„Verständnis stärken, Bedürfnisse besser erkennen“

Michael Wirtz über die Herausforderungen beruflicher Teilhabe

Der Patientenvertreter Michael Wirtz hat am Aktionsplan „Potenziale erkennen – Fachkräftemangel begegnen“ mitgearbeitet. Die Mission: Die besonderen Bedürfnisse von Menschen mit chronischen Erkrankungen im Arbeitsumfeld stärker zu berücksichtigen. Wirtz ist dabei wichtig, dass Teilhabe eine gemeinsame Aufgabe ist – „von den Unternehmen, von der Politik und auch von den Betroffenen“.

Wirtz: „Die Teilhabe von Menschen mit chronischen Erkrankungen im Arbeitsleben ist eine gemeinsame Aufgabe: von den Unternehmen, von der Politik und auch von den Betroffenen.“ © iStock.com, smartboy10

Mit welchen Hürden sehen sich chronisch kranke Menschen vor allem konfrontiert, wenn es um ihre berufliche Teilhabe geht?

Wirtz: Wenn wir von chronisch kranken Menschen sprechen, sprechen wir gleichzeitig von einer großen Zahl unterschiedlicher Krankheitsbilder. Bei vielen Krankheitsbildern sehen wir das Thema Stigmatisierung weit vorne. Gerade Lifestyle-Erkrankungen werden mit dem Schuldprinzip belegt, obwohl die Ursachen viel tiefergehend sind. Hier bedarf es einer stärkeren Aufklärung im beruflichen Umfeld, um das Verständnis zu stärken und die Bedürfnisse besser erkennen zu können. Ich habe oft das Gefühl, dass die Kommunikation zwischen Betroffenen und Führungskräften viel zu kurz kommt, da beide Seiten oft nicht wissen, wie sie ein Gespräch eröffnen sollten.

Haben Sie den Eindruck, dass die Probleme inzwischen in den Geschäftsführungen, aber auch bei der Politik angekommen sind?

Wirtz: Ich bin da etwas zwiegespalten: In der Politik findet man in Einzelgesprächen mit den Abgeordneten regelmäßig Verständnis und auch das Einsehen, dass man etwas tun muss. Allerdings habe ich das Gefühl, dass hier entweder die Mittel fehlen oder aber keine Mehrheit hierfür zu gewinnen ist. Gefühlt ist man mit Inklusion und deren Umsetzung schon überfordert. Und jetzt kommen wir noch um die Ecke mit dem Thema Menschen mit chronischen Erkrankungen.

… und bei den Unternehmen?

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Wirtz: … würde ich zwischen den großen Unternehmen sowie kleinen und mittelständischen unterscheiden wollen. In den größeren Unternehmen ist es sicherlich einfacher für die Geschäftsführungen, Ansätze für eine bessere Teilhabe zu finden. In den kleineren Unternehmen fehlt es leider häufig an Expertise, um Möglichkeiten so zu integrieren, dass die Arbeitsabläufe weiter gewährleistet werden können. Ehrlicherweise muss man sagen, dass das Engagement eines Unternehmens auch von den persönlichen Erfahrungen der Entscheider abhängt. Ich glaube auch, dass viele Unternehmen gar nicht wissen, wie sie entsprechende Maßnahmen umsetzen können, gerade wenn wir von produzierenden Unternehmen oder personalintensiven Arbeitsbereichen wie zum Beispiel der Pflege sprechen. Auch kleine Handwerksbetriebe stehen hier immer vor großen Herausforderungen.

Das Bündnis „Arbeiten mit chronischen Erkrankungen“ hat den Aktionsplan „Potenziale erkennen – Fachkräftemangel begegnen“ erstellt, an dem Sie mitgearbeitet haben. Wie lautet für Sie die wichtigste Botschaft dieses Papiers?

Wirtz: Die Teilhabe von Menschen mit chronischen Erkrankungen im Arbeitsleben ist eine gemeinsame Aufgabe – von den Unternehmen, von der Politik und auch von den Betroffenen. Es hilft allerdings nicht, wenn die Politik lediglich Regularien vorgibt, die zu höheren bürokratischen Belastungen führen. Am Ende brauchen wir pragmatische Lösungen und Ansätze, die die Unternehmen nicht weiter belasten, die einfach umzusetzen sind und die – das ist das Wichtigste – den Betroffenen zugutekommen. Alles, was wir in Zeit oder Geld investieren, wird sich recht schnell amortisieren. Wir dürfen nicht vergessen, wie wichtig für die Menschen die Arbeitswelt und das Gefühl des Gebrauchtwerdens sind.

