Care und Population Care in dem Papier genannt. Bei letzterem kann die Verantwortung für die Gesundheit bestimmter Populationen auf unterschiedliche Akteure übertragen werden. Value-based Health Care wird der Ansatz genannt, die Vergütung der Leistungserbringer nicht an der Menge der erbrachten Leistungen, sondern an den Behandlungsergebnissen auszurichten. Als leitendes Prinzip wird die Qualitätsverbesserung empfohlen; dieses sollte auch als ethisches Gebot und Teil des Solidarprinzips verstanden werden. Den Autoren zufolge kann ein solcher Kulturwandel nicht nur top-down gesteuert werden. Alle Akteure sollten sich auf die Suche nach zukunftsfähigen Versorgungsansätzen begeben.
Das Strategiepapier enthält neben diesen Appellen drei Thesen:
1. Messen, Vergleichen und Nutzen von Daten fördert die Qualität
Ökonomie schaffe Transparenz und befähige zu informierten Wahlentscheidungen, etwa durch Erhebung und Veröffentlichung aufbereiteter Versorgungsdaten zu Leistungserbringern und sektorenübergreifenden Behandlungsverläufen. Erwähnt wird auch der Einsatz von Real World Evidenz sowie Kennzahlen über Krankenkassen und -versicherungen.
2. Innovationen brauchen Handlungsspielräume und Leitplanken
Ökonomie setze auf den Abbau von Barrieren und Spielräume als Stimuli. Angemahnt werden verlässliche Leitplanken, die Förderung von unternehmerischem Handeln sowie eine kontinuierliche Strukturbereinigung mit Markt-
zugang und -austritt.
3. Veränderungen müssen vom Menschen her gedacht werden
Verhaltensökonomische Ansätze erzielten große Wirkungen durch Versorgungsmodelle, die sich an Lebenswelten orientieren. Das Honorieren von Qualität wird in diesem Zusammenhang ebenso genannt wie die Übernahme von Verantwortung für die Gesundheit von Patienten zu fördern.
Berlin (pag) – Bei der DGHO Frühjahrstagungsreihe „Onkologie und Ökonomie“ steht kürzlich die ambulante Krebsversorgung im Mittelpunkt. FDP-Gesundheitspolitiker Prof. Andrew Ullmann postuliert: „Die Zeit des onkologischen Einzelkämpfers ist vorbei.“ Krebsmediziner und Politiker diskutieren dort über ärztliche Zusammenarbeit, Sektorengrenzen und eine „MVZisierung“.
In der Ärzteschaft sei der ökonomische Druck enorm, konstatiert Ullmann, der selbst Mediziner ist. Von der Politik werde dieser Druck noch vergrößert. Der Gedanke, dass Gesundheit lediglich ein Kostenfaktor ist, sei ein Fehldenken und müsse verändert werden, fordert Ullmann. Allerdings verweist er auch darauf, dass im Gesundheitswesen eine Milliarde Euro pro Tag ausgegeben werden. „Da könnten wir effektiver sein“, findet er und bringt unter anderem Netzwerkstrukturen ins Spiel.
Einig ist man sich auf der Tagung, dass die Sektorengrenzen eine effektive Zusammenarbeit oft verhindern. „Interaktion ist ein ganz zentrales Thema, damit Patienten nicht gegen eine Wand laufen, wenn sie in die Klinik hineingehen oder aus ihr herauskommen“, unterstreicht der niedergelassene Onkologe Dr. Ingo Tamm. Der Versuch der Politik, die Sektorengrenzen mittels der ambulanten spezialfachärztlichen Versorgung (ASV) zu überwinden, ist für ihn jedoch nicht geglückt. Die ASV sei sehr starr, man könne dann nur mit jenen Versorgern zusammenarbeiten, mit denen man einen Vertrag abgeschlossen habe.
„Die Wirklichkeit ist aber, dass man als Praxis ganz viele Zuweiser hat, ambulante und stationäre.“ Tamms diplomatisches Fazit zum ersten Anlauf der ASV lautet daher: nicht überall ein Erfolgsmodell.
„Es gibt nicht gutes oder schlechtes Geld“
Von der Politik will Tamm, der am Kurfürstendamm in Berlin eine onkologische Schwerpunktpraxis betreibt, wissen, wie die „MVZisierung“ gesehen wird. Diese werde nicht nur von Kliniken betrieben. Hinter ihnen stünden in der Onkologie zum Großteil finanzstarke Holdings – „wie nimmt das die Politik wahr?“ Für die Grünen-Politikerin Kirsten Kappert-Gonther sind die Medizinischen Versorgungszentren eine enorme Bereicherung der Versorgungslandschaft. Wenn Private Equity Fonds in diese Versorgung gehen, sei das weder grundsätzlich gut noch grundsätzlich schlecht. Einerseits gebe es viele Liquiditätsmittel, die investiert werden wollen, und andererseits bestehe im medizinischen Bereich mit den teuren Apparaturen und hohen Vorhaltekosten ein Bedarf an Investitionen. Für Kappert-Gonther lautet die entscheidende Frage, wie diese Synergien genutzt werden können – ohne dass die ärztliche Therapiefreiheit eingeschränkt wird. „Es gibt nicht gutes oder schlechtes Geld, sondern wir müssen gucken, wie wir für die Strukturen von MVZ, Ärztenetzen etc. politisch einen Rahmen setzen, der die ärztliche Therapiefreiheit sicherstellt und Transparenz gewährleistet.“ Bei Letzterem sieht sie dringenden Handlungsbedarf, denn man wisse zum Teil nicht, welche Trägerstrukturen in der Versorgungslandschaft eine Rolle spielen. Ausgeschlossen werden müsse, dass ärztliche Leistung, Materialien, Geräte, Wartungen, Ersatzteile etc. in einer Hand liegen.
