Wenn Überleben zur Glückssache wird

Zu oft übersehen: die seltenen Krebserkrankungen

Berlin (pag) – Zwar werden neue Fortschritte in der Onkologie kontinuierlich vermeldet, aber gerade bei den seltenen Krebserkrankungen ist die Situation immer noch äußerst unbefriedigend. Auf dem Kongress Vision Zero tauschen sich Expertinnen und Experten kürzlich über Defizite und Vorbilder aus. Patientenvertreter Markus Wartenberg hält fest: „Da gibt es ganz viel, was wir in den nächsten Jahren besser machen müssen.“

Annährend jeder vierte neue Krebspatient erkrankt hierzulande an einer seltenen Krebsform. Das sind rund 120.000 Neuerkrankungen pro Jahr. Das Spektrum umfasst über 200 Diagnosen. Ein entscheiden-der Unterschied zwischen den häufigen und seltenen Krebsarten besteht hinsichtlich der Fünf-Jahres-Überlebensrate. „Mit 47 Prozent ist diese bei Rare Cancer signifikant schlechter als bei Common Cancer mit 65 Prozent“, berichtet Prof. Bernd Kasper bei Vision Zero.

© istockphoto.com, Sarawut
© istockphoto.com, Sarawut.

Netzwerke helfen

„Signifikant schlechtere“ Überlebensrate: Prof. Bernd Kasper © Deutsche Sarkom Stiftung
„Signifikant schlechtere“ Überlebensrate: Prof. Bernd Kasper © Deutsche Sarkom Stiftung

In seinem Impuls stellt der Ärztliche Geschäftsführer des Mannheim Cancer Centers die Herausforderungen seltener Krebserkrankungen am Beispiel der Sarkome dar. Dabei handelt es sich um seltene, bösartige Tumore, die vom Bindegewebe, Knochen und Muskeln ausgehen können. Genaue Zahlen zu Prävalenz und Inzidenz gibt es in Deutschland nicht, Experten gehen von bis zu 6.000 Fällen pro Jahr aus. Kasper weist auf die große Heterogenität dieser Krebsform hin: Es gebe 175 Subgruppen und -typen mit jeweils ganz unterschiedlichen Behandlungsstrategien. Rezidive könnten sogar noch nach 20 Jahren auftreten.
Trotz schwieriger Ausgangslage kann Kasper von einigen Erfolgen berichten: Mittlerweile existieren rund 20 zertifizierte Sarkom-Zentren, auch eine S3-Leitlinie gibt es. Auf europäischer Ebene haben sich zudem eine Reihe von Netzwerken zu seltenen Krebserkrankungen etabliert. Der Onkologe nennt unter anderem RareCareNet und Rare Cancers Europe. Als jüngste Initiative hebt er die 20 European Reference Networks (ERN) hervor. Davon kümmern sich vier um das Thema Krebs, das ERN EURACAN fokussiert sich auf seltene solide Krebsarten im Erwachsenenalter. Solche Netzwerke seien wichtig, um Informationen, aber auch Proben auszutauschen, heißt es auf der Veranstaltung.

„Späte und falsche Diagnosen“: Patientenvertreter Markus Wartenberg © Deutsche Sarkom Stiftung
„Späte und falsche Diagnosen“: Patientenvertreter Markus Wartenberg © Deutsche Sarkom Stiftung

Späte und falsche Diagnosen

Patientenvertreter Markus Wartenberg, Vorstand Deutsche Sarkom Stiftung, bedauert, dass der Schwung von der europäischen Ebene nicht in Deutschland angekommen zu sein scheint. Die von ihm vorgetragene Liste an Defiziten ist lang: „Wir sehen vor allem späte und falsche Diagnosen“, zum Teil seien die Patienten vier bis sechs Monate oder noch länger unterwegs. Es fehle die „Awareness“ bei den Erstbehandlern, dass Schwellungen etwas Bösartiges sein könnten. Probleme gebe es auch in der Pathologie, so Wartenberg, der den Anteil falscher Diagnosen auf 20 Prozent beziffert.
Stichwort Therapie: Probleme bereiten gerade in der Anfangsphase falsch durchgeführte Behandlungen und Biopsien sowie Operationen, die nicht von Experten durchgeführt werden. Wartenberg kritisiert insbesondere, dass nur maximal 40 Prozent der Patienten an zertifizierten Zentren behandelt werden. Die meisten würden dort viel zu spät landen, nach dem Motto: „Wenn nichts mehr hilft, hilft vielleicht ein Sarkomzentrum.“ Die Folge: Den Betroffenen werden Spezialwissen und -verfahren sowie klinische Studien vorenthalten. Hinzu komme ein Mangel an innovativen Therapien und an organisierten Daten- und Gewebesammlungen, so der Patientenvertreter.

Keine zweite Chance

Aus Perspektive der Betroffenen prangert Wartenberg an, dass die bisherigen Erfolge vor allem auf Einzelinitiativen basierten, die Krebs-Community und die Politik hätten organsiert bisher zu wenig getan. Beispielhaft nennt er den nationalen Krebsplan, der seltene Formen nicht berücksichtige. Er fordert daher mehr Verbund, mehr Zusammenarbeit: „Es kann nicht sein, dass bei Patienten mit seltenen Krebserkrankungen das Überleben zur Glückssache wird.“ Je nachdem, wo sie zuerst behandelt werden, falle die Prognose günstiger oder weniger günstig aus. „Der erste Behandlungsschritt hat keine zweite Chance“, ergänzt Prof. Angelika Eggert, Direktorin der Klinik für Kinderonkologie und -hämatologie der Charité Berlin. Wartenberg fordert eine Multi-Stakeholder-Initiative für die seltenen Krebsarten, eine nationale Strategie oder einen Aktionsplan, „um das ganze wirklich voranzutreiben“.

Eine Blaupause könnte die onkologische Pädiatrie sein, von der Privat-Dozentin Dr. Ines Brecht, Universitätsklinikum Tübingen, auf dem Kongress berichtet. Man habe effektive Strukturen und ein enges Netzwerk aufgebaut, die als vorbildliches Modell für den Umgang mit seltenen Tumoren dienen könnten, so die Fachärztin für Pädiatrische Onkologie und Hämatologie. Durch kontinuierliches Sammeln von Daten und Proben sei es gelungen, die Evidenz für Behandlungen konsequent zu verbessern. Als Beispiel nennt sie die Heilungsraten bei Leukämie, die in den 70er- und 80er-Jahren bei bis zu 40 Prozent lagen. Jetzt beträgt die Rate über 90 Prozent – „und zwar langfristig mit wenig Nebenwirkungen“, berichtet Brecht. Stolz ist die Pädiaterin auch darauf, dass 90 Prozent der jungen Patienten in klinischen Studien und Registern eingeschlossen sind. „Davon sind wir im adulten Bereich meilenweit entfernt“, sagt Sarkom-Experte Kasper. Von den zertifizierten Zentren werde gefordert, dass gerade einmal fünf Prozent der Patienten in Studien eingeschlossen sind.

Trotz beeindruckender Erfolge müssen aber auch in der Kinderonkologie noch einige Herausforderungen gemeistert werden. Brecht spricht beispielsweise von Datenschutzregularien, „die uns erdrücken.“ Sie verlangt zu dem Thema eine ethische Debatte, in die auch Patienten eingeschlossen werden. Die Klinikerin fragt: „Ist es moralisch, den Datenschutz so wichtig werden zu lassen, dass Patienten nicht mehr am medizinischen Fortschritt teilhaben?“

RCT oder anders denken?
Stichwort Studien: In der onkologischen Pädiatrie habe man im Rahmen von randomisierten kontrollierten Studien (Randomized controlled trials, RCT) Standardtherapien gegeneinander verglichen und so einen „soliden Fortschritt“ erzielt, berichtet Brecht. Sie sagt aber auch, dass man bei besonders seltenen Tumoren anders denken müsse. Unter europäischen Forschern gelte daher: „If you work on frequent cancers, do randomised trials. If you work on rare cancers, find friends.“ berichtet PD Dr. Ines Brecht vom Universitätsklinikum Tübingen.