 

Zur Person
Michael Wirtz ist seit fast 20 Jahren in der Selbsthilfe und gesundheitspolitisch als Patientenvertreter aktiv. Er ist Vorstandsmitglied bei der AdipositasHilfe Deutschland, die über die Erkrankung informiert und Selbsthilfegruppen unterstützt. Im Blog „Micha‘s ‚dicke‘ Gedanken“ schreibt Wirtz über Adipositas, Selbsthilfe und Gesundheitspolitik.
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Chronisch krank am Arbeitsplatz

Potenziale erkennen – Fachkräftemangel begegnen

Berlin (pag) – Wie können die besonderen Bedürfnisse von Menschen mit chronischen Erkrankungen im Arbeitsumfeld stärker berücksichtigt werden? Über politische Lösungen in Zeiten des Fachkräftemangels und des demografischen Wandels diskutiert kürzlich das Aktionsbündnis „Arbeiten mit chronischen Erkrankungen“ auf einem Summit in der Dänischen Botschaft. Im Mittelpunkt steht dabei die Vorstellung eines neuen Aktionsplans.

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Es ist ein Tag mit einer eindeutigen Mission: Alles dreht sich darum, die Potenziale chronisch kranker Arbeit.nehmender zu erkennen und zu heben, verschiedene Perspektiven darzustellen und – möglichst systemische – Lösungen vorzustellen. Der Summit ist geprägt vom intensiven Austausch zwischen den Teilnehmerinnen und Teilnehmern. Mit dabei sind Vertreterinnen und Vertreter von Patientenorganisationen, Krankenkassen und aus der Arbeitswelt.

Wirtschaftliche Notwendigkeit

Mit einer Videobotschaft meldet sich der Schirmherr der Veranstaltung, CDU-Politiker Dennis Radtke, zu Wort. Radtke ist Europaabgeordneter sowie Bundesvorsitzender der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft (CDA). Er betont: „Die bestmögliche Teilhabe von Menschen mit chronischen Erkrankungen am Arbeitsleben ist nicht nur eine soziale Frage, sondern eine wirtschaftliche Notwendigkeit.“ Er wirbt für ein offenes, unterstützendes Arbeitsumfeld, in dem Betroffene ihre Rechte kennen und auch wahrnehmen können, Führungskräfte gezielt geschult werden, um sensibel und kompetent zu handeln, sowie bestehende Hilfsangebote bekannt und leicht zugänglich sind.

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Am Gesundheitswesen kritisiert er, dass dieses noch zu sehr auf Akutbehandlungen ausgerichtet sei. Ein effektives betriebliches Gesundheitsmanagement, das Menschen mit chronischen Erkrankungen frühzeitig einbindet, sei der Schlüssel zur langfristigen Erhaltung der Arbeitsfähigkeit. Radtke: Jeder investierte Euro in Gesundheitsförderung zahle sich mit einem Return on Investment von 2,70 Euro aus. Bei Arbeitszeiten und Lohnfortzahlung spricht sich der Politiker für mehr Flexibilität aus. Starre Strukturen führten zu Überforderung, Ausfallzeiten und im schlimmsten Fall zur Frühverrentung.

Radtkes abschließende Botschaft lautet: All diese Maßnahmen seien kein Selbstzweck, sondern ein Beitrag zur Sicherung des Wohlstandes, zur Stärkung der Wirtschaft und zur Entlastung des Gesundheitssystems. Diese Herausforderung sei nicht allein zu bewältigen – „es braucht einen Schulterschluss zwischen Politik, Wirtschaft, den Gesundheitsakteuren und den Patientenorganisationen.“

Gelungene Teilhabe

„Potenziale erkennen – Fachkräftemangel begegnen“ lautet der Titel des zweiseitigen Aktionsplans, den das Bündnis „Arbeiten mit chronischen Erkrankungen“ erarbeitet hat und auf dem Summit intensiv diskutiert. Dabei handelt es sich um ein Plädoyer für Rahmenbedingungen, die eine gelungene Teilhabe von Menschen mit chronischen Erkrankungen in der Arbeitswelt sicherstellen.