Debatte zur DRG-Weiterentwicklung und Ökonomisierung hält an
Berlin (pag) – Eine Ökonomisierung des Medizinbetriebs wird seit Jahren von Ärzten angeprangert. Jüngstes Beispiel ist der 118. Kongress der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft (DOG). Tatsächlich geht es bei dem Konflikt um weitaus mehr als eine Weiterentwicklung des DRG-Systems, wie sie gegenwärtig politisch angestrebt wird.
Auf der DOG-Veranstaltung im Oktober sind Fehlentwicklungen in der Augenheilkunde durch die zunehmende Ökonomisierung ein Schwerpunktthema. „Rettet die Medizin! Arzt-sein zwischen Patientenwohl und Wirtschaftlichkeit“, lautet der Titel der Keynote-Lecture von Prof. Peter Pramstaller. „Wir Ärzte müssen uns zum Wohl der Patienten und unserer nachfolgenden augenärztlichen Generationen dem Wirtschaftlichkeitsstreben entgegenstellen, wo es zu Verwerfungen führt“, sagt sein Kollege Hans Hoerauf, Direktor der Augenklinik der Universitätsmedizin Göttingen.
Die Fallpauschalen im Krankenhaus gelten gemeinhin als Treiber der Ökonomisierung, werden teils synonym damit verwendet. Allerdings ist in das DRG-System in jüngster Zeit Bewegung gekommen. Die Pflegepersonalkosten sind seit diesem Jahr aus den DRGs ausgegliedert. Der GKV-Spitzenverband bezeichnet das als „die nachhaltigste Veränderung im DRG-System seit seiner Einführung“. Dabei soll es offenbar nicht bleiben. Denn auch wenn es das Thema kürzlich nicht auf die Agenda der Gesundheitsministerkonferenz geschafft hat, so ist es doch im Bundestag sehr präsent.
Diskussionen im Bundestag
Bei einer Anhörung zum Krankenhauszukunftsgesetz regen kürzlich Experten im Gesundheitsausschuss Änderungen am Abrechnungssystem des Krankenhauswesens an. „Wir sprechen uns nicht dafür aus, das DRG-System in Gänze abzuschaffen“, betont Georg Baum, Hauptgeschäftsführer der Deutschen Krankenhausgesellschaft. Aber die Grundfinanzierung der Häuser müsse gesichert sein, um die Daseinsvorsorge zu gewährleisten. Gesundheitsökonom Prof. Jonas Schreyögg, Universität Hamburg, empfiehlt, „künftig mit Vorhaltepauschalen für bestimmte Fachabteilungen, geknüpft an enge Voraussetzungen, zu arbeiten“. Prof. Boris Augurzky, Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung, warnt vor einer kompletten Abschaffung des DRG-Systems. Es müssten aber „Modelle zu Regionalbudgets weiter ausgearbeitet und vor allem in ausgewählten Pilotregionen praktisch erprobt werden“.
Vorschläge zur Weiterentwicklung des DRG-Systems hat Schreyögg zuvor in einem Gutachten zur bedarfsgerechten Gestaltung der Krankenhausvergütung vorgestellt, das er mit Ricarda Milstein, Universität Hamburg, im Auftrag der Techniker Krankenkasse verfasst hat. „Eine Finanzierung von Vorhaltekosten für Strukturen der Leistungserbringung, beispielsweise für seltene Erkrankungen, Notfälle und die Grundversorgung auf dem Land, reduziert den finanziellen Druck von Krankenhäusern, ihre Strukturen über eine Fallzahlausweitung querfinanzieren zu müssen“, lautet ein Vorschlag der Autoren. Und eine Anpassung der Vergütung an exogene Kostenfaktoren, die nicht der Kontrolle des Krankenhauses unterliegen, sowie an Versorgungsstufen, die unterschiedliche Kostenstrukturen mit sich bringen, erhöhe die Fairness des Vergütungssystems. Außerdem entlaste es Krankenhäuser finanziell, die für ihre ungünstigen Kostenstrukturen nicht verantwortlich seien.
„Wir werden es liefern“
Bei der Haushaltsdebatte im Bundestag kurze Zeit später verdichten sich die Anzeichen, dass die Politik die Botschaften verstanden hat. „Wir brauchen ein gestuftes Versorgungssystem und darauf aufbauend ein Fallpauschalensystem“, das auch Vorhaltekosten berücksichtigen könne, sagt Karin Maag (CDU) und kündigt an: „Wir werden es liefern.“ Dr. Edgar Franke (SPD) erkennt ebenfalls Reformbedarf: „Die Fallpauschalen haben in der Vergangenheit dafür gesorgt, dass mehr operiert wurde, als eigentlich notwendig war und das nur, um Einnahmen zu erzielen, um mehr Geld zu verdienen.“ Auch beim jüngsten Krankenhausgipfel der Deutschen Krankenhausgesellschaft zeigt sich Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) offen für Änderungen am Fallpauschalensystem.