Jeder darf alles?
Der Onkologe Prof. Peter Reichardt kritisiert, dass jeder Arzt Erwachsene mit seltenen Krebsbehandlungen behandeln dürfe. Das Motto laute: „Jeder glaubt, das kriegen wir schon hin.“ Der Leiter des Sarkomzentrums Berlin-Brandenburg am Helios Klinikum Berlin-Buch befürwortet daher regulierende Eingriffe, die eben dies verhindern. Reichardt wird auf dem Kongress deutlich: „Dass ein approbierter Arzt in der Medizin, von Mindestmengen abgesehen, fast alles darf, auch jedes Medikament verordnen, ist in jeder anderen Branche undenkbar.“

 

Krebs und Armut: Was zu ändern wäre

Berlin (pag) – Die Deutsche Krebshilfe fürchtet, dass durch die Coronakrise das Armutsrisiko von Krebsbetroffenen weiter ansteigt. „Bereits vor der Pandemie haben wir akuten Handlungsbedarf bezüglich der finanziellen Situation von Krebspatienten gesehen.“ In einem Positionspapier beschreiben Krebshilfe und das Haus der Krebs-Selbsthilfe konkrete Probleme und stellen Forderungen auf.

Eine Krebserkrankung beeinflusst die wirtschaftliche Situation vieler betroffener Menschen – junger Familien, deren Hauptverdiener erkrankt, Selbstständiger, Einzelverdiener oder Niedriglohnempfänger. Das Einkommen verringert sich, die Ausgaben steigen. Zudem haben Krebspatienten mit zahlreichen bürokratischen Hürden zu kämpfen. Das neunseitige Positionspapier „Krebs und Armut“ beleuchtet systematisch verschiedene Themenfelder wie Erwerbsminderungsrente, Reha und beruflicher Wiedereinstieg. Beispiel Krankengeld: Zunehmend werden Patienten bereits nach kurzer Krankengeldbezugsdauer von ihrer Krankenkasse dazu aufgefordert, eine medizinische Rehabilitation zu beantragen (Rechtsgrundlage: Paragraph 51 SGB V). Die Kasse könne sich damit Erstattungsansprüche gegenüber dem zuständigen Rentenversicherungsträger sichern. „Diese Verfahren werden aus ökonomischen Gründen eingeleitet und können für die Betroffenen mit erheblichen Nachteilen bis hin zur frühzeitigen Berentung verbunden sein“, heißt es in dem Papier. Die Autoren fordern: Für den gesamten Zeitraum einer onkologischen Akutbehandlung, im Bedarfsfall auch der Rehabilitation und der Rekonvaleszenz, muss ein verlässlicher Anspruch auf den Bezug von Krankengeld bestehen.
Sie verlangen außerdem, dass die Erwerbsminderungsrente in angemessener und existenzsichernder Höhe gezahlt wird und bei Vorliegen der medizinischen Voraussetzungen ohne aufwendiges Verfahren zugänglich ist.

Die Grenzen der Betroffenen

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Stichwort Anschlussrehabilitation (Anschlussheilbehandlung): Verfahren und Fristen hierzu müssen den Autoren zufolge auch aufgrund der Weiterentwicklung von medizinischen Behandlungsmethoden harmonisiert werden. Unabhängig von den jeweiligen Leistungsträgern und spezifischen Regelungen in den Bundesländern hätten sich diese an den Bedarfen der Krebspatienten zu orientieren.
Grundsätzlich heißt es in dem Papier, dass eine „zunehmend restriktivere Praxis der Sozialversicherungsträger“ schwer kranke Menschen erheblich belaste, unabhängig vom konkreten Verarmungsrisiko. Ein grundsätzlicher Appell der Krebshilfe und Selbsthilfeorganisationen lautet daher, dass geordnete und nachvollziehbare Verfahrensabläufe zwar wichtig seien – diese hätten sich aber auch an der Realität der Betroffen sowie deren Möglichkeiten und Grenzen zu orientieren.

Weiterführender Link:
https://www.krebshilfe.de/fileadmin/Downloads/PDFs/Stellungnahmen/Deutsche_Krebshilfe_-_Positionspapier_Krebs_und_Armut.pdf

„Alle Krebsregister sind erfolgreich aufgebaut“

Stuttgart/Berlin (pag) – Der Aufbau der 18 Krebsregister verlief holprig. Bis zum ersten Fristende am 31. Dezember 2017 hatte keins die 43 Förderkriterien für eine Finanzierung durch die Krankenkassen erfüllt. Es folgten zwei Aufschübe, zunächst bis Ende 2018, dann bis Ende 2020. Baden-Württemberg vermeldet nun Vollzug. Auch in den anderen Bundesländern scheint es gut auszusehen.

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Die Krankenkassenverbände im Südwesten bescheinigen dem Register, die Kriterien erfüllt zu haben, teilt das Deutsche Krebsforschungszentrum (DKFZ) mit, neben der Landeskrankenhausgesellschaft und der Deutschen Rentenversicherung Baden-Württemberg einer der Träger des Verzeichnisses.

Und so funktioniert es laut DKFZ: Die Ärzte melden die Angaben zu Diagnose, Behandlung und Verlauf von Krebserkrankungen in verschlüsselter Form an die Vertrauensstelle bei der Deutschen Rentenversicherung. Diese vergibt eindeutige Fallnummern, entfernt den Personenbezug und leitet die Daten an die Klinische Landesregisterstelle (KLR) bei der Landeskrankenhausgesellschaft weiter. Die an die KLR angeschlossene Geschäftsstelle Qualitätskonferenzen analysiert die regionale und einrichtungsbezogene Versorgungsqualität und bewertet diese Ergebnisse im Hinblick auf eine weitere Verbesserung der onkologischen Versorgung. Das Epidemiologische Krebsregister am DKFZ untersucht die Daten in Bezug auf Krebserkrankungen, führt klinisch-epidemiologische Forschung durch und kann die anonymisierten Daten der Wissenschaft zur Verfügung stellen. Das Register soll auch die Rückkopplung zu den meldenden Ärzten gewährleisten.

Prof. Monika Klinkhammer-Schalke © pag, Fiolka

Nicht nur im Ländle scheint man die notwendige Vorarbeit geleistet zu haben. „Alle Krebsregister in Deutschland in allen Bundesländern sind erfolgreich aufgebaut und erfüllen zu über 90 Prozent bereits jetzt alle Förderkriterien“, teilt Prof. Monika Klinkhammer-Schalke auf Anfrage der Presseagentur Gesundheit mit. Sie ist Vorstandsvorsitzende der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Tumorzentren und Krebsregisterexpertin. Laut GKV-Spitzenverband läuft derzeit die Auswertung der Prüfung der Förderkriterien. Ein Gutachten werde voraussichtlich Ende August veröffentlicht.

Perspektiven auf Personalisierte Medizin

Berlin (pag) – Die Personalisierte Medizin ist das Thema eines Symposiums des Forschungsverbunds Leibniz Gesundheitstechnologien. Der Bogen, der dort geschlagen wird, ist weit: Die Onkologin Prof. Elke Jäger stellt dort etwa Chancen und Probleme individualisierter Tumortherapien dar, während der Rechtsanwalt Prof. Wolfram Eberbach überbordende Aufklärungsvorschriften für Ärzte kritisiert.

