Chronisch krank am
 Arbeitsplatz

Der Weg zu einer echten Teilhabe ist noch steinig

Berlin (pag) – Mit den Herausforderungen zum Thema „Arbeiten mit chronischen Erkrankungen“ beschäftigt sich kürzlich der Patient Advocacy Summit von Novo Nordisk. Fest steht: Für die Teilhabe von chronisch erkrankten Personen am Arbeitsleben ist noch viel zu tun. Dabei könnte der Fachkräftemangel ein Katalysator sein.

Als politischen Anknüpfungspunkt hebt Pia Vornholt, Vice President Public Affairs Germany von Novo Nordisk, die Wachstumsinitiative der Bundesregierung hervor. „Die Maßnahmen und Lösungen, die wir heute hier erarbeiten, können Teil der Antwort auf den herrschenden Fachkräftemangel und den demografischen Wandel sein.“ Wichtig sei, dass eine starke und vereinte Patientenstimme sich auch in der Politik engagiere und gehört werde, um langfristig Veränderungen herbeizuführen und die Bedürfnisse von Menschen mit chronischen Erkrankungen in der Gesellschaft und der Arbeitswelt angemessen zu berücksichtigen.

© iStock.com, Ivan-balvan
© iStock.com, Ivan-balvan

Ähnlich lautet die Botschaft von Franz Donner. In seinem Impuls konstatiert der ehemalige Konzernpersonalleiter bei der ZEISS-Gruppe, dass die Teilhabe von chronisch Erkrankten in der Gesellschaft, der Politik und bei den Unternehmen nicht das Gewicht bekomme, das es verdiene. Er richtet den Fokus auf den Fachkräfte-
mangel, der mit einem Rückgang von 3,8 Millionen Arbeitskräften bis 2035 einhergeht. „Wir tun gut daran, diesen in den Vordergrund zu stellen.“ Im Gegensatz zu den chronisch Erkrankten hätten es die älteren Erwerbstätigen geschafft, explizit in der Wachstumsinitiative der Bundesregierung erwähnt zu werden. Zwar gebe es Firmen, die das Teilhabe-Thema bewusst aufgreifen, aber der klassische Unternehmer hat es Donner zufolge nicht auf der Agenda und benötigt eine „burning platform“ – in diesem Fall den Fachkräftemangel. Mit dem Later Life Workplace Index stellt der Experte zudem einen Werkzeugkasten vor. Das Diagnoseinstrument unterstützt Firmen bei ihrer Einschätzung, wie gut sie auf eine alternde Belegschaft vorbereitet sind.

„Gemeinsam etwas ändern.“

Die am Summit teilnehmenden Betroffenen stellen insbesondere heraus, dass es sich um ein patientengruppenübergreifendes Thema handele. Michael Wirtz, Adipositas-Hilfe Deutschland, sagt etwa, dass es nicht nur um Menschen mit Adipositas gehe: „Wir reden auch über Menschen mit Diabetes, Rheuma, MS etc.“.

Auch für Corinna Elling-Audersch von der Rheuma-Liga ist „Chronisch krank am Arbeitsplatz“ eine Angelegenheit, welche die Zusammenarbeit aller Patienten erfordert. „Wir müssen gemeinsam etwas ändern“, mahnt sie. Arbeit sichere nicht nur den Lebensunterhalt, sondern auch die soziale Integration. Noch immer gebe jeder fünfte Rheumapatient mittleren Alters in den ersten drei Jahren nach der Diagnose seinen Arbeitsplatz auf, berichtet Elling-Audersch.

Zur besseren Teilhabe am Arbeitsplatz nennt die Aktivistin einige Stichwörter: Aufklärung und Offenheit im Umgang mit der Erkrankung, Wechsel zu weniger körperlich anstrengenden Tätigkeiten, Ausgestaltung des Arbeitsplatzes mit technischen Hilfsmitteln sowie Qualifizierung/Umschulung/Weiterbildung. Oft seien es nur winzige Stellschrauben, die für eine Teilhabe bewegt werden müssten, etwa mehr Pausen oder die Erlaubnis, Physiotherapiestunden in den Arbeitsalltag einzubauen. Auch müssten die staatlichen Zuschüsse für Arbeitgeber noch bekannter gemacht werden. Corinna Elling-Audersch appelliert: „Wir müssen in der Gesellschaft ein Bewusstsein für uns schaffen“.

Wachstumsinitiative der Bundesregierung
Um der deutschen Wirtschaft neue Impulse zu geben, hat die Bundesregierung zusammen mit dem Haushalt 2025 eine umfassende Wachstumsinitiative beschlossen. Mit 49 Maßnahmen in unterschiedlichen Bereichen will sie den Wirtschaftsstandort Deutschland und seine Wettbewerbsfähigkeit nachhaltig stärken, um den Wohlstand langfristig zu sichern – „für gute Arbeitsplätze und für die erfolgreiche Umsetzung der Dekarbonisierung“, wie es heißt. Unter anderem sollen Anreize dafür geschaffen werden, dass es sich für Ältere mehr lohnt, über das Renteneintrittsalter hinaus zu arbeiten. Wirtschaftsminister Dr. Robert Habeck hat angekündigt, dass aufgrund des Fachkräftemangels auch „Arbeitsausfälle infolge von Krankheit reduziert werden sollen“. Konkrete Maßnahmen innerhalb der Initiative sind jedoch nicht benannt.

Erkrankungen sind ein Vollzeitjob

Ein Bewusstsein zu schaffen, ist auch ein Anliegen von Lea Raak. Die Aktivistin für Barrieresensibilität lebt seit 13 Jahren mit verschiedenen chronischen Erkrankungen und arbeitet außerdem in Vollzeit. Sie sagt: „Meine chronischen Erkrankungen sind auch schon ein Vollzeitjob.“ Jeden Tag lebt sie mit einer Vielzahl von Symptomen. „Wenn man mich sieht, würde man das nicht unbedingt denken.“ In ihrem Vortrag gibt sie Einblicke in ihre Arbeit mit einer nicht ersichtlichen Behinderung. Beeinträchtigt fühlt sie sich etwa von Verurteilungen und Diskriminierungen, obgleich sie an ihrem Arbeitsplatz an der Universität das Glück habe, offen mit ihrer Erkrankung umgehen zu können. Dennoch blieben das schlechte Gewissen und ein Ringen mit sich selbst, ob und wann sie sich krankmeldet.

Raak plädiert dafür, gemeinsam mit dem Arbeitgeber Strategien für die Vereinbarkeit zu entwickeln. Ein wichtiges Anliegen sei es ihr auch, dass es auf der Arbeit einen sicheren Raum gibt, um Dinge anzusprechen und offenzulegen. Die Aufgabe von Führungskräften sei es, einen solchen Raum zu schaffen. Lea Raak verlangt: „Nicht ich muss mich anpassen, sondern der Arbeitsplatz sollte sich anpassen und die Führungskräfte sollen sich anpassen.“

 

Prof. Mathilde Niehaus © Kasper Jensen
Prof. Mathilde Niehaus © Kasper Jensen

Sag ich es ?
Prof. Mathilde Niehaus, Universität zu Köln, stellt bei dem Summit den Online-Selbsttest www.sag-ichs.de
vor. Dieser unterstützt Betroffene
bei der Entscheidung für oder gegen die Offenlegung ihrer gesundheitlichen Beeinträchtigung am Arbeitsplatz. Dafür werden verschiedene Bereiche wie „Auf der Arbeit“, „Persönliche Voraussetzungen“, „Einstellungen und Werte“ so-
wie „Erfahrungen und Lebenssitua-tion“ abgefragt. Unter Wahrung des Datenschutzes wird basierend auf den Antworten ein persönliches Profil erstellt. Die Frage, die eigene gesundheitliche Beeinträchtigung am Arbeitsplatz zu offenbaren, sei hochkomplex und ziehe viel Energie, weiß Niehaus. Sie hebt hervor, dass Personen, deren Beeinträchti-gung man von außen nicht sehen könne, ganz anders mit sich und anderen im Konflikt stehen, über ihre Erkrankung zu sprechen. Oft seien sie Vorurteilen ausgesetzt, beispielsweise sich vor der Arbeit zu drücken. Beide Entscheidungsmöglichkeiten – die Erkrankung offenzulegen oder sie für sich zu behalten – seien legitim. „Wichtig ist, dass ich die Entscheidung mit mir selbst ausgemacht habe und sie selbstbestimmt fälle.“

 

 

Vom Leuchtturm Kiel zum 
Versorgungsstandard

Shared Decision Making hat es im Gesundheitssystem (noch) schwer

Berlin/Kiel (pag) – Seit Langem wird Shared Decision Making in Fachkreisen diskutiert. Flächendeckend durchgesetzt hat es sich bisher nicht. Wenig verwunderlich, denn hinter dem Konzept steht nicht weniger als ein Paradigmenwechsel im Verständnis des Arzt-Patienten-Verhältnisses. Mittlerweile kommt aber Bewegung in die Sache.