Änderungen ja, gänzlich abschaffen wohl eher nicht – das dürfte der politische Kurs sein. Denn erst im Sommer hat der Minister bei einer Veranstaltung der Robert-Bosch-Stiftung zwar eingeräumt, dass die DRGs nicht perfekt seien. Mit Verweis auf gleichzeitige Überversorgung insbesondere in den Ballungsgebieten und Unterversorgung in anderen Regionen stellt er jedoch klar: „Solange es keine bedarfsgerechte Versorgung gibt, ist die Idee, einfach Strukturen zu finanzieren, nicht richtig“. Er will einen nicht effizienten Ressourceneinsatz verhindern, vor der Diskussion über ein neues Vergütungssystem seien Strukturveränderungen im stationären Bereich notwendig.
Krankenhausbereich – politisch unsexy
Dass es zu einer solch grundsätzlichen Strukturreform noch in dieser Legislatur kommt, ist jedoch unwahrscheinlich. Vielleicht sind die politischen Gestalter aber gar nicht so unglücklich darüber, dass Corona die Reformagenda gehörig durcheinandergebracht hat. Denn das Thema ist ein undankbares, findet beispielsweise Rudolf Mintrop, Vorsitzender der Geschäftsführung des Klinikums Dortmund. Die Klinken seien hierzulande aufgerieben zwischen den Zuständigkeitsebenen Bund, Länder, Kommunen und Selbstverwaltung und geteilt in Non-Profit- und For-Profit-Kliniken. Es gebe eine Vielzahl von Vorstellungen. „Deswegen ist der Krankenhausbereich so vernachlässigt, zerklüftet und politisch unsexy”, findet der Klinikmanager.
Solange aber eine grundlegende Strukturreform nicht angegangen wird, bringt eine Weiterentwicklung des DRG-Systems nur wenig. Das ist in einem Thesenpapier von Leopoldina-Wissenschaftlern nachzulesen, das zwar schon einige Jährchen auf dem Buckel hat, aber die gegenwärtige Situation noch immer zutreffend beschreibt. Darin postulieren Gesundheitsökonomen, Juristen und Ärzte, dass eine Weiterentwicklung des DRG-Systems allein nicht ausreiche, um die ökonomischen Fehlentwicklungen zu beheben – wenn gleichzeitig der politische Wille fehle, die Krankenhausstruktur grundlegend zu verändern. Und weiter: Die politischen Entscheidungsträger müssten die Bedingungen so gestalten, dass es für alle Akteure – auch aus ökonomischer Sicht – sinnvoll ist, sich nachhaltig auf das Patientenwohl zu verhalten. Die Experten fordern einen tatsächlichen Qualitätswettbewerb unter einer geringeren, aber besser ausgestalteten Anzahl von Krankenhäusern. Die politische Zurückhaltung bei der Gestaltung des Krankenhauswesens führe nur dazu, dass „die Probleme über die DRGs auf die praktische Arbeitsebene nach unten durchgereicht werden“. Daraus resultierten die bekannten Probleme wie Arbeitsverdichtung, Unzufriedenheit der Mitarbeiter, Personalmangel etc.
Festzuhalten ist daher, dass es bei der Kritik an einer Ökonomisierung nicht darum gehen sollte, Medizin und Ökonomie gegeneinander auszuspielen. Medizin kann es nicht in einem ökonomiefreien Raum geben. Vielmehr stehen dahinter ungelöste Strukturfragen, vor denen sich die Politik noch immer drückt.
Bundesrechnungshof zeichnet düsteres Bild
Der Bundesrechnungshof regt für die Krankenhausversorgung eine Grundgesetzänderung an. Dadurch könnten Finanzierungs- und Planungsverantwortung wieder zusammengeführt werden. In dem Bericht „über die Prüfung der Krankenhausfinanzierung durch die gesetzliche Krankenversicherung“ sieht die Behörde das duale Finanzierungssystem als gescheitert an. „Die Länder entscheiden nach der gesetzlichen Systematik alleinverantwortlich über Standorte und Schwerpunkte der Versorgung. Ihrer Finanzierungsverantwortung kommen sie indes nicht nach, große Teile der investiven Kosten werden zweckwidrig aus Mitteln der GKV-Beitragsgemeinschaft bestritten“, lautet die Lagebeschreibung. Finanzierungs- und Planungsverantwortung sollten in eine Hand gelegt werden. „Dies schließt eine Änderung grundgesetzlicher Bestimmungen notwendigerweise ein“, heißt es. Generell zeichnet der Bundesrechnungshof ein düsteres Bild der derzeitigen Krankenhauslandschaft in Deutschland: „40 Prozent der Krankenhäuser verzeichnen Verluste, für über ein Zehntel besteht erhöhte Insolvenzgefahr.“ Der Ab- und Umbau von Kapazitäten sowie die Schließungen von Häusern oder Abteilungen verlaufe ungesteuert. „Es besteht keine übergreifende Zielsetzung zwischen Bund und Ländern, wie die Versorgungsstrukturen weiterentwickelt werden sollen.“
Berlin (pag) – 15 ärztliche Verbände, darunter der Spitzenverband der Fachärzte Deutschlands, der Hartmannbund und der Berufsverband der Frauenärzte, haben ein Memorandum zum freiem Beruf Arzt „im Konflikt von Medizin und Ökonomie“ veröffentlicht. Sie fordern darin: Krankenhausärzte sollen wieder wirtschaftlich unabhängiger vom Klinikträger werden.
Der Medizinbetrieb werde immer mehr durch ökonomische Rahmenbedingungen gesteuert, das Patientenwohl drohe damit unter die Räder zu geraten, wird in dem Papier konstatiert. Garant dafür, dass Patienten möglichst unabhängig von ökonomischen Einflüssen behandelt werden, sei die freie Berufsausübung des Arztes. Freie Berufe, wird ausgeführt, unterliegen einer grundsätzlichen Bindung an das Gemeinwohl.