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Eberbach ist im Beirat des Ethikzentrums der Friedrich-Schiller-Universität Jena. In seinem Vortrag weist er auf die zum Teil sehr rasanten Veränderungen in der Medizin hin, die immer schwieriger zu erklären seien. „Der Arzt trägt die gesamte Last des Fortschritts“, findet er und fragt, wie dieser seinem Patienten ein Instrument erklärt, das er selbst nicht genau definieren kann, von dem er nur weiß, wie es funktioniert.
Angesichts der Aufklärungsbroschüren für Teilnehmer an klinischen Studien, die mittlerweile viele Seiten lang sind, bringt Eberbach die gegenwärtige ärztliche Aufklärung wie folgt auf den Punkt: „Irreal sind die gesetzlichen Anforderungen und surreal ist ihre Erfüllung.“ Das Recht gehe von einem rationalen Menschen aus, dabei gehe es ab einem gewissen Punkt auch darum, ob man dem Arzt glaube, was er sagt – oder nicht. Eberbachs Fazit lautet: Die verlangte Komplexität könne nicht gelebt werden, aber sie werde geurteilt, „und das finde ich nicht fair“.

Limitierte Kompetenz

Beeindruckende Fortschritte in der Onkologie stellt auf dem Symposium Prof. Elke Jäger dar, die unter anderem den Ansatz beschreibt, individualisierte Immuntherapien mit Medikamenten zu kombinieren. Die Chefärztin der Klinik für Onkologie und Hämatologie des Krankenhauses Nordwest in Frankfurt a. M. betont aber auch, dass individualisierte Tumortherapien sehr komplex seien und die Kompetenz dafür noch limitiert. Es fehlten beispielsweise Strukturen, in denen die erforderliche Diagnostik in einem vertretbaren Zeitrahmen abbildbar sei.

Ein weiteres Problem ist Jäger zufolge die derzeit noch geringe Evidenz der individualisierten Ansätze. Mit vielen dieser neuen Wege könne man keine Studien machen, es gebe keine homogene Patientenkollektive, sagt sie. Die Ärztin erläutert, dass es sich um „kleinste Subgruppen mit ganz besonderen Markerkonstellationen“ handele, bei denen die Pharmaindustrie die bisher üblichen Zulassungswege nicht mehr gehen könne – „weil man gar nicht genügend Patienten hat, die eine Studie füllen würden“.

Jäger weist außerdem darauf hin, dass die neuen Therapien extrem teuer seien, eine gesellschaftliche Debatte über deren Finanzierbarkeit hält sie für erforderlich. „Es wird Frage der Gesellschaft sein, ob sie sich das leisten will oder für wen sie sich das leisten will.“

Kontroverse zu Big Data und Leitlinien

Beim „quality of cancer care“ Kongress geht es ums Eingemachte

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Berlin (pag) – Spannende Debatten beim „quality of cancer care“-Kongress der Deutschen Krebsgesellschaft: Beim Thema Leitlinien treffen „barfüßige“ Kliniker und hochspezialisierte AMNOG-Methodiker aufeinander. Und Big-Data-Skeptiker Prof. Gerd Antes warnt vor den Verlockungen der großen Datenmengen. Energischen Widerspruch äußert Prof. Christof von Kalle.

Der Onkologe von Kalle nennt den Lungenkrebs als Beispiel dafür, wo etwa Sequenzierungen und hochauflösende Molekulardaten bereits heute Relevanz für die Behandlung von Patienten haben – „wo wir wirklich ein Big-Data-Konzept haben, das für die Patienten am Start ist“. Von Kalle, vor kurzem in den Sachverständigenrat Gesundheit berufen, analysiert in seinem Vortrag die Schwächen der hiesigen Krebsversorgung. Man wisse nicht, was die „ganz normalen Therapien in der ganz normalen Umwelt“ dem Patienten bringen, es gebe zu wenig Informationen über das Outcome der Verfahren. Das Problem bricht er auf zwei einfache Fragen herunter: Was haben wir mit unseren Patienten gemacht? Wie ist es ihnen daraufhin ergangen? Das Gesundheitssystem müsse sich in ein lernendes verwandeln, verlangt der Mediziner, „und dazu brauchen wir die Daten“.

Daten für und nicht über den Patienten

„Was haben wir mit unseren Patienten gemacht“, fragt Prof. Christof von Kalle. © pag, Fiolka

Er kritisiert außerdem, dass Patienten aus den Datenprozessen weitgehend ausgeschlossen seien. Der Patient habe zwar das Recht, über seine Daten Bescheid zu wissen, er oder sie verfüge aber über wenig Möglichkeiten, an dem Prozess teilzunehmen. Von Kalle plädiert daher für ein patientenzentriertes Gesundheitsdatenmanagement, damit Informationen für und nicht über den Patienten gesammelt werden. Nach Ansicht des Experten ließen sich damit auch viele Probleme des Datenschutzes oder transsektoraler Natur lösen. „Patienten sollten den Schlüssel zu dieser Entwicklung in der Hand halten“, appelliert er.

 

 

 

Qualitätsfreier Hype um Big Data: Prof. Gerd Antes teilt aus. © pag, Fiolka

Nach dem Pro-Daten-Impuls des Krebsexperten folgt der Konter von Antes, Mathematiker und Biometriker. Wie später auf einer KBV-Veranstaltung spricht er auch beim Kongress der Krebsgesellschaft in Bezug auf Big Data von einem „qualitätsfreien Hype“. Bullshit-Generator steht auf einer seiner Folien. Der ehemalige Direktor von Cochrane Deutschland will die Digitalisierungsideologie mit markigen Worten entlarven. Er ist davon überzeugt, dass der Nutzen von Big Data meist überschätzt und nicht belegt ist. „Jeder glaubt, dass mehr Daten besser sind – aber das stimmt nicht“, sagt er und verweist auf entsprechende Publikationen von Mathematikern, die er als einziger im Saal kennen dürfte. Mehr Daten verstopfen die Erkenntnisbahn und die richtigen Signale versacken im Rauschen, lautet seine Kernargumentation. Mittlerweile befinde man sich im Zeitalter der Korrelation, und Antes befürchtet, dass sich die Wissenschaft von der Qualität verabschiedet.

Verbindungsweg gesucht

In der folgenden Diskussion verweist PD Dr. Monika Klinghammer-Schalke, Direktorin des Tumorzentrums Regensburg, auf die vielen Datenquellen, die es in der Onkologie gibt – aus DMP, Qualitätssicherung, Zentren, klinischen Registern, Spezialregistern. „Warum begeben wir uns nicht auf den Weg, um das zu verbinden“, fragt die Expertin, die auch Direktorin des Instituts für Qualitätssicherung und Versorgungsforschung an der Universität Regensburg ist.

Weitere Impulse aus der Debatte: Geht es um ein Datensammeln des Sammelns wegen? Angemahnt wird, dass die Generierung von Daten nicht mit der Auswertung von Daten verwechselt werden dürfe. Und natürlich geht es auch um die großen Unternehmen, die große Datenmengen sammeln. Gefährlich findet es von Kalle, dass „Doubt-Diskussionen über das Marktverhalten von großen Internetunternehmen, deren Services wir fast alle benutzen, dazu führen, dass wir jetzt Entscheidungen darüber fällen, ob wir für uns selbst – zum Beispiel bei akademisch oder öffentlich geförderten Studien – Daten in bestimmter Form erheben oder ob wir das eben nicht tun“. Er warnt davor, das Kind mit dem Bade auszuschütten.

Wie methodisch naiv sind Leitlinien?

Leitlinien sind Handlungskorridor, kein Kochbuch, so Prof. Thomas Seufferlein. © pag, Fiolka

Der zweite Tag des Kongresses steht ganz im Zeichen von Leitlinien. Dabei geht es ans Eingemachte: Werden diese methodisch zu naiv erstellt? Und wie sind deren Aussagen zu neuen Arzneimitteln zu bewerten?