© iStock.com, Vladgrin, Bearbeitung: pag, Anna Fiolka
© iStock.com, Vladgrin, Bearbeitung: pag, Anna Fiolka

2017, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein (UKSH), Campus Kiel: Der Startschuss für das vom Innovationsfonds geförderte Pilotprojekt SHARE TO CARE fällt. „Making SDM A REALITY“ setzt in Pionierarbeit die Prozesse partizipativer Entscheidungsfindung (auf Englisch Shared Decision Making, SDM) in einem kompletten Krankenhaus der Maximalversorgung um. Das SHARE TO CARE-Programm umfasst vier Module: Training der Ärztinnen und Ärzte, digitale Entscheidungshilfen, Qualifizierung von Pflegekräften und Patientenaktivierung. Am UKSH werden dabei insgesamt 80 Entscheidungshilfen produziert, die wissenschaftlich fundierte, strukturiert aufbereitete und verständliche Informationen bieten. Genutzt werden können sie von Patienten zur Vorbereitung auf die gemeinsame Entscheidung mit Medizinern. „Heute gehört das UKSH zu den weltweit führenden Kliniken in der Anwendung von SDM“, betont das Klinikum auf seiner Website.

Präferenzen und Prioritäten

Das Projekt in Kiel zeigt hierzulande erstmals, dass SDM in allen Bereichen einer ganzen Klinik mit positiven Effekten etabliert werden kann. Der Ansatz beinhaltet eine partnerschaftliche Entscheidungsfindung, in der Arzt und Patient relevante Informationen austauschen und sich gemeinsam auf eine optimale Behandlungsoption einigen. Dabei informiert der Arzt über diagnostische und therapeutische Möglichkeiten mit jeweiligen Vor- und Nachteilen. Der Patient teilt seine Präferenzen und Behandlungserfahrungen. Insbesondere Auswirkungen etwaiger Entscheidungen auf den Alltag des Patienten sind entscheidend.

SHARE TO CARE: Am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein (UKSH), Campus Kiel, fällt 2017 der Startschuss für das vom Innovationsfonds geförderte Pilotprojekt. © Imrohopic - Own work, CC BY-SA 4.0
SHARE TO CARE: Am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein (UKSH), Campus Kiel, fällt 2017 der Startschuss für das vom Innovationsfonds geförderte Pilotprojekt. © Imrohopic – Own work, CC BY-SA 4.0

Johannes Förner, Patientenbeirat am Deutschen Krebsforschungszentrum, sieht darin immense Vorteile: „SDM berücksichtigt Präferenzen und Prioritäten der Patienten bei der Entscheidungsfindung für ein Therapieschema.“ Speziell in der Krebstherapie werde meist auf maximale Lebensverlängerung geschaut, „obwohl dies für den jeweiligen Patienten vielleicht gar nicht so wichtig ist und er lieber eine optimale Lebensqualität erreichen würde.“

Prof. Martin Härter, Direktor des Instituts und der Poliklinik für Medizinische Psychologie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, wirbt bereits 2015 auf einem Kongress des Bundesverbandes Managed Care für das Konzept: SDM steigere die Gesundheitskompetenz der Patienten. Eine Kompetenz, die defizitär in der Bevölkerung ausgebildet ist. Die Patientenzufriedenheit steige, auch für Ärzte gestalte sich die Kommunikation angenehm.
Fest steht mittlerweile auch, dass sich die Compliance der Patienten durch die gemeinsame Entscheidungsfindung erhöht. Zwar bedeutet diese initial mehr Aufwand für Ärzte – die Schulung der Mitarbeiter dauert etwa einen Arbeitstag. Mittel- bis langfristig wird aber Zeit eingespart – etwa durch effizientere Gespräche und weniger Rückfragen. Allerdings eignet sich das Konzept nur für Krankheitsbilder, bei denen aus medizinischer Sicht mehrere Handlungsmöglichkeiten mit jeweils eigenen Vor- und Nachteilen existieren.

Trotz aller Vorteile ist Shared Decision Making bislang vor allem im angelsächsischen Raum präsent. „In den UK gehört SDM bereits zum Standardrepertoire des National Health Service in der personalisierten Medizin“, berichtet Förner. In den USA sei SDM stark abhängig von der jeweiligen Klinik, werde aber häufiger praktiziert als in Deutschland. Hierzulande ist der Ansatz noch längst kein Versorgungsstandard, auch wenn es politisch so gewollt ist. Dieser politische Wille ist beispielsweise im Patientenrechtegesetz nachzulesen. Dort heißt es, dass sich Arzt und Patient „partnerschaftlich begegnen und gemeinsam über die Behandlung entscheiden“. Laut §§ 13 bis 15 SGB I sind die Sozialversicherungsträger zur Aufklärung, Beratung und Auskunft verpflichtet.

Für SHARE TO CARE-Geschäftsführer Dr. Jens Ulrich Rüffer ist eine Ursache dafür, dass Wunsch und Wirklichkeit so auseinanderklaffen und SDM aktuell noch nicht systematisch im Gesundheitssystem eingesetzt wird, die bisher fehlende konkrete Prozessanleitung für alle Beteiligten (lesen Sie hierzu auch das Interview „Das reine Wollen reicht nicht“, Seite 16).

In die Regelversorgung

„Aufzuhalten ist SDM meiner Meinung nach nicht mehr.“ Der SDM-Siegeszug ist für Patientenbeirat Förner nur eine Frage der Zeit. © stock.adobe.com, goodluz
„Aufzuhalten ist SDM meiner Meinung nach nicht mehr.“ Der SDM-Siegeszug ist für Patientenbeirat Förner nur eine Frage der Zeit. © stock.adobe.com, goodluz

Immerhin: Seit März empfiehlt der Gemeinsame Bundesausschuss, das Programm SHARE TO CARE in die Regelversorgung zu überführen. Darauf will Rüffer allerdings nicht warten. „Die Hauptaktivitäten zu SDM finden hierzulande im Rahmen von Forschungsprojekten statt“, weiß er. Im Fokus stehen die Frage der Machbarkeit, außerdem die Reproduktion der Kieler Effekte und sektorenübergreifende Aspekte. Von den momentan laufenden Pilotprojekten hofft der Mediziner, dass sie „genug Evidenz erzeugen, um die Erkenntnis herauszuarbeiten:
Es braucht SDM, sei es über Selektivverträge oder in der Regelversorgung“.

Auch Patientenvertreter Förner hat einige vielversprechende Initiativen fest im Blick: Etwa das groß angelegte Vorhaben an den sechs bayerischen Universitätskliniken, das sich dem Bereich Prostatakrebs widmet. „Bayern versucht hier eine systematische Implementierung von SDM“, berichtet er. Ein anderes Beispiel ist Bremen, wo SHARE TO CARE für den hausärztlichen Bereich adaptiert wird. Das Ziel: SDM in allen Hausarztpraxen im Bundesland verankern. Der SDM-Siegeszug ist für Förner nur eine Frage der Zeit: „Aufzuhalten ist SDM meiner Meinung nach nicht mehr. Wir können es verzögern oder aber auch beschleunigen.“

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Drahtseilakt zwischen Autonomie und Anleitung Grundsätzlich geht es um einen Wandel des Arzt-Patienten-Verhältnisses. SDM vollführt den Drahtseilakt zwischen den Autonomiebestrebungen des Patienten und seinem Bedarf nach Anlehnung und Anleitung durch den Arzt. Die althergebrachte Vorstellung, dass Patienten stillschweigend mit jeder ärztlichen Entscheidung mitgehen, ist längst nicht mehr zeitgemäß. Erstmals konkret wurde die Idee des SDM vom US-amerikanischen Bioethiker Dr. Robert Veatch in den frühen 70er-Jahren ins Spiel gebracht. 1982 stellte eine Kommission des US-Präsidenten fest, dass man zwar grundsätzlich immer besser in der Lage sei, Krankheiten effektiv zu behandeln, gleichzeitig aber weitverbreitet Über-, Unter- und Fehlbehandlung herrsche. Die vorgeschlagene Lösung: SDM.
Mittlerweile hat das Konzept Einzug in die Gesetzgebung und Politik zahlreicher Länder gehalten. Wissenschaftler sehen einen Paradigmenwechsel in Richtung Patientenzentrierung und Beteiligung, der sich vor allem in den 80ern vollzieht. Stichwort Forschung: Seit den 70ern wurden mehr als 6.000 wissenschaftliche Artikel zum Thema veröffentlicht, seit 2013 sind es über 500 pro Jahr.

„Das reine Wollen reicht nicht“

Dr. Jens Ulrich Rüffer über typische Denkfehler bei Shared Decision Making

Für Dr. Jens Ulrich Rüffer ist die bisher fehlende Prozessanleitung der „Misssing Link“ der vergangenen Jahrzehnte, der eine breite Implementierung in der Praxis verhinderte. Im Interview erläutert der Experte für Medizinkommunikation, warum es noch immer vielen Ärzten an einem wirklichen Verständnis für die partizipative Entscheidungsfindung mangelt.

© iStock.com, Ieromin, Berarbeitung pag
© iStock.com, Ieromin, Berarbeitung pag

Welchen Weg hat Shared Decision Making in Deutschland hinter sich?