Die Autoren stellen klar: „Auch der angestellte Arzt im Krankenhaus ist freiberuflich tätig und hat sich konsequent an seine Berufsordnung zu halten.“ Tatsächlich aber sei der freie Beruf durch die wirtschaftliche Abhängigkeit zum Arbeitgeber Krankenhaus infrage gestellt worden – unter anderem durch das „Abdingen des Rechts auf direkte eigenverantwortliche Liquidation beim Patienten an den Träger des Krankenhauses“. Früher seien auch leitende Ärzte unabhängiger gewesen, weil sie durch persönliche Ermächtigungen bei der vertragsärztlichen Versorgung beteiligt oder ambulant oder stationär privatärztlich tätig waren.
Die Ärzteverbände fordern, das Prinzip des freien Berufs zu stärken, indem der Krankenhausarzt in seiner medizinischen Indikationsstellung, der Wahl der Therapie, aber auch wirtschaftlich wieder unabhängiger vom Klinikträger wird. Konkretisiert wird nur Letzteres: Bis hinein in die Berufsordnung sei zu regeln, „dass die rechtlichen Grundlagen für die beschriebenen Nebeneinnahmen nicht mehr vertraglich abgedungen werden dürfen, wenn diese Leistungen höchstpersönlich erbracht werden müssen“.
Ein Streitgespräch mit Dirk Balster und Dr. Axel Meeßen
Berlin (pag) – Im Streit um Krankenhausabrechnungen sind MDK und Krankenhäuser erbitterte Kontrahenten. Umso überraschender, dass bei einem von Gerechte Gesundheit und der Arbeitsgemeinschaft kommunaler Großkrankenhäuser organsierten Streitgespräch auch gemeinsame Positionen entdeckt werden. Dirk Balster vom Klinikum Chemnitz und Dr. Axel Meeßen vom MDK Berlin Brandenburg über ein krankes System und Reformversuche des Gesetzgebers.
Die Lobby fährt bei den Krankenhausabrechnungen schweres Geschütz auf. Selbst der Minister spricht von Irrsinn und Wahnsinn. Wie wirkt sich das auf die Zusammenarbeit vor Ort aus? Wird der Ton rauer?
Balster: Der ist seit mehreren Jahren mehr als rau. Wir haben eine sehr angespannte Situation.
Und bei Ihnen, Herrn Meeßen?
Meeßen: Natürlich geht es kontrovers zu. Aber das Eine ist, in der Sache hart zu sein und das Andere, trotzdem respektvoll miteinander umzugehen. Und das erwarte ich von allen Beteiligten.
Der GKV-Spitzenverband verkündet immer wieder, dass jede zweite geprüfte Krankenhausabrechnung falsch sei. Rechnen die Kliniken wirklich so viel falsch ab?
Meeßen:Jeder der Beteiligten – Krankenhaus, Kasse und MDK – verhält sich aus der Innensicht des Systems absolut logisch und nachvollziehbar, weil bestimmte Anreize gesetzt werden. Aus der Außensicht ist das System an manchen Stellen krank.
Balster: Aus meiner Sicht ist das System sogar am Ende. Wir verbrennen unsere Fachkräfte in Dokumentation, Verteidigung und Abrechnung. Die Gesetzgebung verschärft den Pflegemangel. Um zusätzliche Erlöse zu generieren, versuchen die Kliniken, neue Bereiche aufzubauen. Dabei stehen wir in einem Hyperwettbewerb um Fachkräfte. Der Personalmarkt stellt eine immense Belastung für die Krankenhäuser dar. Und auf der anderen Seite begegnet uns der MDK mit 2.100 Vollzeitkräften, von denen ungefähr die Hälfte in der Abrechnungsprüfung beschäftigt sind. Wir Kliniken befinden uns in der Defensive.
Fast jedes zweite Krankenhaus stockt das Personal fürs Codieren auf. Beim MDK sieht es nicht viel anders aus. Immer mehr Ressourcen fließen in Überwachung und Kontrolle. Wie lange geht das noch so weiter?
Meeßen: Vollkommen richtig ist, dass das System kompliziert ist. Wir haben zig Codes für Krankheiten und Prozeduren. Die Gemeinsame Selbstverwaltung legt fest, wann was und wie codiert werden kann und darf. Und die Kalkulationshäuser bilden die Realität für die deutsche Kliniklandschaft ab. Das Ziel ist ja nicht, den Krankenhäusern weniger Geld zu geben, als da ist. Eigentlich müsste jedes Krankenhaus eine adäquate Vergütung bekommen, wenn es den Aufwand abgebildet über Krankheit und Maßnahmen codiert angibt.
Aber?
Meeßen: Es gibt Lücken. Eine ist die fehlende Investitionskostenfinanzierung durch die Länder. Die fehlt in den Kliniken und muss aus den DRGs gedeckt werden, die dafür nicht kalkuliert sind.
Was sind weitere Lücken?
Meeßen: Alle reden von Digitalisierung. Das sind Zusatzinvestitionen. Ich sehe nicht, dass die Länder den Krankenhäusern dafür zusätzlich Geld geben. Am schlimmsten ist aus meiner Sicht aber, dass die privaten Häuser – immerhin ein Drittel aller Kliniken – versuchen, zehn Prozent ihres Gewinns an die Aktionäre abzugeben. Dabei ist unsere Krankenhauslandschaft ein Teil der Daseinsvorsorge. Es ist daher ein fataler Fehler, die Kliniken in den Markt zu schicken.