In Leitlinien stehe die optimale Patientenversorgung im Fokus, dabei handele es sich um einen Handlungskorridor, kein Kochbuch, stellt Prof. Thomas Seufferlein klar. Der Ärztliche Direktor der Klinik für Innere Medizin I am Universitätsklinikum Ulm betont auch, dass der Patientennutzen bei den Handlungsempfehlungen das Entscheidende sei und nicht die Kosteneffektivität von Behandlungen. „Diese spielt und wird hoffentlich keine Rolle spielen“, meint er. Verbesserungsbedarf räumt der Vizepräsident der Deutschen Krebsgesellschaft insbesondere in puncto Anwendungsfreundlichkeit ein.

 

Die eigene Position muss kritisch hinterfragt werden, meint Prof. Dr. Axel Heyll © pag, Fiolka

Die entscheidende Schwäche an Leitlinien ist für Prof. Dr. Axel Heyll, dass bei ihnen das Prinzip der evidenzbasierten Medizin noch immer nicht ausreichend umgesetzt wird. Viele der Beteiligten seien nicht bereit, ihre eigene Position ausreichend kritisch zu hinterfragen, „sodass wir meiner Meinung nach noch immer viele eminenzbasierte Empfehlungen haben“, sagt der Leiter des Kompetenz-Centrums Onkologie des GKV-Spitzenverbandes und der MDK-Gemeinschaft. Die Qualität einer Leitlinie bestehe darin, dass sie möglichst viele evidenzbasierte Empfehlungen und möglichst wenig konsensbasierte enthalte. Allerdings seien nicht alle konsensbasierten Maßnahmen schlecht, räumt Heyll ein.

„Riesiger Datenschatz“

IQWiG-Vertreter Dr. Thomas Kaiser sieht Handlungsbedarf. © pag, Fiolka

IQWiG-Vertreter Dr. Thomas Kaiser hat die Relevanz von Leitlinien hinsichtlich ihrer Aussagen zu neuen Arzneimitteln anhand der Beschlüsse des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) der letzten zwei Jahre untersucht. Er kommt zu einem ernüchternden Fazit: Erstens werde nur ein Drittel der Themen der frühen Nutzenbewertung in aktuellen S3- oder S2-Leitlinien adressiert. Zweitens sei die zugrunde liegende Recherche der Leitlinien veraltet. Laut Kaiser beträgt die Latenzzeit zwischen Leitlinienrecherche und Veröffentlichung des G-BA-Beschlusses im Mittel drei Jahre. Drittens basierten die Aussagen zu neuen Arzneimitteln „regelhaft“ auf unvollständiger Datenbasis. Hierzu führt der Co-Leiter des Ressorts Arzneimittelbewertung aus, dass in Fachzeitschrift-Publikationen, Zulassungsberichten und Studienregistern nur etwa 50 Prozent der verfügbaren Ergebnisse aus Studien veröffentlicht werden. Dagegen seien nahezu 100 Prozent im AMNOG-Prozess vorhanden – damit meint er Herstellerdossier, IQWiG-Bericht und G-BA-Beschluss. Für Kaiser ein „riesiger Datenschatz“, der für Leitlinien jedoch nur im Einzelfall und niemals vollständig recherchiert werde.

Unvollständigkeit wirft Fragen auf

Ein weiterer Kritikpunkt: Nur jede fünfte aktuelle Leitlinie befasse sich systematisch mit der Lebensqualität in Bezug auf neue Arzneimittel. Fast 100 Prozent der Bevölkerung kümmerten sich darum allerdings bei Yoga, Sport oder Musiktherapie. „Im Bereich Arzneimitteln ist es bei den Leitlinien-Erstellern offensichtlich noch nicht im Kopf, dass das wichtig ist.“ Als Beispiel nennt Kaiser eine 2018 veröffentlichte Leitlinie zum Lungenkarzinom, welche hinsichtlich der Nebenwirkungen eines neuen Wirkstoffes aus dem IQWiG-Bericht für die AMNOG-Bewertung zitiert. Der Leitlinie ist außerdem zu entnehmen, dass eine Analyse zur Lebensqualität bisher nicht publiziert wurde. Kaiser weist jedoch darauf hin, dass eine solche ebenfalls in jenem IQWiG-Bericht enthalten ist, der in der Leitlinie wenige Zeilen zuvor zitiert wurde. Diese Unvollständigkeit wirft Fragen auf.

Leitlinien im AIS

Anlass für Kaisers Analyse ist das geplante Arztinformationssystem (AIS), genauer gesagt eine Stellungnahme der AWMF aus dem vergangenen Jahr dazu. Die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften hat darin bemängelt, dass Leitlinien im AIS nicht berücksichtigt werden. Dabei verfüge das AIS über keine Informationen über parallele oder spätere Zulassungen sowie über spätere Daten. Diesen Mangel könnten Leitlinien ausgleichen. Nach den Ausführungen des IQWiG-Mitarbeiters ist es wenig verwunderlich, dass dieser großen Handlungsbedarf bei den Aussagen zu neuen Arzneimitteln in Leitlinien sieht und hinterfragt, ob diese tatsächlich Datenlücken im AIS füllen können.

Enthusiastische Laien und das AMNOG

Die folgende Diskussion dreht sich um die vom Generalsekretär der Deutschen Krebsgesellschaft formulierte Kernfrage: Wie ist der „barfüßig“ breite klinische Blick der Leitlinien mit dem hochtechnisch selektiven Blick des AMNOG-Prozesses auf Arzneimittel zusammenzubringen, will Dr. Johannes Bruns wissen. Dr. Monika Nothacker von der AWMF findet, dass Leitlinien im AIS berücksichtigt werden sollen, auch wenn sie veraltet seien. Sie vermittelten dem Nutzer das klinische Umfeld, meint sie. Kaiser appelliert an die Leitlinien-Ersteller, die vorhandenen Datenquellen zu nutzen und mahnt eine hohe methodische Expertise an. Seufferlein räumt zwar ein, dass Leitlinien-Autoren „enthusiastische Laien“ seien. Er stellt aber auch heraus, dass Leitlinien für die Anwender gemacht werden. Die Empfehlungen müssten richtig, verständlich und umsetzbar sein. Die sperrige AMNOG-Sprache in klinische Realität zu übersetzen – „das leisten Leitlinien“.

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Vision Zero für Krebs

Über neue Maßstäbe im Kampf gegen eine Volkskrankheit

Berlin (pag) – Prof. Christof von Kalle regt sich auf: Bei der Veranstaltung „Neuvermessung der Onkologie“ prangert der Wissenschaftler des Deutschen Krebsforschungszentrums und des Nationalen Centrums für Tumorerkrankungen die gesellschaftliche Gleichgültigkeit im Kampf gegen Krebs an. Er hinterfragt auch die vermeintliche Kostenexplosion in der Onkologie.

Der Krebsmediziner bekennt, dass das Thema für ihn ein Aufreger sei. Er beschäftigt sich mit verschiedenen Methoden molekularer Diagnostik. „Und jedes Mal, wenn man damit auftritt, hat man die Fragen an der Backe: Haben wir jetzt eine Zwei-Klassen-Medizin, können wir uns das leisten?“

Wann ist eine Therapie zu teuer?