Jens Ulrich Rüffer: Wir blicken hierzulande auf eine patriarchalische Geschichte. Lange Zeit war es üblich, dass Ärzte Befunde erhoben und hinter verschlossenen Türen über Diagnosen und Behandlungsmethoden brüteten. Erst seit den 70er-Jahren sind Ärzte verpflichtet, Diagnosen mitzuteilen. Meilensteine sind die Patientenrechtegesetze, die zwischen den 90er bis in die Nullerjahre eingeführt wurden. Seitdem haben Patienten den gesetzlichen Anspruch, Diagnosen zu erfahren und zwischen Behandlungsmethoden zu wählen. Berechtigt sind Patienten außerdem, über deren Vor- und Nachteile informiert zu werden. Als Garant hierfür dient Shared Decision Making. Von einem theoretischen Konzept entwickelte sich SDM in den letzten Jahren hin zu konkreten Verfahrensweisen.

Wieso? Trifft der Arzt nicht grundsätzlich Entscheidungen im Sinne seines Patienten?

Rüffer: Es geht um die Frage der Präferenzen. Abgesehen vom medizinischen Wissen des Arztes bringt der Patient individuelle Bedürfnisse mit ins Behandlungszimmer. Bleiben sie vom Arzt unbeachtet, wirkt sich das direkt auf die Behandlung aus: ihre Erfolgschancen sinken. Somit ist SDM mehr als Idealismus – eine Partizipative Entscheidung erhöht auch die Adhärenz.

Welche Vorteile hat SDM außerdem?

Rüffer: Aus ethischer Sicht ist bereits die Schaffung von SDM ein Wert. In unserem groß angelegten Projekt am Kieler Standort des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein konnten wir weitere Vorteile nachweisen: Patienten kommen besser informiert durch Therapien und sind seltener Entscheidungskonflikten ausgesetzt. Ferner fallen die Arztgespräche tendenziell kürzer aus. Es gibt sogar Kosteneinsparungen.

Sie sprechen das Projekt SHARE TO CARE in Kiel an, bei dem sie gezeigt haben, dass man SDM in einer gesamten Klinik einsetzen kann. Wie sind Sie vorgegangen?

Rüffer: Das SHARE TO CARE-Programm setzt sich aus vier Modulen zusammen. Zwei davon richten sich an das Gesundheitssystem. Die anderen beiden zielen auf Patienten ab. Zunächst beinhaltet das Programm ein Training für Ärztinnen und Ärzte.

Wie sieht das Training konkret aus?

Rüffer: Das Training ist per se sehr simpel. Insgesamt bemisst es sich auf vier Stunden. In der ersten wird den Ärzten in einem Online-Training Grundlagenwissen zu SDM anhand von Lehrbeispielen vermittelt. Anschließend werden zwei reale Entscheidungsgespräche auf Video aufgezeichnet. Dazu gibt es ein individuelles Videofeedback von speziell ausgebildeten Trainern mit konkreten Verbesserungsvorschlägen. Nach dem Konzept sollte sich pro Station beziehungsweise Ambulanz ein bis zwei Personen zu einem Decision Coach weiterbilden. Diese können aus diversen Berufen kommen, stammen in der Regel aber aus dem Pflegebereich.

Für Patienten gibt es Entscheidungshilfen in Form der „Drei Fragen“- Methode: Welche
Therapieoptionen habe ich? Welche Vor- und Nachteile gehen damit einher? Und mit welcher Wahrscheinlichkeit treffen diese auf mich zu? © iStock.com, Denis Novikov
Für Patienten gibt es Entscheidungshilfen in Form der „Drei Fragen“- Methode: Welche Therapieoptionen habe ich? Welche Vor- und Nachteile gehen damit einher? Und mit welcher Wahrscheinlichkeit treffen diese auf mich zu? © iStock.com, Denis Novikov

Und wie sieht es auf der Patientenseite aus?

Rüffer: Für sie gibt es Entscheidungshilfen – zumindest für die wichtigsten Indikationen. Weiterhin nutzen wir die „Drei Fragen“-Methode. Das können Sie sich wie einen Leitfaden für ein Arzt-Patienten-Gespräch vorstellen. Sie lauten: Welche Therapieoptionen habe ich? Welche Vor- und Nachteile gehen damit einher? Und mit welcher Wahrscheinlichkeit treffen diese auf mich zu? Ein Stück weit spiegeln die Fragen auch das Patientenrechtegesetz wider.

Welche weiteren Aspekte beinhaltet SDM?

Rüffer: SDM ist in Gänze als ein Werkzeugkasten vorstellbar. Im Einzelfall muss entschieden werden, welche Tools in ein System implementierbar sind. Wir haben uns für die vier beschriebenen entschieden – und ziehen eine positive Bilanz. In anderen Projekten konnten mit anderer Auswahl nicht dieselben Effekte erzielt werden. Ein wichtiger Erfolgsfaktor ist auch die Intensität der Maßnahmen. Es ist ein lernendes System – aber SHARE TO CARE setzt heute einen Standard.

Ist es nicht auch ein Stück weit eine individuelle Einstellung, wie offen und gleichberechtigt ich als Arzt beziehungsweise Patient ein Behandlungsgespräch führe?

Rüffer: Wir wissen, dass SDM-Elemente in Behandlungsgesprächen nur in geringem Ausmaß stattfinden. Gleichzeitig behaupten neun von zehn Ärzten, sie praktizierten Partizipative Entscheidungsfindung.

© stock.adobe.com, Rido
© stock.adobe.com, Rido

Wird da gelogen?

Rüffer: Nein. Als Vorwurf ist es nicht zu verstehen. Vielmehr erkenne ich darin einen ärztlichen Willen zum SDM. Nur fehlt an vielen Stellen heute noch ein tieferes Verständnis. Dazu gehört die Einsicht des Arztes, dass er hauptverantwortlich dafür ist, dass der Patient ein Thema erfasst und seine Präferenzen mit den Behandlungsoptionen abgleicht. Ärzte scheinen schnell bereit zu sagen, sie hätten das getan. In der Praxis bestätigt sich das nicht. Das reine Wollen reicht nicht. Es fehlte bisher die Prozessanleitung.

Das müssen Sie genauer erklären.

Rüffer: Ein Vergleich: Fährt man Auto, tut man das bisweilen mit der inneren Haltung, dass man vorsichtig fahren möchte. Dann möchte ich in einer 30er-Zone auch nur 30 fahren. Fehlt es allerdings an einem Tachometer, an Bremsen oder einem richtigen Gaspedal, wird es schwierig, mein Ziel zu erreichen. Deutlich leichter ist es, wenn ich adäquat ausgerüstet bin und einen Tempomat habe, den ich auf 30 einstellen kann. Der SDM-Prozess ist wie dieses Hilfsmittel. Ich schätze, das ist der Missing Link der letzten Jahrzehnte, welcher für eine breitflächige Implementierung fehlte. In theoretische Diskussionen ist die Thematik schon längst eingezogen. Die Umsetzung in der Praxis stand dagegen auf der Stelle. Nun haben wir einen Prozess erarbeitet, der Ärzten mit unseren kombinierten Optionen SDM ermöglicht.

Das ist ein wohlwollender Blick. Was ist mit Widerständen von Ärzten, die ihr althergebrachtes Selbstbild gefährdet sehen?

Rüffer: Widerstände gibt es definitiv. Interessanterweise finden sich jene traditionellen Haltungen vermehrt bei Kollegen, die in Lobbygruppen aktiv sind und seltener direkt mit Patienten arbeiten. Sicherlich ist damit auch eine Generationenfrage verbunden. Dennoch: Ich bin der Meinung, es stieße keine große Veränderung an, tauschten wir alle Ü40-Ärzte durch jüngere Kollegen aus. Denn: SDM ist kein Automatismus, keine reine Willensfrage. Es bedarf aktiven Trainings und einer bewussten Implementierung.

Die Einstellung der Ärzte muss sich nicht ändern?

Rüffer: Doch. Dazu gehört, dass Ärzte seit Langem die Effektivität von Interventionen überschätzen. Watchfull Waiting wiederum wird unterschätzt. Solche Phänomene lassen sich mit Partizipativer Entscheidungsfindung ausgleichen. Denn im Prozess werden sich Ärzte bewusst, dass zuweilen Therapieoptionen vorgezogen werden, die aus ärztlicher Sicht weniger erfolgsversprechend oder weniger invasiv sind. Das zu verstehen, ist vielmehr Inhalt als Macht und Deutungshoheit.

Wie gelingt die flächendeckende Implementierung?

Rüffer: Daran arbeiten wir mit SHARE TO CARE. Seit März empfiehlt der Gemeinsame Bundesausschuss, unser Programm in die Regelversorgung zu überführen. Doch darauf wollen wir nicht warten. Die Hauptaktivitäten zu SDM finden hierzulande im Rahmen von Forschungsprojekten statt. Im Fokus stehen die Frage der Machbarkeit, außerdem die Reproduktion der Kieler Effekte und sektorenübergreifende Aspekte. Gegenwärtig entwickeln sich verschiedene Pilotprojekte, die hoffentlich genug Evidenz erzeugen, um die Erkenntnis herauszuarbeiten: Es braucht SDM, sei es über Selektivverträge oder in der Regelversorgung. Mitbedacht werden muss auch, dass man damit gleichzeitig Anreize für Personen mit anderem SDM-Verständnis schafft, sich in den Markt zu drängen. Möglicherweise entsteht dabei Pseudo-SDM.

Was verstehen Sie unter Pseudo-SDM? Drückt man Patienten eine Entscheidungshilfe in die Hand, und das war es dann?