Bleiben wir noch bei der Abrechnung. Wie viel Interpretationsspielraum gibt es bei den Codier-Richtlinien?
Balster: Hundertprozentig sauber beschrieben ist das nicht. Ein weiteres Problem ist: Die Krankenkassen trennen ganz klar zwischen dem Budget-Verhandlungsteam und dem Abrechnungsteam. Und die Abrechner interessieren sich zunehmend nicht mehr dafür, was das Budget-Team vorher verhandelt hat. Beispielsweise wurde zur Versorgungssicherung in der Onkologie ein teilstationärer Satz plus Zusatzentgelt für die Chemotherapien vereinbart. Der MDK sagt aber, dass es keine Indikation für einen teilstationären Fall gebe. Wir bekommen also die 300 Euro für den teilstationären Satz nicht – was nicht weiter schlimm ist. Allerdings haben wir den Patienten mit Medikamenten für 4.000 bis 5.000 Euro versorgt. Die werden nicht bezahlt. Der MDK ist da ein seelenloses, weil starres, Prüfinstrument.
Herr Meeßen, wie seelenlos ist der MDK?
Meeßen: „Seelenlos“ hört sich negativ an. Zu viel Seele und Menschlichkeit würden zu viel Interpretationen ermöglichen. Eine positive Seite der Seelenlosigkeit ist, dass wir überprüfen, ob es verbindliche Regeln gibt und wie diese anzuwenden sind. Unsere bundesweite Abrechnungsgruppe überprüft wiederkehrende Konflikte und gibt Empfehlungen, die auch veröffentlicht werden. Das sind Maßnahmen, um Interpretationsspielräume zu reduzieren.
Aber im Grunde haben die Krankenhäuser doch keine Planungssicherheit. Sie behandeln Patienten, schreiben Rechnungen und wissen am Ende nicht, ob sie wirklich das Geld bekommen.
Meeßen: Das sehe ich etwas anders, schließlich gibt es für die Kliniken keinen ökonomischen Anreiz, richtig abzurechnen. Daher sagt derjenige, der das bezahlen muss: „Das möchte ich jetzt aber gerne wissen.“ Die Kassen bekommen allerdings immer weniger medizinische Daten von den Patienten. Die MDK-Gutachter haben die Aufgabe, Prozeduren und Abrechnung anzusehen, um zu kontrollieren, ob es Probleme gab. Wir sind ziemlich berechenbar bei der Frage, was für uns strittig ist und was nicht. Mein Anspruch ist, dass es keine Überraschung gibt und dass die Krankenhäuser im Vorhinein wissen, wie wir die Sache einschätzen werden.
Seelenlos, aber berechenbar.
Meeßen: Das ist die positive Seite von Seelenlosigkeit.
Herr Balster, das erleben Sie anders?
Balster: Ein konkretes Beispiel für eine Rechnungssituation: Bei der Abrechnung der Schlaganfall-Komplexpauschale muss die Temperatur beim Patienten regelmäßig gemessen werden, auch in der Nacht ist er dafür zu wecken. Eine fehlende Temperaturabnahme nachts um zwei Uhr führt dazu, dass die Pauschale nicht gezahlt wird. Da stelle ich mir schon die Frage nach der Sinnhaftigkeit der Prüfung. Das gleiche gilt für die Strukturmerkmalprüfung.
Inwiefern?
Balster: Stichwort Pränatalmedizin: Unser Klinikum hat die einzige Frühchenstation Level 1 im Umkreis von 80 Kilometern. Der MDK wollte uns über zwei Jahre diese Bezeichnung nicht zuerkennen, weil zwei oder drei Mal im Betrachtungszeitraum die pflegerische Besetzung in der Nacht nicht den Strukturmerkmalen entsprochen hätte. In der Konsequenz hätte dies zur Folge gehabt, dass die Versorgung in Chemnitz eingestellt worden wäre und 500 Gramm schwere Babys durch das Land nach Dresden oder Leipzig gefahren werden. Was ist der Sinn der Rigidität eines solchen Prüfverfahrens? Geht es den Kassen um Strukturpolitik?
Meeßen: Bei der Selbstverwaltung werden bestimmte Regeln vereinbart. Wenn ein bestimmter Parameter immer zu erfüllen ist, dann muss er eben auch immer erfüllt werden. Als Krankenhausträger würde ich gerne Vereinbarungen treffen, bei denen der Parameter in 98 Prozent der Fälle zu erfüllen ist – und intern strebe ich 100 an. Dann sind die zwei Prozent, bei denen etwas vergessen wird, nicht so schlimm. Ein systematisches „Vergessen“ wäre gleichzeitig so nicht möglich.
Balster: Am Ende des Tages bleibt doch die Frage, welche Zielsetzung die Krankenkasse verfolgt. Bei einer bundesweit tätigen Ersatzkasse wussten wir uns vor vier Jahren nicht mehr anders zu helfen, als 1.750 Fälle an einem Tag zu Gericht zu tragen. Mittlerweile ist davon etwa die Hälfte der Fälle mit 55 Prozent des Streitwertes – das sind etwa 1,5 Millionen – entschieden. Unsere Verfahrenskosten liegen bei rund 760.000 Euro und die der Krankenkassen vermutlich auch. Das heißt, dass wir mit dem Versuch uns anzunähern bereits 1,5 Millionen Euro zu Anwälten und Gerichten getragen haben.