Von Kalle wirbt für ein Umdenken und zieht deshalb eine Parallele zu den bis in die 1970er Jahre steigenden Unfallzahlen. In Gesamtdeutschland sind etwa 1970 noch über 21.000 Menschen jährlich im Straßenverkehr gestorben. Damals habe es eine Betrachtungsweise gegeben „so wie wir heute Krebspatienten betrachten“. In der Verkehrspolitik fand allerdings ein Umdenken statt: Ausgehend von der aus Schweden kommenden „VisionZero“ konnten in Europa die Unfallzahlen deutlich reduziert werden, berichtet von Kalle. In Deutschland versterben aktuell etwas über 3.000 Menschen jährlich im Verkehr. „Wir haben damals als Gesellschaft eine Entscheidung getroffen.“ Vision Zero zufolge ist jeder Verkehrstote einer zu viel, gesellschaftlich inakzeptabel.*

Prof. Christof von Kalle © pag, Maybaum

* Der Begriff Vision Zero stammt aus der Arbeitssicherheit und wurde Mitte der 1990er Jahre von der Schwedischen Straßenverkehrsbehörde weiterentwickelt. Er steht für einen Paradigmenwechsel in der Verkehrssicherheit und für ein umfassendes Handlungskonzept. Zwei Grundbedingungen sind maßgeblich. Erstens: Der Mensch macht Fehler. Das System Verkehr muss mit diesen Fehlern rechnen und sie verzeihen. Die Verkehrssicherheitmuss zur gesellschaftlichen Aufgabe werden, in die u.a. auch Automobilindustrie, Bauverwaltung und Versicherungen einbezogen werden. Zweitens: Die Belastbarkeit des menschlichen Körpers wird zum entscheidenden Maßstab. Unfallfolgen dürfen auch im schlimmen Fall nicht mehr tödlich sein. Vision Zero erfordert eine Vielzahl von Einzelmaßnahmen, die alle dem Ziel dienen, die Zahl der Getöteten und Schwerverletzten auf ein Minimum zu reduzieren. Quelle: Verkehrsclub Deutschland

Diese Entschlossenheit vermisst der Mediziner im Kampf gegen Krebs. Er weist darauf hin, dass bei den Kostenberechnungen für plötzliche Todesunfälle im Verkehr völlig andere Zahlen zugrunde gelegt werden als bei verstorbenen Krebspatienten. Amerikanischen Analysen zufolge verursache ein Verkehrstoter Kostenin Höhe von 7,9 Millionen Dollar. „Warum haben wir im Gesundheitssystem nicht die gleiche Betrachtung?“, fragt er. „Da sagen wir, dass eine Therapie von 100.000 Euro zu teuer sei, das könnten wir uns nicht leisten, da gehen wir übermorgen pleite.“

„Wir kommen nicht voran“

Aktuell versterben allein an Darmkrebs etwa so viele Patienten wie früher im Straßenverkehr, betont von Kalle. Der Forscher verspricht nicht, dass jeder Fall verhindert werden kann, aber er sagt, dass sehr viel mehr machbar wäre als momentan getan wird – etwa in der Vorsorge. Die gesellschaftliche Bereitschaft, keinen Krebstoten zu akzeptieren, fehle allerdings. Er klagt an: „Wir sind bereit, den Patienten zu beschuldigen, wir sind bereit, die Verhältnisse zu beschuldigen, und wir sind bereit, unsere Untätigkeit zu entschuldigen. Und deshalb kommen wir an dieser Stelle nicht voran.“ Als aktuelles Beispiel wird auf der Veranstaltung das Einladungsverfahren zur Darmkrebsvorsorge genannt, das in Holland unkompliziert auf die Schiene gesetzt worden sei und hierzulade im „kafkaesken Gemeinsamen Bundesausschuss“ stecken bleibe, so Dr. Georg Ralle, Generalsekretär des Vereins Netzwerk gegen Darmkrebs.

 

BRUSTKREBS UND UNANGENEHME WAHRHEITEN
„Wir alle glauben, in einer menschlichen, solidarischen Gesellschaft zu leben, in der Menschen, die an einer tödlichen Krankheit leiden, jegliche medizinische und auch nicht-medizinische Unterstützung und Pflege erhalten, die sie brauchen. Wir glauben auch, dass weder Kosten noch Mühen gescheut werden, um diesen Menschen das Leben so angenehm wie möglich zu machen und dass es niemals Gesetze geben würde, die die Erforschung neuer, lebensrettender Therapien verhindern. Zumindest war dies meine feste Überzeugung, bis bei mir vor fast sechs Jahren Brustkrebs diagnostiziert wurde. Leider musste ich feststellen, dass es bei Gesetzgebern einen Mangel an tiefergehendem Wissen über das alltägliche Leben mit metastasiertem Brustkrebs gibt“, schreibt Suzanne Leempoels in dem Blog ‚The Metastatic Breast Cancer‘.

Die Patienten sind schuld

Stichwort Prävention: Digitalisierungsexperte und Autor Sascha Lobo hat für die, wie er es nennt, „Präventionsaversion der Öffentlichkeit“ eine Erklärung. Bei der Podiumsdiskussion erläutert er: Bei Krebs finde noch immer eine Schuldzuweisung statt, Stichwort Rauchen und Lungenkrebs. Dieser Mechanismus sei mitverantwortlich dafür, dass Prävention so klein geschrieben werde. Lobo sagt: „In dem Moment, wo unterschwellig gedacht wird, dass die Leute selbst schuld sind, will man auf keinen Fall akzeptieren, dass die kollektive Kostenstruktur verändert wird.“

Die Grundsatzkritik, die von Kalle vorträgt, teilt Jan Geissler von der Europäischen Patientenakademie. „Wir beschränken uns in der Diskussion auf die Kosten pro Box und nicht darauf, wie wir die Probleme lösen und wie wir die Daten generieren, um das, was wirkt, gezielt anwenden zu können.“ Er kritisiert, dass 90 Prozent der Daten in der Onkologie weggeworfen würden. Außerdem bemängelt er eine strikte Trennung zwischen Forschung und Versorgung. „Wir geben wahnsinnig viel Geld für Phase-III-Studien aus und um das Overall-Survival nachzuweisen.“ Wenn das Medikament in der Zulassung und Erstattung sei, passiere nicht mehr viel. Abschließend stellt Geissler klar, dass nicht jeder Patient jedes neue Medikament bekommen wolle, „sondern nur das, was bei ihm wirkt“.

Quelle Grafik: Nationales Centrum für Tumorerkrankungen (NCT), Prof. von Kalle

KOSTEN IN DER ONKOLOGIE 2015 IM VERGLEICH
Folgende Zahlen setzt Prof. von Kalle ins Verhältnis: Die Gesamtausgaben im deutschen Gesundheitssystem betragen 344 Milliarden Euro. 20 Milliarden, also etwa sechs Prozent, werden für die Behandlung von Krebs ausgegeben: „stationär, ambulant, Onkologika, alles – ein Fünfzehntel für eine Erkrankung, die ein Viertel von uns umbringt, und dann wundern wir uns, dass es nicht so richtig klappt.“ Der Anstieg von Ausgaben für Onkologika entspricht etwa dem des Bruttosozialprodukts und ungefähr auch dem der übrigen Medikamentenausgaben, „ganz sicher nicht überdurchschnittlich und ganz sicher nicht unangemessener Weise“. Von den 20 Milliarden Ausgaben für Krebs entfallen vier Milliarden auf Medikamente, davon wiederum etwa die Hälfte auf patentgeschützte. „Die so genannten teuren Medikamente machen ungefähr ein Prozent unserer Gesundheitsaufwendungen aus“, sagt von Kalle und bilanziert: „Wir haben die Möglichkeit, großartige Dinge in der Zukunft zu tun. Das, was wir bisher tun, ist kein Kostentreiber, der uns – bisher jedenfalls – über Gebühr finanziell belastet.“

Die doppelte Unsicherheit im System

Was tut sich bei Biomarker-Tests für Brustkrebspatientinnen?

Köln/Berlin (pag) – Für Brustkrebs-Patientinnen bleibt die Situation bei den Genexpressions- bzw. Biomarker-Tests unübersichtlich. 38 Krankenkassen erstatten mittlerweile Genexpressionstests für die Therapieentscheidung bei Mammakarzinom. Dagegen ist im Entwurf einer Entscheidungshilfe des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) dessen kritische Haltung zu Biomarkern deutlich erkennbar.