Rüffer: Entscheidungshilfen allein erzeugen durchaus positive Effekte. Diese sind allerdings um Längen von den Kieler Ergebnissen entfernt. Denn an erster Stelle ist es eine Frage der Haltung: zu respektieren, dass Patienten eigene Präferenzen und Therapievorstellungen haben. Diese Haltung ist komplementär zu Werkzeugen wie Entscheidungshilfen, Decision Coaches oder den „Drei Fragen“. Erst wenn alle Rädchen ineinandergreifen, gedeiht Partizipative Entscheidungsfindung.

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© atp Verlag
© atp Verlag

Zur Person Dr. Jens Ulrich Rüffer treibt seit Jahrzehnten europaweit SDM-Projekte voran. Als Geschäftsführer von SHARE TO CARE hat der Facharzt für Innere Medizin mit Schwerpunkt Hämatologie und Onkologie zuletzt SDM in einer ganzen Klinik in Kiel implementiert. Außerdem hat er das Buch „Wenn eine Begegnung alles verändert: Ärztinnen und Ärzte erzählen“, in dem Mediziner von augenöffnenden Patientenbegegnungen berichten, mit herausgegeben.
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Inklusion als „Bringschuld“

Berlin (pag) – Der Weg zu einem inklusiven Gesundheitssystem ist steinig. Die Gesellschaft für Versicherungswirtschaft und -gestaltung (GVG) nimmt sich Anfang Oktober des Themas in einem digitalen Impuls an. Mit dabei sind Dr. Klaus Reinhardt, Präsident der Bundesärztekammer (BÄK), Prof. Claudia Hornberg, Dekanin der Medizinischen Fakultät an der Universität Bielefeld, und Verena Bentele, Präsidentin des Sozialverbands VdK Deutschland.

© iStock.com, Ivan Pantic
© iStock.com, Ivan Pantic

„Es ist eine Selbstverständlichkeit, dass wir Menschen mit einer Behinderung inkludieren“, lautet Reinhardts Überzeugung. Ihnen müsse das Gefühl genommen werden, dass sie in der sozialen Integration beeinträchtigt seien. „Das ist die Bringschuld derjenigen, die das Glück haben, keine Behinderung zu haben.“ Diese Grundhaltung müsse man als Arzt einnehmen, findet der BÄK-Präsident. Dazu gehöre auch, dass man sich gegebenenfalls eingestehen muss, wenn man mit seinem Wissen an Grenzen stößt und die Expertise von beispielsweise einem der Medizinischen Behandlungszentren für Erwachsene mit geistiger oder schwerer Mehrfachbehinderung (MZEB) heranzieht. Für deren strukturelle Weiterentwicklung mache sich die BÄK schon seit Längerem stark. Aber sprechen solche Einrichtungen nicht gegen die freie Arztwahl und sind exklusiv? Wo Inklusion machbar sei, müsse sie umgesetzt werden, so Reinhardt. Menschen mit leichten kognitiven Einschränkungen könnten vom Hausarzt behandelt werden. Sei die Beeinträchtigung schwerer, könne sich der Patient beispielsweise nicht so artikulieren, dass ihn der Behandler versteht, ergebe sich eine Situation, die der Hausarzt nicht bewältigen könne.

In bestimmten Situationen benötige man entsprechende fachliche Kompetenzen, gibt Hornberg dem BÄK-Präsidenten Recht. In ihrem Vortrag geht sie auf den Status quo ein: In Deutschland lebten circa 13 Millionen Menschen mit Beeinträchtigungen – bezieht sie sich auf Zahlen aus 2017. Im Vergleich zum Jahr 2009 sei diese Zahl um neun Prozent angestiegen. Das stelle die medizinische Versorgung vor Herausforderungen. Dort fehle es oft an Zeit und an Finanzierung des Mehraufwands. „Wir müssen uns damit beschäftigen, das sind essenzielle Barrieren.“ Menschen mit Behinderungen müssten ferner in der ärztlichen Aus- und Weiterbildung eine größere Rolle einnehmen.

„Revolutionäre Veränderungen“

Existierende Barrieren spricht auch Bentele an. Damit meint sie nicht nur die fehlende Rampe zur Arztpraxis. Ihr sei ein Fall bekannt, in dem ein Mensch mit einem Knieleiden nicht in einer Rehaklinik aufgenommen worden sei, weil er blind sei. „Das finde ich absurd.“ So etwas zu unterbinden, sei Aufgabe des Gesetzgebers. Denn auch Menschen mit Behinderungen seien Beitragszahlende und hätten somit ein Recht auf gleichen Zugang zu gesundheitlicher Versorgung.

Auch die Erwartungen an den Aktionsplan für ein inklusives Gesundheitswesen, für den vor rund einem Jahr der Startschuss im Bundesgesundheitsministerium fiel, werden thematisiert. Hornberg dreht das Thema um. Ihre Devise: „Jeder muss für sich in seiner Institution gucken, wo sie oder er anfangen kann.“ Bentele spricht die Überwindung der Sektorengrenzen und der Unterschiede zwischen Stadt und Land an. Zudem müssten Prävention und Rehabilitation eine größere Rolle spielen. „Dafür brauchen wir revolutionäre Veränderungen.“

Check-Up: Zielgruppe verfehlt?

Köln (pag) – Die allgemeine Gesundheitsuntersuchung „Check-Up“ wird seltener von Personen genutzt, die am stärksten von ihr profitieren könnten. Zu dieser Schlussfolgerung kommt das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) in einem Rapid Report, den das Institut im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit erstellt hat.

© stock.adobe.com, Siphosethu F/peopleimages.com
© stock.adobe.com, Siphosethu F/peopleimages.com

Gesetzlich Krankenversicherte haben seit 1989 Anspruch auf eine regelmäßige Gesundheitsuntersuchung, die von ihrer Kranken-
kasse bezahlt wird. Im Rahmen der Untersuchung sollen gesundheitliche Risiken und Belastungen frühzeitig erfasst werden. Sie dient außerdem der Früherkennung von häufig auftretenden Krank-heiten, insbesondere von Herz-Kreislauf- und Nierenerkrankungen sowie von Diabetes. Versicherte zwischen 18 und 34 Jahren haben einmalig Anspruch auf den Check-Up, Versicherte ab 35 Jahren alle drei Jahre.
Das IQWiG kommt zu dem Ergebnis, dass das Angebot in Deutschland eher von Personen genutzt wird, die ohnehin häufiger Kontakt mit Arztpraxen haben. Gruppen, die höhere Gesundheitsrisiken aufweisen und die das ambulante Versorgungssystem weniger in Anspruch nehmen, nutzen das Angebot seltener.

Gezielte Ansprache

„Zu den Menschen, die seltener zum Check-Up gehen, gehören Menschen mit niedrigem sozioökonomischem Status, Frauen und insbesondere Männer mit Hinweisen auf gesundheitliche Risiken bzw. die ihren Gesundheitszustand als mittelmäßig oder schlecht einschätzen sowie Menschen, die nach Deutschland zugewandert sind“, berichtet IQWiG-Mitarbeiterin Beate Zschorlich. Diese Gruppen müssen gezielt angesprochen werden, auch in anderen Sprachen. Die Projektleiterin weist aber auch darauf hin, „dass auf Basis veröffentlichter Studien ein gesundheitlicher Nutzen des sogenannten Check-Ups selbst unklar ist“. Zschorlich: „Die Maßnahmen und Kommunikationsstrategien sollten diese Diskrepanz berücksichtigen.“ Einige Länder wie Österreich und Großbritannien hätten ihre Angebote zu Gesundheitsuntersuchungen in den letzten Jahren deshalb wissenschaftlich neu bewertet und – insbesondere in Großbritannien – grundlegend reformiert. Dabei habe ein Schwerpunkt auf Bevölkerungsgruppen mit besonderen gesundheitlichen Risiken gelegen.

Angeborene Herzfehler: Fataler Versorgungsmangel

Frankfurt a. M. (pag) – Das Aktionsbündnis Angeborene Herzfehler (ABAHF) warnt vor einem Engpass in der Reha-Versorgung von Erwachsenen mit angeborenem Herzfehler (EMAH): Nur eine Handvoll Nachsorge-Kliniken würden den Ansprüchen von EMAH entsprechen. Auch Deutsche-Herzstiftung-Vorstand Prof. Stefan Hofer sieht die Lage kritisch: „Erwachsene mit angeborenem Herzfehler dürfen jetzt nicht in ein Versorgungsloch fallen.“

© istockphoto.com, bojanstory
© istockphoto.com, bojanstory

Schließlich gehe es um das Wohl von über 350.000 EMAH in Deutschland, die von Geburt an auf eine lebenslange spezifische Nachsorge ihres Herzfehlers angewiesen seien. Hofer sieht einen fatalen Mangel an Reha-Angeboten. Laut ABAHF warten die Betroffenen regelmäßig mehrere Monate bis zu einem Jahr, um einen geeigneten stationären Rehaplatz zu bekommen.

Die Wahrnehmung der ABAHF wird von der Datenlage gedeckt. Im März hat das vom Innovationsfonds des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) geförderte Projekt Versorgungsoptimierung bei Kindern und Erwachsenen mit angeborenen Herzfehlern (OptAHF) erste belastbare Zahlen vorgelegt: Eine Auswertung von Daten des Statistischen Bundesamtes und der Barmer zeigt, dass entgegen der geltenden Leitlinie über 40 Prozent der EMAH nur hausärztlich versorgt werden. Darunter fallen selbst über 35 Prozent der Patienten mit komplexen Herzfehlern. Für die betroffenen Patienten ist dem Projekt zufolge damit ein „signifikant höheres Sterberisiko und das Risiko von schweren unerwünschten Ereignissen assoziiert“.