Geld, das in der Versorgung fehlt. Der Bundesrechnungshof kritisiert diese Mechanismen, die zu Lasten der Patienten gehen. Ist das auch in Ihrem Haus so?
Balster: In meiner Region spüren wir einen massiven Fachkräftemangel beim Ärztlichen Dienst. Hinzu kommen Dokumentationspflichten, die die Mediziner davon abhalten, ihren ärztlichen Pflichten nachgehen zu können.
Das heißt, sie müssen sich überlegen, ob der Arzt jetzt dokumentiert oder am Patientenbett steht.
Balster: Ja.
Kommen wir zum MDK-Reformgesetz. Wird damit das kranke System geheilt? Und kommen Sie, Herr Balster, damit aus Ihrer Verliererposition heraus?
Balster: Das Gesetz bringt sicherlich Verbesserungen mit sich, die aber nicht maßgeblich helfen werden. Dennoch haben wir die Hoffnung, dass eine Neutralisierung des MDKs hilfreich sein könnte.
Herr Meeßen, Sie werden demnächst völlig unabhängig von den Krankenkassen. Was ändert sich für Sie?
Meeßen: An der Arbeit unserer Gutachter ändert sich nichts, denn nicht ich oder der Verwaltungsrat machen diese Arbeit. Die organisationsrechtlichen Änderungen beeinflussen die Gutachter überhaupt nicht.
Im Verwaltungsrat sitzen künftig auch Patienten- und Pflegevertreter.
Meeßen: Diejenigen, die im Verwaltungsrat sitzen, haben nichts mit der inhaltlichen Arbeit zu tun. Bereits heute ist das ganze operative Geschäft in der Verantwortung der Geschäftsführung und des leitenden Arztes – und nicht in der des Verwaltungsrates. Durch das Gesetz wird sich im operativen Tun nichts verändern.
Die Strukturprüfungen haben im vergangenen Jahr für viel Wirbel gesorgt. Der Gesetzgeber plant daher einige Änderungen, wie bewerten Sie diese?
Meeßen: Für die Kliniken soll das Geschäft berechenbarer werden. Heute werden die Anforderungen teilweise im Einzelfall geprüft – und auch nach der Leistungserbringung. Das Ganze soll jetzt umgedreht werden: Das Krankenhaus lässt die Anforderungen vorab vom MDK prüfen, holt sich einen Stempel, geht damit zu den Kassen und fordert die Leistung in der Budgetverhandlung. Solange sich an den Voraussetzungen nichts ändert, hat es damit die Gewähr, dass die Leistung bezahlt wird.
Eine gute Idee, Herr Balster?
Balster: Grundsätzlich ja. Gleichzeitig muss aber auch gesehen werden, wie diese Anforderungen zu realisieren sind. Und es muss geklärt werden, welche Risiken dadurch für die weitere Versorgung entstehen. Die Strukturprüfungen dürfen nicht die Versorgung gefährden.
Meeßen: Eine wichtige Grundsatzfrage bleibt übrigens ungeklärt: Private Kliniken müssen für ihren Träger Gewinn machen. Aber in der Logik unseres Systems ersetzen DRGs den Aufwand. Wie kann man einen Gewinn abziehen und gleichzeitig korrekt seinen Aufwand abrechnen?
Balster: Da sind wir einer Meinung. Als kommunales Großkrankenhaus betreiben wir Daseinsvorsorge und tragen in der Region die Verantwortung. Elf Millionen Euro ergebniswirksame Abschreibungen für Investitionen, die wir für die Patientenvorsorge getätigt haben, müssen wir refinanzieren. Durch private Krankenhausbetriebe und -ketten werden Mittel aus dem System gezogen. Und auf die grundsätzliche Frage, welche Krankenhausstruktur nachhaltig und dauerhaft finanzierbar ist, haben wir hierzulande noch keine Antwort gefunden.
Herr Balster, zum Abschluss unseres Gesprächs stellen Sie sich bitte vor, Herr Meeßen würde einige Tage bei Ihnen hospitieren. Was wäre das größte Aha-Erlebnis für ihn?
Balster: … dass es das Prinzip der bewussten Falschabrechnung nicht gibt. Das gibt es nicht in unserem Haus, den Versuch würden wir gar nicht wagen. Wir machen Right-Coding und versuchen die Leistungen, die wir erbracht haben, abzurechnen. Für Sie, Herr Meeßen, wäre es sicher auch interessant zu sehen, wie viele Leistungen, die wir erbracht haben, mit null vergütet werden.
Herr Meeßen, was wäre das Wichtigste, das Herr Balster im MDK lernen könnte?
Meeßen: Sie bekommen mit, wie es möglich ist, dass man sich über grundsätzliche Dinge, bei denen man auseinander liegt, verständigt und festlegt, wie es künftig gehandhabt wird. Wenn uns das System schon unlösbare Aufgaben gibt, sollten wir versuchen, es so gut wie möglich hinzubekommen. Ich wäre für Rahmenbedingungen dankbar, die den Kliniken ökonomische Anreize setzen, richtig abzurechnen. Bei korrekter Abrechnung könnte man den Aufwand herunterfahren und mehr Leute könnten in die Versorgung zurück. Denn auch das würden Sie bei uns mitnehmen: Um jede Stellenmehrung im ärztlichen Bereich tut
es mir für die Versorgung weh.