Die Entscheidungshilfe des IQWiG besteht aus einer Broschüre und einem wissenschaftlichen Bericht, der beschreibt, wie das Institut seine Aussagen erarbeitet hat.

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Chemo oder nicht?

Die Broschüre richtet sich an Frauen mit frühem Brustkrebs, bei denen sich zur Frage, ob sie sich nach der Operation einer unterstützenden Chemotherapie unterziehen sollten, keine klare Empfehlung geben lässt. Der erste Teil beschreibt, warum das Rückfallrisiko für die weitere Behandlung wichtig ist, wie es routinemäßig ermittelt wird und welche Vor- und Nachteile eine Chemotherapie hat.
Der zweite Teil erklärt, wie Biomarker-Tests das Rückfallrisiko bestimmen, wie die Hersteller der Tests daraus eine Behandlungsempfehlung ableiten und wie Biomarker-Tests zu bewerten sind. „Diese Informationen sollen Sie dabei unterstützen, die Möglichkeiten und Grenzen von Biomarker-Tests realistisch einzuschätzen“, heißt es in der Broschüre. Das Vorgehen der Hersteller von Biomarker-Tests, ein als hoch oder niedrig eingeschätztes Risiko für einen Rückfall mit der Empfehlung für oder gegen eine Chemotherapie zu verbinden, lasse die Behandlungsempfehlung „zuverlässiger erscheinen als sie ist“, formulieren die Kölner Wissenschaftler. Sie erwähnen auch, dass verschiedene Biomarker-Tests unterschiedliche Ergebnisse liefern können. Zudem berücksichtigten die Test-Hersteller in der Regel nur Fernrezidive, örtliche und regionale Rückfälle ließen sie außer Acht. „Dadurch unterschätzen Biomarker-Tests das Risiko, erneut an Brustkrebs zu erkranken“, warnt das IQWiG.
Bei der Entscheidungshilfe handelt es sich allerdings um einen Entwurf, der noch vom Auftraggeber, dem Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA), beraten und beschlossen werden muss – inhaltliche Änderungen sind in diesem Prozess durchaus möglich.

„Gräben“ zwischen IQWiG und Ärzten

Die IQWiG-Information stellt einen Nachtrag zu einer Nutzenbewertung von Biomarkern dar, die das Institut im Dezember 2016 vorgestellt hat. Schon damals gibt es keine einfache Antwort auf die Frage, ob biomarkerbasierte Tests als Entscheidungsgrundlage für oder gegen eine Chemotherapie bei Brustkrebs geeignet sind. IQWiG-Vize PD Dr. Stefan Lange sagt seinerzeit auf der Pressekonferenz: „Die Daten, die wir bislang kennen, sind entweder nicht geeignet oder stützen nicht das Versprechen, das den betroffenen Frauen gegeben wird.“ Die anschließende Beauftragung für die Patienteninformation begründet das IQWiG damit, dass für einige Tests noch Studien ausstehen, die Tests aber von Gynäkologen und Onkologen breit eingesetzt und von Herstellern beworben würden.
Wie unnötige Chemotherapien vermieden werden können ohne Heilungschancen zu gefährden, diskutieren im März 2017 Experten bei einer Veranstaltung von Hello Healthcare, der Westdeutschen Studiengruppe (WSG) und dem Bundesverband Deutscher Pathologen (BDP). Dort hebt Prof. Nadia Harbeck, Leiterin des Brustzentrums der Universität München, hervor, dass etwa 30.000 Brustkrebspatientinnen jährlich in Deutschland eine vorbeugende Chemotherapie erhielten – „und wir wissen ganz genau, dass nicht alle diese Frauen diese Therapie brauchen“. Die Ärztin gehört der wissenschaftlichen Leitung der WSG an und ist überzeugt, dass aus klinischer Sicht genug verlässliche Daten für die Nutzung der Tests vorliegen. Sie will, dass die Gräben zwischen dem, was das IQWiG als evidenzbasierten Nutzen sieht, und dem Nutzen, wie er sich für die behandelnden Ärzte darstellt, überwunden werden.

Mogelpackung ASV?

Aus Perspektive der Patientinnen wird auf der Veranstaltung die unübersichtliche Erstattungssituation bei den Tests beklagt. Ambulant behandelte Kassenpatientinnen müssten bei ihrer Versicherung einen Einzelantrag stellen, heißt es im Frühjahr 2017. Inzwischen ist etwas Bewegung ins System gekommen – und zwar durch einen im August vorgestellten Selektivvertrag des BDP mit der BKK VBU. „Dadurch haben wir jetzt die Möglichkeit, Gendiagnostik bei den betroffenen Patientinnen zu betreiben – egal ob ambulant oder stationär“, sagt BDP-Geschäftsführerin Gisela Kempny bei dessen Vorstellung. Auf der Pressekonferenz kritisiert sie die Selbstverwaltung insbesondere für eine Neufassung der Richtlinie zur ambulanten spezialfachärztlichen Versorgung (ASV). Darin ermögliche der G-BA erstmals gesetzlich versicherten Brustkrebspatientinnen die Inanspruchnahme von Genexpressionstests zulasten ihrer Krankenkasse – sofern sie von einem ASV-Team betreut werden. Was zunächst wie ein Fortschritt klingt, entpuppt sich Kempny zufolge als Mittel für die Kassen, die Kostenübernahme zu verweigern: „Die Hürden sind so hoch, dass es praktisch keine ASV-Teams gibt“, erklärt sie. „Nehmen die Patientinnen aber nicht an der ASV teil, lehnen die Krankenversicherer die Erstattung ab mit der Begründung, dass die Kostenübernahme an diese Bedingung geknüpft sei.“
Dem herstellerunabhängigen Selektivvertrag des BDP sind mittlerweile 38 Krankenkassen mit vier Millionen Versicherten beigetreten, darunter viele Betriebskrankenkassen (Stand Dezember 2017).

 

MammaPrint und Leitlinien
Das Leitlinienprogramm Onkologie hat Ende 2017 eine Aktualisierung der S3-Leitlinie zum Mammakarzinom vorgelegt. Wie das IQWiG betont, haben die Autoren die vom Institut geäußerten Zweifel am Genexpressionstest MammaPrint wörtlich übernommen. Unverändert bleibe jedoch die Empfehlung für die Biomarker-Tests in bestimmten Situationen. Dagegen hat die American Society of Clinical Oncology (ASCO) jüngst ihre Leitlinie in Hinblick auf den Test MammaPrint aktualisiert und dieses Update im Journal of Clinical Oncology (JCO) publiziert. Gestützt auf Daten der MINDACT-Studie kommen die amerikanischen Onkologen zu dem Schluss, MammaPrint könne bei bestimmten Gruppen von Patientinnen mit frühem Brustkrebs jene besser erkennen, die keine Chemotherapie benötigen. Deshalb könne er die Entscheidung über die Therapie erleichtern. Ein Autoren-Team des IQWiG widerspricht in einem Leserbrief: MINDACT liefere zwar als erste prospektive randomisierte kontrollierte Studie wertvolle Erkenntnisse zu den Biomarker-Tests. Den Befund der ASCO-Autoren hält das Institut jedoch für falsch.

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Doppelte Unsicherheit

Festzuhalten bleibt, dass die Patientinnen weiterhin mit einer doppelten Unsicherheit konfrontiert sind: mit dem unklaren Stellenwert von Biomarkern bei der Entscheidung für oder gegen eine Chemotherapie und mit der unübersichtlichen Situation hinsichtlich der Erstattungsfähigkeit. Der Appell des IQWiG, die Behandelnden dürften die Frauen mit der unbefriedigenden Studienlage nicht allein lassen, ist sicherlich ebenso gut gemeint wie der Hinweis der Pathologen, der Selektivvertrag stelle eine Überbrückung dar, bis die Genexpressionsdiagnostik für die Therapieentscheidung in die Regelversorgung überführt ist. Für viele Betroffene bleibt die Situation unerträglich.