Eine neue Patientengruppe

Ein Grund für die Versorgungsprobleme ist eigentlich ein positiver: Seit den 90er-Jahren ist die Zahl der Todesfälle durch Fortschritte in der Behandlung drastischer gesunken als bei allen anderen Herzerkrankungen. Wie die Herzstiftung informiert, können heute über 90 Prozent der betroffenen Kinder das Erwachsenenalter erreichen. Damit ist mit den EMAH in Deutschland im Grunde eine völlig neue Patientengruppe entstanden, die weiterhin wächst.

Eine erfolgreiche Behandlung als Kind entspricht aber nicht zwangsläufig einer Heilung. Noch viele Jahre später kann es zu teils lebensbedrohlichen Verschlechterungen kommen, die für Betroffenen selbst nicht immer wahrnehmbar sind, da sie sich oft schleichend entwickeln. Nur durch regelmäßige Kontrolluntersuchungen bei EMAH-Spezialisten können solche Komplikationen rechtzeitig ausgemacht werden.

 

© stock.adobe.com, Dedraw Studio
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Mangel an Experten
Die Deutsche Gesellschaft für Pädiatrische Kardiologie und Angeborene Herzfehler (DGPK) zählt in Deutschland circa 180 EMAH-zertifizierte Kardiologen. Mehr als 150 davon sind Kinderkardiologen, hauptsächlich arbeiten diese in überregionalen EMAH-Zentren, Schwerpunktpraxen oder -Kliniken. In Reha-Kliniken fehle ihre Expertise dadurch zurzeit.
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Wenn Überleben zur Glückssache wird

Zu oft übersehen: die seltenen Krebserkrankungen

Berlin (pag) – Zwar werden neue Fortschritte in der Onkologie kontinuierlich vermeldet, aber gerade bei den seltenen Krebserkrankungen ist die Situation immer noch äußerst unbefriedigend. Auf dem Kongress Vision Zero tauschen sich Expertinnen und Experten kürzlich über Defizite und Vorbilder aus. Patientenvertreter Markus Wartenberg hält fest: „Da gibt es ganz viel, was wir in den nächsten Jahren besser machen müssen.“

Annährend jeder vierte neue Krebspatient erkrankt hierzulande an einer seltenen Krebsform. Das sind rund 120.000 Neuerkrankungen pro Jahr. Das Spektrum umfasst über 200 Diagnosen. Ein entscheiden-der Unterschied zwischen den häufigen und seltenen Krebsarten besteht hinsichtlich der Fünf-Jahres-Überlebensrate. „Mit 47 Prozent ist diese bei Rare Cancer signifikant schlechter als bei Common Cancer mit 65 Prozent“, berichtet Prof. Bernd Kasper bei Vision Zero.

© istockphoto.com, Sarawut
© istockphoto.com, Sarawut.

Netzwerke helfen

„Signifikant schlechtere“ Überlebensrate: Prof. Bernd Kasper © Deutsche Sarkom Stiftung
„Signifikant schlechtere“ Überlebensrate: Prof. Bernd Kasper © Deutsche Sarkom Stiftung

In seinem Impuls stellt der Ärztliche Geschäftsführer des Mannheim Cancer Centers die Herausforderungen seltener Krebserkrankungen am Beispiel der Sarkome dar. Dabei handelt es sich um seltene, bösartige Tumore, die vom Bindegewebe, Knochen und Muskeln ausgehen können. Genaue Zahlen zu Prävalenz und Inzidenz gibt es in Deutschland nicht, Experten gehen von bis zu 6.000 Fällen pro Jahr aus. Kasper weist auf die große Heterogenität dieser Krebsform hin: Es gebe 175 Subgruppen und -typen mit jeweils ganz unterschiedlichen Behandlungsstrategien. Rezidive könnten sogar noch nach 20 Jahren auftreten.
Trotz schwieriger Ausgangslage kann Kasper von einigen Erfolgen berichten: Mittlerweile existieren rund 20 zertifizierte Sarkom-Zentren, auch eine S3-Leitlinie gibt es. Auf europäischer Ebene haben sich zudem eine Reihe von Netzwerken zu seltenen Krebserkrankungen etabliert. Der Onkologe nennt unter anderem RareCareNet und Rare Cancers Europe. Als jüngste Initiative hebt er die 20 European Reference Networks (ERN) hervor. Davon kümmern sich vier um das Thema Krebs, das ERN EURACAN fokussiert sich auf seltene solide Krebsarten im Erwachsenenalter. Solche Netzwerke seien wichtig, um Informationen, aber auch Proben auszutauschen, heißt es auf der Veranstaltung.

„Späte und falsche Diagnosen“: Patientenvertreter Markus Wartenberg © Deutsche Sarkom Stiftung
„Späte und falsche Diagnosen“: Patientenvertreter Markus Wartenberg © Deutsche Sarkom Stiftung

Späte und falsche Diagnosen

Patientenvertreter Markus Wartenberg, Vorstand Deutsche Sarkom Stiftung, bedauert, dass der Schwung von der europäischen Ebene nicht in Deutschland angekommen zu sein scheint. Die von ihm vorgetragene Liste an Defiziten ist lang: „Wir sehen vor allem späte und falsche Diagnosen“, zum Teil seien die Patienten vier bis sechs Monate oder noch länger unterwegs. Es fehle die „Awareness“ bei den Erstbehandlern, dass Schwellungen etwas Bösartiges sein könnten. Probleme gebe es auch in der Pathologie, so Wartenberg, der den Anteil falscher Diagnosen auf 20 Prozent beziffert.
Stichwort Therapie: Probleme bereiten gerade in der Anfangsphase falsch durchgeführte Behandlungen und Biopsien sowie Operationen, die nicht von Experten durchgeführt werden. Wartenberg kritisiert insbesondere, dass nur maximal 40 Prozent der Patienten an zertifizierten Zentren behandelt werden. Die meisten würden dort viel zu spät landen, nach dem Motto: „Wenn nichts mehr hilft, hilft vielleicht ein Sarkomzentrum.“ Die Folge: Den Betroffenen werden Spezialwissen und -verfahren sowie klinische Studien vorenthalten. Hinzu komme ein Mangel an innovativen Therapien und an organisierten Daten- und Gewebesammlungen, so der Patientenvertreter.

Keine zweite Chance

Aus Perspektive der Betroffenen prangert Wartenberg an, dass die bisherigen Erfolge vor allem auf Einzelinitiativen basierten, die Krebs-Community und die Politik hätten organsiert bisher zu wenig getan. Beispielhaft nennt er den nationalen Krebsplan, der seltene Formen nicht berücksichtige. Er fordert daher mehr Verbund, mehr Zusammenarbeit: „Es kann nicht sein, dass bei Patienten mit seltenen Krebserkrankungen das Überleben zur Glückssache wird.“ Je nachdem, wo sie zuerst behandelt werden, falle die Prognose günstiger oder weniger günstig aus. „Der erste Behandlungsschritt hat keine zweite Chance“, ergänzt Prof. Angelika Eggert, Direktorin der Klinik für Kinderonkologie und -hämatologie der Charité Berlin. Wartenberg fordert eine Multi-Stakeholder-Initiative für die seltenen Krebsarten, eine nationale Strategie oder einen Aktionsplan, „um das ganze wirklich voranzutreiben“.

Eine Blaupause könnte die onkologische Pädiatrie sein, von der Privat-Dozentin Dr. Ines Brecht, Universitätsklinikum Tübingen, auf dem Kongress berichtet. Man habe effektive Strukturen und ein enges Netzwerk aufgebaut, die als vorbildliches Modell für den Umgang mit seltenen Tumoren dienen könnten, so die Fachärztin für Pädiatrische Onkologie und Hämatologie. Durch kontinuierliches Sammeln von Daten und Proben sei es gelungen, die Evidenz für Behandlungen konsequent zu verbessern. Als Beispiel nennt sie die Heilungsraten bei Leukämie, die in den 70er- und 80er-Jahren bei bis zu 40 Prozent lagen. Jetzt beträgt die Rate über 90 Prozent – „und zwar langfristig mit wenig Nebenwirkungen“, berichtet Brecht. Stolz ist die Pädiaterin auch darauf, dass 90 Prozent der jungen Patienten in klinischen Studien und Registern eingeschlossen sind. „Davon sind wir im adulten Bereich meilenweit entfernt“, sagt Sarkom-Experte Kasper. Von den zertifizierten Zentren werde gefordert, dass gerade einmal fünf Prozent der Patienten in Studien eingeschlossen sind.