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On and off the record Das Streitgespräch zwischen Dr. Axel Meeßen und Dirk Balster ist Teil der Veranstaltung „MDK-Prüfungen – Wettrüsten im Krankenhaus“, zu der Gerechte Gesundheit und die Arbeitsgemeinschaft kommunaler Großkrankenhäuser eingeladen haben. Moderation: Lisa Braun und Antje Hoppe. Nach dem Streitgespräch gab es eine angeregte Diskussion mit den geladenen Gästen. Diese ist jedoch off the record – und damit nicht Teil unserer Berichterstattung.
Berlin (pag) – Erbittert wird in Deutschland um Krankenhausabrechnungen gestritten – auf der einen Seite die Krankenkassen und ihre Medizinischen Dienste (MDK), auf der anderen die Krankenhäuser. Der Ton zwischen ihnen ist rau, die Bandagen sind hart. Verursacht wird die Auseinandersetzung durch einen tiefer sitzenden, ungelösten Systemkonflikt.
Zwischen dem Streit um Krankenhausabrechnungen und dem Kalten Krieg bestehen erstaunlich viele Parallelen: Wir erleben einen Systemkonflikt, Polarisierungen, Stellvertreterkonflikte und einige Nebenkriegsschauplätze. Man könnte sich sogar bei der Klagewelle des vergangen Herbstes und dem daraufhin einberufenen Krisengipfel im Bundesgesundheitsministerium (BMG), an dem Kassen- und Klinikvertretern teilnehmen, an die Kubakrise erinnert fühlen.
Der Krisengipfel beim Minister wurde einberufen, nachdem sich im November vergangenen Jahres die Sozialgerichte innerhalb kürzester Zeit mit zehntausenden Klagen von Krankenkassen auf Rückzahlung abgerechneter Krankenhauskosten konfrontiert sahen. Auslöser dieser Klagewelle: ein Passus im Pflegepersonal-Stärkungsgesetz, der die Rückforderungsansprüche der Kassen gegen die Krankenhäuser rückwirkend von vier auf zwei Jahre verkürzt. Eine Übergangregelung lässt den Kassen bis zum 9. November 2018 Zeit, um Ansprüche, die vor dem 1. Januar 2017 entstanden waren, gerichtlich geltend zu machen. Der daraufhin einsetzende Klage-Tsunami konterkariert die eigentliche Intention des Gesetzgebers, nämlich für mehr Rechtsfrieden zu sorgen.
Zoff um Strukturmerkmale
Zuvor hat nämlich insbesondere die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) für böses Blut zwischen Kassen und Krankenhäusern gesorgt. Dabei geht es unter anderem um eine für die Schlaganfallbehandlung notwenige Strukturvorgabe: Eine Neurochirurgie muss entweder im Haus oder innerhalb von 30 Minuten erreichbar sein. Das BSG legt fest: „Dieser Zeitraum beginnt mit der Entscheidung, ein Transportmittel anzufordern, und endet mit der Übergabe des Patienten an die behandelnde Einheit des Kooperationspartners.“ Die Krankenhäuser haben bislang die 30 Minuten gemäß der Angaben des DIMDI auf die reine Transportzeit, Fahrzeit des Rettungswagens oder Flugzeit des Rettungshubschraubers, bezogen.
Dazu muss man wissen: Manche Leistungen im Krankenhaus werden anhand von sogenannten Komplexcodes abgerechnet. In ihnen sind bestimmte Strukturmerkmale enthalten, die das Krankenhaus erfüllen muss. Strukturmerkmale könne etwa die Anzahl und die Qualifikation beim Personal betreffen. Die Ausgestaltung von Komplexcodes erfolgt in der Zeit von April bis September für das folgende Jahr, federführend ist das DIMDI. Viele Komplexcodes sind – zum Teil erheblich – entgeltrelevant, erläutert der GKV-Spitzenverband in einem Positionspapier. Darin heißt es auch: „Die Prüfung der Krankenhausabrechnung von Komplexbehandlungen war besonders im Jahr 2018 streitbefangen.“
„Misstrauenskultur“ und „Falschabrechner“
Streitbefangen klingt fast noch harmlos angesichts der zahlreichen und erbitterten Auseinandersetzungen und Klagen, die landauf und landab um Krankenhausabrechnungen geführt werden. Entsprechend rau ist der Ton bei den Lobbyisten in Berlin. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft etwa konstatiert, dass das Prüfsystem für Krankenhausabrechnungen „außer Kontrolle“ geraten sei. Es sei geprägt von einer überzogenen Misstrauenskultur durch die Krankenkassen, während sich die Kliniken in einer systematischen Verliererposition befänden. Naturgemäß anders sieht der Medizinische Dienst der Krankenversicherung die Lage. Er prüft im Auftrag der Kassen die Klinikrechnungen. Andreas Hustadt, Geschäftsführer des MDK Nordrhein, befürchtet angesichts einer sehr heterogenen Abrechnungsqualität der Kliniken, „dass das Ziel der richtigen und gerechten Vergütung im Krankenhausbereich verfehlt wird“. Der GKV-Spitzenverband wiederum hat den Eindruck, dass „Falschabrechner“ geschützt werden, da Krankenhäuser und Politik sich ausschließlich auf Prüfquoten der Krankenkassen fokussierten, die als Stein des Anstoßes gelten.
Wahnsinnig oder nachvollziehbar?