 

Was sind Biomarker und Genexpressionstests?
Ein Biomarker ist ein objektiv erkennbares biologisches Merkmal wie etwa ein Protein, Enzym oder Hormon, dessen Vorhanden-
sein oder vermehrtes Auftreten in Gewebe und Körperflüssigkeiten ein unverwechselbares physiologisches Kennzeichen ist oder auf einen Krankheits-zustand hindeutet.
Biomarker dienen zum Beispiel zu prognostischen, diagnostischen oder differenzialdia-gnostischen Zwecken, zur Überwachung des klinischen Ansprechens auf eine Therapie, als Risikoindikatoren für später auftretende Krankheiten sowie als Surrogat-Endpunkt in klinischen Studien, wenn dieser als valider Ersatz für einen klinischen Endpunkt herangezogen werden kann. Genomische Merkmale können prognostische Biomarker sein, die es erlauben, den Verlauf einer Krankheit individuell vorherzusagen. Sie sind mithilfe von Genexpressionstests bestimmbar.

Barmer: faire Preise und späte Nutzenbewertung

Berlin (pag) – Eine „faire Diskussion über Kosten und Nutzen der extrem teuren Präparate“ 
verlangt Barmer-Vorstandsvorsitzender Prof. Christoph Straub bei der Vorstellung des neuen Arzneimittelreports seiner Kasse. Schwerpunkt der Analyse ist die medikamentöse Tumortherapie.

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Die Ausgaben für onkologische Arzneimittel sind in der ambulanten Versorgung Barmer-Versicherter seit 2011 um 41 Prozent gestiegen. Damit würden sie deutlich die Kostensteigerungen aller anderen Arzneimittel ohne Rezepturen übertreffen, die im gleichen Zeitraum um 20 Prozent wuchsen, teilt die Krankenasse mit. Straub betont auf der Pressekonferenz, dass fünf der zehn Arzneimittel mit der aktuell größten Umsatzsteigerung der Behandlung von Tumorerkrankungen dienten. Die Kosten zur medikamentösen Behandlung von Hautkrebs-Patienten hätten sich in fünf Jahren fast verachtfacht. Dabei spiele die steigende Zahl der Betroffenen nur eine geringe Rolle, lediglich acht Prozent der Kostensteigerungen seit 2011 würden dadurch verursacht. Mehr als 90 Prozent des Ausgabenzuwachses für onkologische Arzneimitteltherapien bei Hautkrebs seien auf höhere Herstellerpreise zurückzuführen. Man müsse sich mit der Frage beschäftigen, so Straub weiter, was man finanzieren könne und wolle. Er betont, diese Debatte führen zu wollen, „gerade eben um eine Rationierungsdebatte zu vermeiden“. Es gelte eine Balance zwischen den Interessen der Industrie und denen von Krankenkassen und ihrer Versicherten herzustellen, um faire Preise durchzusetzen. Für extrem teure Therapien verlangt der Kassenchef regelhaft eine späte Nutzenbewertung nach fünf Jahren.
Die Autoren des Reports haben die Kosten von 31 onkologischen Arzneimitteln in Europa, Australien und Neuseeland verglichen. Demnach ist Deutschland führend: Bei 90 Prozent (28 von 31) würden die Preise hierzulande über dem Median liegen, acht der 31 Krebsmedikamente kosteten sogar am meisten.
Ein weiteres Thema der Analyse sind Verwürfe, das heißt Restmengen, die bei der Herstellung von Zytostatika-Rezepturen anfallen. Bei Barmer-Versicherten hätten 2015 zehn Millionen Euro für ungenutzt weggeworfene Arzneimittel ausgegeben werden müssen. Straub wirft der Industrie vor, Gewinne zu maximieren, indem praxistaugliche Packungsgrößen mit Einzeldosierungen vom Markt genommen und durch größere Packungen ersetzt würden. Auch werde die tatsächliche Haltbarkeit angebrochener onkologischer Arzneimittelstammlösungen verschwiegen.

Biomarkertests bei Brustkrebs: viele offene Fragen

Berlin (pag) – „Wie können wir unnötige Chemotherapien vermeiden ohne Heilungschancen zu gefährden?“ Bei der Diskussion um biomarkerbasierte Tests bei Brustkrebs geht es  zentral um diese Frage, die Prof. Nadia Harbeck, Leiterin des Brustzentrums der Universität München, kürzlich auf einer Veranstaltung formuliert.

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Dort debattieren Mediziner und Patienten mit einem Vertreter des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) über den angemessenen Umgang mit Biomarkertests. Mit deren Hilfe sollen jene Patientinnen ermittelt werden, die auf eine Chemotherapie verzichten können. Eingeladen dazu hat Hello Healthcare, die Westdeutsche Studiengruppe (WSG) sowie der Bundesverband Deutscher Pathologen.
Harbeck hebt hervor, dass etwa 30.000 Brustkrebspatientinnen jährlich in Deutschland eine vorbeugende Chemotherapie erhielten – „und wir wissen ganz genau, dass nicht alle diese Frauen diese Therapie brauchen“. Die Medizinerin gehört der wissenschaftlichen Leitung der WSG an und ist überzeugt, dass aus klinischer Sicht genug verlässliche Daten für die Nutzung der Tests vorliegen würden. Sie will, dass die Gräben zwischen dem, was das IQWiG als evidenzbasierten Nutzen sieht und dem Nutzen, wie er sich für die behandelnden Ärzte darstellt, überwunden werden. Das IQWiG hat im Auftrag des Gemeinsamen Bundesausschusses den Nutzen von Biomarkern für die Therapieentscheidung von Frauen untersucht, bei denen bisher unklar ist, ob sie überhaupt ein Rezidiv erleiden würden bzw. ob ihr Krebs auf die Chemotherapie ansprechen würde. Dr. Fülöp Scheibler, Leiter des Bereichs Nutzenbewertung, betont, dass das Institut in seiner Ende 2016 vorgestellten Bewertung den Biomarkern nicht den Nutzen abspreche; vielmehr sei deren Nutzen heute noch nicht nachgewiesen. Er plädiert dafür, die Ergebnisse der vielen derzeit laufenden und hochwertigen Studien abzuwarten. Insgesamt mahnt er eine sachliche Diskussion an, dabei sollte zwischen methodischen Aspekten und Werturteilen unterschieden werden.
Aus Sicht der Betroffenen hebt Renate Haidinger, Vorstand von Brustkrebs Deutschland, hervor: „Wenn man die Langzeitnebenwirkungen, die das Leben der Patientinnen massiv beeinflussen, bei einem Teil vermeiden könnte, dann ist das ein riesiger Zugewinn.“ Brustkrebs Deutschland wertet momentan eine Patienten-Umfrage zu den Langzeitnebenwirkungen von Chemotherapien aus. Ein Ergebnis: 34 Prozent der Befragten spüren ihre Füße nicht mehr. Viele könnten nicht mehr ins Berufsleben zurückkehren. Belastend sei für die Frauen auch die unübersichtliche Erstattungssituation bei den Tests. Ambulant behandelte Kassenpatientinnen müssen bei ihrer Versicherung derzeit einen Einzelantrag stellen. Es hängt von der jeweiligen Kasse ab, ob diese die Kosten für die Testung übernimmt oder nicht.

Onkologische Versorgung weiter gedacht

Fortschritt soll sicher und schneller Patienten erreichen

Berlin (pag) – „Die Krebsforschung steht an einem Wendepunkt“, heißt es in einem kürzlich vorgestellten Positionspapier. Darin werben Ärzte-, Patienten-, Wissenschafts- und Kassenvertreter sowie Bundestagsabgeordnete für eine „konzertierte Anstrengung“, um die Versorgung zu verbessern. Konkret machen sie sich für eine Prähabilitation von Patienten und eine „Wissen generierende Versorgung“ stark.