Trotz beeindruckender Erfolge müssen aber auch in der Kinderonkologie noch einige Herausforderungen gemeistert werden. Brecht spricht beispielsweise von Datenschutzregularien, „die uns erdrücken.“ Sie verlangt zu dem Thema eine ethische Debatte, in die auch Patienten eingeschlossen werden. Die Klinikerin fragt: „Ist es moralisch, den Datenschutz so wichtig werden zu lassen, dass Patienten nicht mehr am medizinischen Fortschritt teilhaben?“

RCT oder anders denken?
Stichwort Studien: In der onkologischen Pädiatrie habe man im Rahmen von randomisierten kontrollierten Studien (Randomized controlled trials, RCT) Standardtherapien gegeneinander verglichen und so einen „soliden Fortschritt“ erzielt, berichtet Brecht. Sie sagt aber auch, dass man bei besonders seltenen Tumoren anders denken müsse. Unter europäischen Forschern gelte daher: „If you work on frequent cancers, do randomised trials. If you work on rare cancers, find friends.“ berichtet PD Dr. Ines Brecht vom Universitätsklinikum Tübingen.

Jeder darf alles?
Der Onkologe Prof. Peter Reichardt kritisiert, dass jeder Arzt Erwachsene mit seltenen Krebsbehandlungen behandeln dürfe. Das Motto laute: „Jeder glaubt, das kriegen wir schon hin.“ Der Leiter des Sarkomzentrums Berlin-Brandenburg am Helios Klinikum Berlin-Buch befürwortet daher regulierende Eingriffe, die eben dies verhindern. Reichardt wird auf dem Kongress deutlich: „Dass ein approbierter Arzt in der Medizin, von Mindestmengen abgesehen, fast alles darf, auch jedes Medikament verordnen, ist in jeder anderen Branche undenkbar.“

 

Update dringend erforderlich

Warum das Patientenrechtegesetz in die Jahre gekommen ist

Berlin (pag) – Elf Jahre alt ist mittlerweile das Patientenrechtegesetz. Viele Expertinnen und Experten halten es schon längst für überholungsbedürftig. Bei einer kürzlich stattge-fundenen Konferenz der Grünen-Bundestagsfraktion werden konkrete Reformoptionen diskutiert. Deutlich wird auch: Wenn es um Fehlervermeidung geht, spielt die Verteilung von Ressourcen eine entscheidende Rolle.

 

Die beiden zuständigen Bundesministerien für Gesundheit und Justiz stellen noch für dieses Jahr eine Änderung des Patientenrechtegesetzes in Aussicht. Auf der Konferenz spricht sich Dr. Martin Danner, Bundesgesch.ftsführer der BAG Selbsthilfe, für eine Beweislasterleichterung zugunsten der Patienten aus. Problematisch sei, dass viele Prozesse über die strafrechtliche Schiene ablaufen. Dabei müsse ein mutmaßlich Geschädigter in der Regel den Kunstfehler, den entstandenen Schaden und den direkten Zusammenhang zwischen beidem belegen: „Ein solcher Nachweis ist naturgemäß nur sehr schwer zu erbringen.“

 

© pag, Weger
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Vertragsrecht als Lösungsansatz

Eine Lösung wäre, das Patientenrechtegesetz mit Blick auf das Vertragsrecht auszurichten. Geht es gerichtlich nicht um ein mögliches Delikt des Arztes, sondern „nur“ um die Verletzung von Vertragspflichten, greifen die beweisrechtlichen Grundlagen des Paragrafen §287 der Zivil-Prozessordnung (ZPO). Hier müsste ein Patient „nur“ noch die Pflichtverletzung beweisen. Außerdem müsse bei Delikten ein Fehler mit „an Sicherheit grenzender  Wahrscheinlichkeit“ nachgewiesen werden, im Vertragsrecht ist dagegen eine richterliche Würdigung des Geschehens entscheidend. Für Danner wäre ein expliziter Verweis im Rechtsparagrafen §630a des Bürgerlichen Gesetzbuch, der die vertragstypischen Pflichten beim Behandlungsvertrag regelt, auf den §287 der ZPO sinnvoll, um klarzustellen, welche beweisrechtlichen Grundlagen gelten. Das könne eine sinnvolle Erweiterung des  Patientenrechtegesetzes sein.
Der Fachanwalt für Medizinrecht Jörg Heynemann sieht ein ähnliches Problem durch die Unterscheidung von Fehlern. Bei einfachen Behandlungsfehlern liegt die komplette Beweislast beim Patienten, nur bei groben Behandlungsfehlern – also einem eindeutigen Verstoß gegen die geltenden Richtlinien, der aus objektiver Sicht nicht mehr verständlich erscheint – muss der beschuldigte Arzt nachweisen, keinen Fehler begangen zu haben. Laut Heymann wüssten medizinische Gutachter vor Gericht genau, welche Formulierungen sie nutzen könnten, damit ein Fall als nur einfacher Behandlungsfehler gilt. Er spricht in diesem Zusammenhang von Gutachtern als „Richter in Weiß“. Eine Absenkung der Beweislast auf „überwiegende Wahrscheinlichkeit“ bei einfachem Behandlungsfehler sei sinnvoll. Das sei für die Patientenanwälte der zentrale Kern, der bei einer künftigen Gesetzesnovellierung angegangen werden müsse. Einig sind sich alle Experten darüber, dass die enormen Verfahrenszeiten und die Anstrengungen,
die für eine Verfahrenserzwingung notwendig sind, abgebaut werden müssen.

Warnung vor „Defensivmedizin“

Laut der Trierer Strafrechtsprofessorin Prof. Carina Dorneck hat das Patientenrechtegesetz den „Status quo der Rechtsprechung von 2013 versteinert“. Die vorgeschlagenen Änderungen sieht sie trotzdem kritisch. Bei Beweiserleichterungen befürchtet sie Rechtsunsicherheit als Folge. Müssten Ärzte Sorge haben verklagt zu werden, könnten sie künftig nur noch risikolose Eingriffe durchführen oder zu Überbehandlung tendieren, um sich abzusichern. Sie spricht von einer „Defensiv-medizin“. Außerdem sieht sie unzumutbare Dokumentationspflichten auf Behandler zukommen, wenn diese in der Pflicht seien, selbst zu beweisen, dass sie keine Fehler gemacht haben.
Aus ihrer Sicht ist das Thema Beweislast nicht der richtige Ansatzpunkt, vielmehr solle man mehr für die Prävention tun – dafür brauche es an erster Stelle eine transparente Fehlerkultur: „Wer persönlich haftet, kann sich nicht offen und selbstkritisch zu Fehlern äußern.“ Das Hauptproblem sei aber die Überlastung des Gesundheitssystems an sich. Erwiesenermaßen seien Zeitmangel und Stress die größten Risikofaktoren für Fehler. „Was in der heutigen Medizin am meisten fehlt, ist Zeit.“

 Dr. Martin Danner (Bundesgeschäftsführer Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe) und Prof. Dr. Carina Dorneck (Uni Trier), © pag, Weger
Dr. Martin Danner (Bundesgeschäftsführer Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe) und Prof. Dr. Carina Dorneck (Uni Trier) © pag, Weger
Jörg Heynemann (Fachanwalt Medizin- und Versicherungsrecht) und Claus Fahlenbrach (Referatsleiter Versorgungsqualität AOK-Bundesverband), 
© pag, Weger
Jörg Heynemann (Fachanwalt Medizin- und Versicherungsrecht) und Claus Fahlenbrach (Referatsleiter Versorgungsqualität AOK-Bundesverband) © pag, Weger

Never Structures und Never Procedures

Das zweite große Thema der Konferenz lautet „Behandlungsverantwortung versus Organisationsverantwortung“. Dr. Charlotte Hölscher von der Fachstelle Patientensicherheit des Medizinischen Dienstes (MD) sieht ein Register für Never Events (NE) als ersten wichtigen Schritt für bessere Fehlerkultur. Die Datenlage zum Thema sei unzureichend, Schätzungen zufolge würden nur drei Prozent der Schadenfälle verfolgt. Eine Meldepflicht für NE im Patienten-rechtegesetz wäre auch zum Erkennen systemischer Probleme notwendig. „Oftmals stehen nach einem Schaden Personen – wie der behandelnde Arzt – im Haftungsfokus, die präventiv gar keinen Einfluss auf die Fehlerkette haben“, betont Hölscher. Die eigentlichen organisatorischen Probleme, die ursächlich für einen Fehler seien, seien schwer greifbar. Danner von der BAG Selbsthilfe fordert, dass parallel zu NE über Never Structures und Never Procedures – also unbedingt zu vermeidende Organisationsstrukturen und Verfahrensabläufe – nachgedacht werden müsse.
Um organisatorische Verantwortungen erfassen zu können, müssten im Patientenrechtegesetz laut Dorneck Einsichtsrechte erweitert werden. Es reiche nicht, nur die eigene Patientenakte zu bekommen, sondern man müsste auch Hygienepläne oder etwa Schichtplanungen einsehen können.

Erlösgesteuerte Strukturen als Fehlerquelle

Einig sind sich alle Konferenzteilnehmer, dass man, um Behandlungsfehler wirklich aktiv zu vermeiden, an den Grundlagen des Gesundheitssystems arbeiten müsse. Dahinter steht die Frage, wer über die Verteilung von Ressourcen entscheidet. Laut den Experten Prof. Karl Beine, Facharzt für Psychotherapie, Prof. Karsten Scholz, Leiter des Dezernat Recht der Bundesärztekammer, und dem Richter Dr. Tim Neelmeier sorge die erlösgesteuerte Ausrichtung des Systems – vor allem bei Krankenhäusern – zwangsläufig zu fehleranfälligen Strukturen. Eine Entökonomisierung des Gesundheitswesens sei dringend erforderlich. Wie die Grünen-Abgeordnete Linda Heitmann zusammenfasst, brauche es für eine richtige Fehlerkultur auch betriebswirtschaftliche Anreize, denn das aktuelle DRG-System begünstige Fehler. 