So ganz falsch scheint der Kassenverband mit seiner Einschätzung nicht zu liegen, immerhin warf Bundesgesundheitsminister Jens Spahn den Kassen auf dem Deutschen Krankenhaustag 2018 vor, mit „Irrsinn, Starrsinn und Wahnsinn“ unterwegs zu sein. Verhalten sich die Kassen tatsächlich so irrational? Diese Diagnose ist nicht zutreffend, denn tatsächlich agieren alle Beteiligten höchst rational und folgen den Spielregeln des Systems: Die im Wettbewerb stehenden Krankenhäuser sind angesichts der unzureichenden Investitionskostenfinanzierung der Länder darauf angewiesen, aus DRGs und Zusatzentgelten zusätzliche Eigenmittel zu generieren. Bei den Kassen läuft der Wettbewerb vor allem über die Zusatzbeiträge. Der unterschiedliche Erfolg der Abrechnungsprüfung hat wiederum Einfluss auf die Höhe der jeweiligen Beiträge, wie unlängst der Bundesrechnungshof festgestellt hat.
Dr. Axel Meeßen, Geschäftsführer des MDK Berlin-Brandenburg, bringt das Problem wie folgt auf den Punkt. Auf einem von Gerechte Gesundheit veranstalteten Streitgespräch (lesen Sie dazu Seite 12) sagt er: „Jeder der Beteiligten – Krankenhaus, Kasse und MDK – verhält sich aus der Innensicht des Systems absolut logisch und nachvollziehbar, weil bestimmte Anreize gesetzt werden.“ Aus der Außensicht sei das System an manchen Stellen krank. Sein Kontrahent an dem Abend, Dirk Balster, findet sogar, dass das System „am Ende“ sei, so der kaufmännische Geschäftsführer des Chemnitzer Klinikums.
Systembedingtes Wettrüsten
Im Unterschied zum ambulanten Sektor, wo die Kassenärztlichen Vereinigungen das Honorar der Ärzte von den Kassen mit befreiender Wirkung erhalten und selbst verteilen, findet im stationären Sektor mittlerweile ein systembedingtes Wettrüsten statt. Balster sagt: „Wir verbrennen unsere Fachkräfte in Dokumentation, Verteidigung und Abrechnung.“ Der aktuellen Krankenhauscontrolling-Studie zufolge gibt fast jedes zweite Krankenhaus (47 Prozent) an, in den letzten drei Jahren einen Personalzuwachs bei Codierfachkräften zu verzeichnen. Ähnlich sehe es beim MDK-Management aus, wo 37 Prozent der Häuser Personal aufstocken.
Auf der anderen Seite der MDK: 15 Dienste mit insgesamt fast 10.000 Mitarbeitern. Diese haben im vergangenen Jahr 5.729.000 sozialmedizinische Empfehlungen für die Krankenversicherung erstellt, davon 2.580.000 Krankenhausabrechnungsprüfungen. Beim MDK Baden-Württemberg gibt es eine sozialmedizinische Expertengruppe, die sich speziell mit Vergütung und Abrechnung beschäftigt und Codierempfehlungen formuliert. Nicht bekannt ist, wie viel Ressourcen und Personal die Kassen darüber hinaus selbst in den Kampf um Krankenhausabrechnungen stecken.
Auf dem Rücken der Patienten
Das Fatale an diesem Wettrüsten ist, dass sich die dadurch gebundenen finanziellen und personellen Kapazitäten zunehmend zu Lasten der Patientenversorgung auswirken. Das kritisiert der Bundesrechnungshof in einem aktuellen Bericht zu dem Thema. Darin schätzt er, dass alle Krankenkassen in 2016 Rückforderungen von 2,2 Mrd. Euro durchsetzten. Dem stand im GKV-System ein vermuteter Aufwand von knapp 800 Millionen Euro gegenüber. Hinzu kommt Aufwand bei den Krankenhäusern, den der Bundesrechnungshof nicht beziffern kann.
Der Gesetzgeber hat Handlungsbedarf erkannt und will mit dem MDK-Reformgesetz gegensteuern. Es sieht eine Reihe von Änderungen bei den Rechnungsprüfungen vor, außerdem soll der MDK unabhängig von den Krankenkassen werden. Sowohl Kassen als auch Krankenhäuser können in dem Gesetzentwurf zwar positive Aspekte erkennen, doch das Problem der widersprüchlichen Systemanreize bleibt weitgehend ungelöst.
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So beschreibt der Bundesrechnungshof den Systemkonflikt
Krankenhäuser betreiben zur Optimierung ihrer Abrechnungen gegenüber Krankenkassen einen hohen Aufwand, der zunehmend auch ärztliches Personal bindet. Notwendige Investitionen erhöhen den Druck, bei Krankenhausabrechnungen möglichst „hoch zu codieren“ – auch, um sich gegenüber anderen Krankenhäusern Wettbewerbsvorteile zu verschaffen. Hinzu kommt, dass Krankenhäuser keine monetären Sanktionen befürchten müssen, wenn sie zu viel abrechnen. Auch dies schafft Anreize, die Möglichkeiten des DRG-Systems auszuschöpfen. .
Bei Krankenkassen besteht eine vergleichbare Situation. Sie betrachten Abrechnungsprüfungen und die erzielten Rückzahlungen ebenfalls als besonders wettbewerbsrelevant. Eine Ausweitung der Prüfungen lohnt sich grundsätzlich, weil dadurch noch mehr fehlerhafte Abrechnungen identifiziert und weitere Rückzahlungen erzielt werden. Allerdings werden die Krankenkassen durch die Aufwandspauschalen an die Krankenhäuser in den Fällen belastet, in denen die Überprüfung zu keiner Minderung des Abrechnungsbetrages führt. Diese Zahlungen beliefen sich im Jahr 2016 auf 144,5 Millionen Euro.