Die Ausgangssituation: Das wissenschaftliche Verständnis, wie die Krankheit entsteht und sich ausbreitet, hat sich deutlich verbessert und damit neue Therapiemöglichkeiten eröffnet. Dennoch versterben noch immer bis zu 50 Prozent aller neu diagnostizierten Patienten an Krebs. Die Zahl der Neuerkrankungen steigt und die Therapieinnovationen verursachen sehr schnell wachsende Kosten, die das Gesundheitssystem vor neue Herausforderungen stellen.
Das siebenseitige Positionspapier hat die breit aufgestellte Arbeitsgruppe „Zukunft der Onkologie“ unter Federführung der Deutschen Krebsgesellschaft formuliert. Darin wird verlangt: „Die Wissenschaft muss gemeinsamen mit den Versorgern und Kostenträgern im Gesundheitswesen eine konzertierte Anstrengung unternehmen, um erfolgreich zu sein.“ Mit Verweis auf die amerikanische „Moonshot“-Initiative skizzieren die Autoren ein sieben Punkte umfassendes Programm, das dafür sorgen soll, die Forschung an Krebserkrankungen zu verbessern und diese Innovation in die klinische Anwendung zu tragen. Von der angestrebten Dynamisierung sollen die Gesundheit der Bevölkerung sowie die Volkswirtschaft Deutschlands gleichermaßen profitieren.

Vernetzung über translationale Tumorboards

Erreicht werden soll das über eine bessere Vernetzung – und zwar sowohl zwischen Forschung und Versorgung als auch zwischen den Ärzten selbst. Das Ziel ist eine „forschungsbasierte und Wissen generierende Versorgung“. Konkret angedacht ist, dass regionale translationale Tumorboards bei der Anwendung von Innovationen eng mit den betreuenden Ärzten kooperieren und sich gemeinsam verpflichten, die Behandlungsdaten in den klinischen Krebsregistern zu dokumentieren. Dr. Ursula Marschall, Abteilungsleiterin Medizin und Versorgungsforschung bei der Barmer, betont auf der Pressekonferenz, auf der das Konzept vorgestellt wird, dass doppelte Dokumentationen vermieden und keine Parallelstrukturen zu den Krebsregistern aufgebaut werden sollen.
Ausdrücklich hält das Positionspapier fest, es werde nicht angestrebt, „dass die sogenannten Zentren (zum Beispiel Comprehensive Cancer Centers) die anderen Leistungserbringer verdrängen, sondern diese bzw. deren Patienten sollen durch die Vernetzung mit den Zentren profitieren“. Auch Prof. Herbert Rebscher hebt hervor, dass es sich um einen offenen Prozess handele – „im Kern kann jeder mitmachen, der die Kompetenz hat und sich an die Regeln des Verfahrens hält“, so der ehemalige Vorstandsvorsitzende der DAK-Gesundheit. Da der Begriff Zentrum bei Leistungserbringen oft mit negativen Assoziationen verbunden ist, spricht der Onkologe Prof. Michael Hallek von der Uniklinik Köln lieber von Kompetenznetzwerken.
„Es werden keine Strukturen geschaffen, die dafür sorgen, dass morgen alle Patienten in einer Uniklinik behandelt werden“, verspricht er. Hallek erläutert, dass es bei dem im Papier skizzierten Ansatz darum gehe, mehr Wissen zu generieren, um Unsicherheiten zu reduzieren. Selbst für den gut informierten Arzt könne es bei sehr hoher Innovationsgeschwindigkeit eine „Kunst“ werden, die richtige Behandlung zu empfehlen.

Patientenlotsen und Prähabilitation

Aus Patientensicht ist eine rasche Verfügbarkeit neuer Medikamente essentiell – allerdings unter Vorbehalt. Ralf Rambach, Vorsitzender des Hauses der Krebs-Selbsthilfe, sagt: „Wir wollen – kurz zusammengefasst – einen schnellen Marktzugang, aber unter sicheren Bedingungen.“ Er spricht sich für die Abgabe neuer Arzneimittel, die bisweilen auf Grundlage von Phase-II-Studien zugelassen worden seien, unter „studienähnlichen Bedingungen“ aus. Noch unbekannte Nebenwirkungen könnten so erkannt werden und es sei möglich zu dokumentieren, wie gut die teuren neuen Medikamente tatsächlich in der Versorgungsrealität seien.
Das Konzept konzentriert sich nicht allein auf den raschen und sicheren Transfer medizinischer Innovationen in die Regelversorgung. Auch die Unterstützung von Betroffenen und Angehörigen soll verbessert werden. In dem Papier wird unter anderem die Anerkennung der Psychoonkolgie als voll erstattungsfähige Leistung in der ambulanten sowie stationären Versorgung vorgeschlagen. Außerdem genannt werden ein Lotsensystem sowie ein Programm zur Patientenedukation, die sogenannte Prähabilitation. Diese Schulung soll sowohl physiotherapeutische, psychosoziale, sozialrechtliche als auch medizinische Inhalte umfassen. Die Lotsen wiederum sollen sicherstellen, dass Patienten nach der Behandlung im Krankenhaus nicht aus dem Blick verloren werden. „Ein wesentliches Ziel besteht in der longitudinalen Begleitung des Patenten über Sektorengrenzen hinweg“, heißt es in dem Positionspapier.

 

Wie funktioniert die Wissengenerierende onkologische Versorgung? – Quelle: Deutsche Krebsgesellschaft e.V.

 

Botschaft an die Politik

Neben dem grundsätzlichen Konzept liefert das Papier erste Vorschläge für gesetzgeberische und politische Maßnahmen. Bei den Beteiligten ist die Hoffnung groß, dass diese in der kommenden Legislatur aufgegriffen werden. Dafür einsetzen wollen sich dezidiert die beiden Bundestagsabgeordneten Karin Maag (CDU) und Sabine Dittmar (SPD), die neben dem CDU-Abgeordneten Michael Hennrich als Vertreter der Politik das Papier mit erarbeitet haben. Sabine Dittmar bekennt auf der Pressekonferenz, dass sie sich manchmal „mehr Tempo im System“ wünschen würde. Diplomatischer drückt es Maag aus, die davon spricht, das System müsse sich der Forschung anpassen und sich auf neue Bedarfe einrichten. Eine sehr konkrete Vorlage dafür liefert das Eckpunktepapier; abzuwarten bleibt allerdings, ob und welche Ideen es tatsächlich in den nächsten Koalitionsvertrag schaffen.

Die Arbeitsgruppe „Zukunft in der Onkologie“ wurde Ende 2015 gegründet und besteht aus Abgeordneten verschiedener Bundestagsfraktionen sowie Vertretern von Krankenkassen, der ambulant und stationär tätigen Ärzteschaft, der Selbstverwaltung im Gesundheitswesen, Wissenschaft und Patientenorganisationen.

 

WIRTSCHAFTLICHE SEKUNDÄREFFEKTE

„Stellen Sie sich vor, es werden jährlich 400.000 Patienten in Deutschland dokumentiert behandelt“, sagt Hallek. Das sei eine weltweit einzigartige klinische Forschungsplattform und damit äußerst attraktiv für Konzerne, deren Anliegen es sei, Patienten schnell in Studien zu rekrutieren und über zügig dokumentierte Behandlungsqualität zu verfügen. „Das ist ein riesiger Wirtschaftsfaktor“, sagt der Kliniker. Er geht von herausragenden Sekundäreffekten für die Gesundheitswirtschaft aus, wenn jede neue Innovation zuerst in dem System getestet werde.