 

Fehler schon vor Behandlungsstart?
Dr. Tim Neelmeier, Vorsitzender Richter am Landgericht Itzehoe, sieht zwei Fehlertypen. Erstens: Während eines Eingriffs geht etwas schief. Zweitens: Schon vor Start besteht ein erhöhtes Risiko, etwa bei viel zu dünner Personalbesetzung. Beispielhaft seien Narkose-Todesfälle in kleinen Praxen, in denen MFAs gleichzeitig den Praxistresen besetzen, Telefondienst haben und Patienten im Aufwachraum überwachen. Ursächlich sieht er „Fatale Anreizstrukturen, weil man wirtschaftlich sein muss.“ Pflichtverletzungen, bei denen die Behandlung gar nicht erst hätte begonnen werden dürfen, sollten für ihn künftig explizit strafbar sein.

„Uns war ein Stimmungsbild aus der Gesellschaft wichtig“

Lena Kümmel über gesundheitspolitische Bürgerbeteiligung im Ostalbkreis

Aalen (pag) – Im Sommer 2023 beschäftigen sich 51 zufällig ausgewählte Bürger damit, wie eine zukunftsfähige Gesundheitsversorgung aussehen könnte. In einem Bürgerforum tauschen sie sich über das Zukunftskonzept der Kliniken Ostalb aus. Das Ergebnis: 26 konkrete Empfehlungen an den Kreistag. Hintergründe, Ziele und Herausforderungen erläutert die Projektverantwortliche, Lena Kümmel, im Interview. Sie hat die Bürgerbeteiligung von Anfang an begleitet.

Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Bürgerforums im Ostalbkreis, die sich mit Klinikstrukturveränderungen auseinandergesetzt haben. © Kommunikationsbüro Ulmer GmbH

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Der Ostalbkreis initiierte im vergangenen Jahr eine Bürgerbeteiligung in der regionalen Gesundheitspolitik. Um welches Thema ging es dabei?

Kümmel: Ursprünglich um unsere Klinikstruktur, konkret um die Zusammenlegung von mehreren Standorten. Doch das Interesse der Bürger reichte weit darüber hinaus. Ein wichtiges Anliegen war ihnen auch die ambulante ärztliche Versorgung. Das spiegelt sich in den Empfehlungen der Bürger wider: Sie beziehen sich einerseits auf Klinikstrukturveränderungen, andererseits auf die gesamte Gesundheitsstruktur im Landkreis. Außerdem gibt es landes- und bundespolitische Empfehlungen.

Warum entschied sich der Landrat für diesen Schritt?

Kümmel: Unser Landrat Dr. Joachim Bläse nahm selbst an einem Zufallsbürgerforum teil. Der Prozess und die Ergebnisse beeindruckten ihn so stark, dass er dieses Format im Rahmen des Klinikstrukturierungsprozesses aufgriff. So kam unser erster Versuch, ein solches Zufallsbürgerforum im Gesundheitssektor auszuprobieren, ins Rollen.

Bekamen Sie dafür externe Unterstützung?

Kümmel: Ja, bei der zuständigen Stelle für Bürgerbeteiligung im Staatsministerium Baden-Württemberg. Bei der Evaluation stand uns Prof. Frank Brettschneider von der Universität Hohenheim zur Seite.

Wie fand die Beteiligung konkret statt?

Der Strukturwandel im Krankenhaussektor stellt viele Kommunen und Landkreise vor erhebliche Herausforderungen. Das trifft auch auf den Ostalbkreis zu. © stock.adobe.com, upixa

Kümmel: Wichtige Leitfragen waren für uns: Wo im Prozess holen wir die Bürger ab? Welche Entscheidungen gingen bereits voraus? In unserem Fall bestand der erste Schritt darin, die Bürger darüber aufzuklären, warum es notwendig ist, den Klinikbereich umzustrukturieren. Über die Gründe – etwa personelle, finanzielle und strukturelle Schwierigkeiten – informierten wir sie zuerst. Das geschah sowohl in Präsenz als auch im Rahmen von Videokonferenzen. In Bürgerdialogen sprachen Experten über die mannigfaltigen Problemfelder.

Wer war das zum Beispiel?

Kümmel: Neben dem Landrat vor allem Klinikmitarbeiter oder der Klinikvorstand. Wir investierten insbesondere deshalb in die Informationsbereitstellung, weil erst mit einem gewissen Problemverständnis Lösungsansätze erarbeitet werden können.

Mit welchen Herausforderungen waren Sie konfrontiert?

Kümmel: Herausfordernd waren im Zufallsbürgerforum insbesondere emotionale Themen, dann wurde die Debatte merklich schwieriger. Das nahmen wir insbesondere bei zwei Bereichen wahr.

Bei welchen?

Kümmel: Bei der Notfallversorgung und der Geburtshilfe. Die Bürger trieb die Frage um, an wen sie sich im Notfall wenden können, wenn zum Beispiel die Notaufnahme nicht mehr vor Ort ist. Bei dieser Frage waren die Beteiligten teilweise sehr besorgt. Zwar versuchten sie, sich von den Fakten leiten zu lassen, aber an anderen Stellen gelang ihnen das besser. Viel Verständnis hatten die Bürger beispielsweise, wenn es um Qualitäts- oder Personalvorgaben ging. Für sie war es gut nachvollziehbar, dass Veränderungen für gute Strukturen und Arbeitsbedingungen notwendig sind.

Wie sind Sie dabei vorgegangen?

Kümmel: Wir haben weiterhin versucht, die Fakten darzustellen und zu erklären, warum kein Weg an Strukturveränderungen vorbei geht. Wir achteten außerdem darauf, den Beteiligten verschiedene Perspektiven aufzuzeigen. Dazu ließen wir etwa Sprecher aus Bürgerinitiativen zu Wort kommen. Statt uns in Details zu verlieren, lenkten wir den Fokus auf das große Ganze. Das konnten die Bürger auch greifen und die Ergebnisse sprechen für sich: Letztlich lautet ihre Empfehlung, ein Zentralklinikum zu bauen. Das deckt sich mit der Entscheidung des Kreistages. Wichtig war für uns aber natürlich auch, die Emotionen und Bedenken der Menschen wahr- und mitzunehmen.

Wie sieht es mit der Berücksichtigung der Bürgerempfehlungen bei den politischen Entscheidungsfindung aus?

Kümmel: Bei uns ist der Kreistag das zuständige Entscheidungsgremium, weil sich die Kliniken in der Trägerschaft des Landkreises befinden. Die Herausforderung besteht darin, dass bei der Neuorganisation der Klinikstruktur viele unterschiedliche Interessen zusammenkommen: Jeder Bürgermeister, jede Stadt hat eigene Vorstellungen. Es ist schwierig, ihnen zu erklären, dass sich ihr Klinikum vor Ort verändern wird.

Im Osten Baden-Württembergs gelegen, grenzt der Ostalbkreis an den Freistaat Bayern.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Kümmel: Zu Beginn des Prozesses erhielten wir zuhauf Leserbriefe und Bürgerinitiativen, die sich allesamt gegen Klinikstrukturveränderungen aussprachen. Uns war es daher wichtig, ein Stimmungsbild aus der Gesellschaft zu bekommen, das sich die Situation neutral und unvoreingenommen ansieht. Mit unserer alters- und geschlechtsheterogenen Gruppe haben wir genau diese Möglichkeit bekommen. Durch die Empfehlungen der Bürger fiel dem Kreistag die Entscheidung für einen zentralen Klinikstandort leichter. In anderen Landkreisen sieht man immer wieder, dass es nur knappe Mehrheiten für Strukturänderungen im Klinikbereich gibt. In unserem Fall gab es nur eine Enthaltung und eine Gegenstimme bei insgesamt 73 Kreisräten. Ein eindeutiges Votum. Der Landrat ist davon überzeugt, dass die Bürgerbeteiligung einen relevanten Beitrag zu dieser Zustimmung geleistet hat.

Hat sich die Bürgerbeteiligung auf weitere Versorgungsbereiche ausgewirkt?

Kümmel: Im Landkreis haben wir eine angespannte hausärztliche Versorgungssituation, insbesondere durch eine teilweise Unterversorgung bedingt. Auch den Bürgern fällt auf, dass es an Personal und Nachwuchs fehlt. Lange Wartezeiten sind nur eine der Folgen. Auch im Bürgerforum war spürbar: Es muss sich etwas an den Strukturen ändern, wenn wir eine gute Versorgung im ländlichen Raum sichern wollen. Vielen ist mittlerweile bewusst, dass sich vielleicht nicht in jedem kleinen Dörfchen ein Hausarzt halten kann, sondern Verbünde in Städten zukunftstauglicher sind. Das ist in der Diskussion offensichtlich geworden.

Was sind die wichtigsten Lehren aus der Bürgerbeteiligung?

Kümmel: Gerade im Gesundheitssektor bietet diese Herangehensweise immenses Potenzial. Es handelt sich um einen Bereich, in dem zwar viele Meinungen kursieren, aber grundsätzlich zu wenig Fakten bekannt sind. Ich denke dabei etwa an die Zuständigkeitsbereiche. Ein Beispiel aus meinem Alltag: Häufig rufen Bürger im Landratsamt mit der Bitte an, dass wir ihnen einen Hausarzttermin vermitteln. Da bleibt mir nichts anderes übrig, als sie an die Kassenärztliche Vereinigung zu überweisen.

Passiert das öfter?

Kümmel: Das ist kein Einzelphänomen. Dem Bürger fehlt es häufig an Orientierung. Offen bleiben Fragen wie: Wer trägt die Verantwortung, wo wird mir geholfen oder wo kann ich mich beschweren, wenn etwas nicht gut läuft? Da so viel Halbwissen und Gefühle kursieren, ist die Bürgerbeteiligung eine sehr hilfreiche Möglichkeit, um in den Dialog zu gehen und proaktiv zu kommunizieren. Selbst wenn der Zeit- und Arbeitsaufwand dafür hoch ist, lohnt es sich. Dafür ziehen Bürger und Experten an einem Strang und gewinnen über die Empfehlungen hinaus eine neue Rolle: Sie werden zu Multiplikatoren in ihrer Nachbarschaft, bei Freunden und im familiären Umfeld. Das hat einen hohen Mehrwert.

Ist diese Beteiligungsform auch für andere gesundheitspolitische Bereiche beziehungsweise Akteure denkbar? Gibt es bereits Anfragen?

Kümmel: Aus meiner Sicht ist die Beteiligung in vielen anderen Bereichen sinnvoll. Ich denke beispielsweise an den ambulanten ärztlichen Sektor. Die Eignung leitet sich immer über das Ziel ab: Warum würde man sich hier die Unterstützung für Entscheidungen oder Ideen von Bürgern wünschen? Bei uns ist zwar aktuell nichts weiter geplant, aber die Hebel sind in Bewegung. Wir wollen jetzt ein neues Gesundheitszentrum errichten. Wenn es an die konkrete Planung geht, kann ich mir gut vorstellen, dass wir wieder die Bürger vor Ort zu ihren Wünschen und Ideen befragen. Auch um die Akzeptanz für das neue Zentrum zu erhöhen.

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© pag, Fiolka

Zur Person
Lena Kümmel hat Politikwissenschaft und Soziologie studiert, arbeitete zwei Jahre im Europäischen Parlament und ist seit 2019 im Landratsamt Ostalbkreis als persönliche Referentin des Landrats tätig. Seit 2021 ist sie Referentin für die stationäre und ambulante Versorgung im Landkreis und unterstützt den Zukunftsprozess der Kliniken Ostalb. Begleitend studiert sie Gesundheitsmanagement im Master.
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Bürgerbeteiligung in der Gesundheitspolitik

Wie unbequeme Reformprozesse neu gedacht werden müssen

Berlin (pag) – Die Versorgungslandschaft befindet sich im Wandel, der bisherige Standard wird nicht überall aufrechtzuerhalten sein. Politikerinnen und Politiker müssen sich unpopulären Entscheidungen stellen, die für Unruhe und Skepsis in der Bevölkerung sorgen. Ist die Bürgerbeteiligung ein für die Gesundheitspolitik geeignetes Modell, um Kritik und Protest in konstruktiven Aktivismus umzuwandeln? Eine Bestandsaufnahme.

„Wir erkennen jetzt, dass Bürgerbeteiligung innerhalb des Gesundheitssystems nötig ist und dazu beitragen wird, Reformen innerhalb des Systems zu beschleunigen, konkurrierende Interessen auszugleichen und die Versorgungsqualität zu verbessern“, lautet die zentrale Schlussfolgerung einer vom Bundesgesundheitsministerium (BMG) geförderten und von der Universität Bielefeld durchgeführten Tagung. Stattgefunden hat die Veranstaltung zu Bürgerbeteiligung im Gesundheitswesen bereits im Jahr 1999. Der Gedanke ist also bereits ein Vierteljahrhundert alt. Getan hat sich seitdem nicht viel. Während die Patientenbeteiligung längst im System etabliert ist und kürzlich 20. Jubiläum feierte, herrscht in puncto Bürgerbeteiligung weitgehend Stillstand. Zumindest in Deutschland.

Über internationale Avantgarden

Anders ist die Situation im Ausland: Als Vorreiter für gesundheitspolitische Bürgerbeteiligung gelten etwa skandinavische Länder und auch Großbritannien. „Ich selbst schaue seit vielen Jahren mit einem gewissen Neid nach Großbritannien, wo ich sehe, dass die Organisation der Interessen von Bürgern, Patienten und Konsumenten einen Reifegrad erreicht hat, von dem wir hier noch weit entfernt sind,“ konstatiert der damalige BMG-Abteilungsleiter Dr. Herrmann Schulte-Sasse auf der Tagung vor 25 Jahren. Gegenüber der Presseagentur Gesundheit nennt Prof. Frank Brettschneider von der Universität Hohenheim weitere wichtige Leuchttürme: Das österreichische Bundesland Vorarlberg mit seinen Bürgerräten, der US-amerikanische Bundesstaat Oregon mit seinen Citizens‘ Juries oder Irland mit seinen Citizens‘ Assemblies.

Ostalbkreis als Blaupause

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Brettschneider, der zu Kommunikation bei Infrastrukturprojekten forscht, ist selbst in ein gesundheitspolitisches Beteiligungsformat im Ostalbkreis in Baden-Württemberg involviert: Im Sommer 2023 tauschten sich dort 51 Bürger über die Zukunft der dortigen Gesundheitsversorgung, insbesondere die Neugestaltung der Kliniklandschaft, aus. Dem Kommunikationswissenschaftler zufolge ist das Projekt als Blaupause für andere Kreise geeignet. Die Probleme seien vergleichbar, zudem sei das Verfahren relativ unkompliziert. Brettschneider erklärt es wie folgt: „Zunächst werden die betroffenen Personengruppen identifiziert. Mit ihnen hält man alle relevanten Aspekte auf einer Themenlandkarte fest.“ Diese komme im Anschluss ins Internet, sodass die Bürger Ergänzungen vornehmen können. Im nächsten Schritt hören zufällig ausgewählte Bürger Interessengruppen und Fachleute zu den Fragestellungen an. „Dafür brauchen sie vier bis fünf Termine. Abschließend formulieren die Bürger ihre Empfehlungen an den Kreistag.“ Diese seien allerdings nicht bindend. Folge der Kreistag einzelnen Empfehlungen nicht, muss er dies jedoch begründen (Mehr über das Projekt lesen Sie im Interview mit Lena Kümmel auf der nächsten Seite).

Im Ostalbkreis hat man sich für ein Bürgerforum entschieden, um die Bevölkerung in die Neugestaltung der Kliniklandschaft einzubinden. Solche Foren eignen sich besonders, um wichtige Gremienentscheidungen durch Bürgerempfehlungen vorzubereiten, es können aber auch andere Formate gewählt werden (siehe Infokasten).

Vielleicht ist das Forum ein Indiz dafür, dass hierzulande ein Umdenken stattfindet und sich die Gesundheitspolitik stärker öffnet – als Nebeneffekt des spürbaren Reformdrucks, der die politischen Entscheidungsträger zu unbequemen Maßnahmen zwingt. Denn Beteiligung, da sind sich Wissenschaftler einig, kann die Akzeptanz in politische Entscheidungen erhöhen und das Vertrauen in demokratische Institutionen stärken. Brettschneider kann sich gut vorstellen, dass Gesundheitspolitiker künftig häufiger Bürger mit ins Boot holen. „Sie tragen auch unbequeme Maßnahmen mit, wenn sie die Gründe dafür nachvollziehen können. Dafür muss man die Bürgerinnen und Bürger aber ernst nehmen und mit ihnen sprechen“, so der Kommunikationsexperte. Entscheidend für den Erfolg sei eine Vielfalt von Lösungsalternativen statt einer singulären Vorgabe. Innerhalb eines Beteiligungsprozesses empfiehlt er bis zu drei Varianten zur Diskussion zu stellen, samt aller Vor- und Nachteile. „Zufällig ausgewählte Bürgerinnen und Bürger sind da manchmal sogar mutiger als einige Politiker, die sich von den lauten Stimmen in der Bürgerschaft beeindrucken lassen und sie für die Mehrheitsmeinung halten.“

 

Beteiligungsformate – eine Auswahl
Runde Tische kommen vor allem bei kontroversen Themen zum Einsatz. Vertreter verschiedener Interessen erarbeiten hier gemeinsame Ergebnisse. In Themen- und Fokusgruppen steht nicht die partizipatorische Natur im Vordergrund, sondern die Beratung von Entscheidungsträgern durch Bürger. Meinungsbilder aus speziellen Bevölkerungsgruppen können in Fokusgruppen besonders gut dargestellt werden. Zukunftswerkstätten ermöglichen es Bürgern, sich in Ideenfindung zu Entwicklungen und Entscheidungen einzubringen. Das Format dockt meist direkt am Lebensumfeld von Betroffenen an. Charakteristisch ist eine ausgeprägte Visionsphase. Ein Beispiel dafür ist „Neustart! Reformwerkstatt für unser Gesundheitswesen“ der Robert Bosch Stiftung.