Die erste Kernforderung stellt Rebecka Heinz vor, Geschäftsführerin und Gründerin von #einevonacht. Die Brustkrebs-Betroffene will „den Umgang mit Krebs im Arbeitskontext revolutionieren“. Sie selbst hat, als sie vor einigen Jahren die Diagnose erhielt, zunächst ihr gesamtes Umfeld „zur Verschwiegenheit verdonnert“, weil sie Nachteile für ihre Selbstständigkeit befürchtete. Später gelangte sie jedoch zu der Überzeugung: „Ich kann nicht nicht darüber sprechen“ und entschied sich für einen offenen Umgang mit der Erkrankung. Sie weiß: Der berufliche Wiedereinstieg ist ein Labyrinth – und zwar für die Betroffenen selbst, aber auch für Führungskräfte und die Kollegen. „Krankheit darf kein Stig.ma sein, kein Karrierekiller und kein Tabu“, sagt Heinz. Wichtig findet sie, von unterschiedlichen Perspektiven auf dieses Thema zu schauen. Gerade Menschen mit Adipositas werden aufgrund der Sichtbarkeit der mit vielen Vorurteilen behafteten Erkrankung in besonderem Maße stigmatisiert und tabuisiert.

Im Positionspapier heißt es dazu weiter:

„Aus diesem Grund ist es essenziell, dass Unternehmen ein unterstützendes, offenes Arbeitsumfeld fördern.“
„Es ist wichtig, dass bürokratische Hemmnisse aufgrund unterschiedlicher Trägerzuständigkeiten, Antragsverfahren und Leistungsarten abgebaut werden und eine enge Einbeziehung der Betriebe sichergestellt ist.“

Fokus auf Prävention

Von links: Rebecka Heinz von #einevonacht, Rüdiger Schüller und Alexander Krauß

„Prävention vor Reha vor Rente – Vorbeugung und Gesundheitsförderung am Arbeitsplatz müssen stärker incentiviert werden“, lautet im Aktionsplan die zweite Kernforderung, die Rüdiger Schüller von der pronova BKK und Alexander Krauß, Leiter der Landesvertretung Sachsen der Techniker Krankenkasse, vorstellen. „Wie bekommen wir einen Anreiz, dass sich (effiziente) Prävention für Krankenkassen lohnt?“, lautet eine der Kernfragen, die diskutiert wird. Ein intelligentes System sei notwendig. Denn der gegenwärtige finanzielle Ausgleichsmechanismus zwischen den gesetzlichen Krankenkassen, der Morbiditätsorientierte Risikostrukturausgleich, sei dafür eher kontraproduktiv. Beide Kassenvertreter werben für einen Umschwung: Statt der Akutversorgung sollte der Fokus auf der Vermeidung von Krankheiten liegen. „Da müssen wir wirklich vorankommen“, fordern beide.

Im Positionspapier heißt es dazu weiter:

„Damit gesundheitsfördernde Angebote für alle Unternehmen attraktiv sind, brauchen wir weitergehende finanzielle und steuerliche Anreize in Unternehmen.“
„Krankenkassen, die für ihre Versicherten überdurchschnittlich viele Präventionsleistungen und betriebliche Gesundheitsförderung anbieten, müssen dafür belohnt werden – z. B. durch Erhöhung des Präventionsbudgets oder den Wegfall der Umsatzsteuer auf Präventionsleistungen.“

Mehr Flexibilität

„Flexible Strukturen schaffen – individuelle berufliche Prävention und Rehabilitation ermöglichen“, lautet das dritte Anliegen aus dem Aktionsplan. Darüber sprechen Michael Wirtz von der AdipositasHilfe Deutschland und Josef A.E. Bednarski, Wertschöpfung Beratungsgesellschaft und ehemaliger Vorsitzender des Konzernbetriebsrats der Deutschen Telekom. Letzterer unterstreicht: „Am Anfang muss die Prävention stehen.“ Gerade bei kleineren und mittleren Unternehmen sei das oft noch ein Problem. Bednarski mahnt konkrete Modelle an und verlangt: „Wir müssen in die Umsetzung kommen.“ Wirtz spricht die Themen Vertrauen, psychischer Druck und Kommunikation an. Er plädiert dafür, Patientenorganisationen an der Entwicklung sogenannter Werkzeugkästen zu beteiligen, um aus den Erfahrungen der Betroffenen zu lernen. Diese könnten zudem anderen chronisch erkrankten Menschen Mut machen, über ihre Diagnose zu sprechen.

Im Positionspapier heißt es dazu weiter:

„Wir brauchen gesetzliche Regelungen und finanzielle Anreize (In-Work-Benefit), so dass Menschen mit chronischen Erkrankungen ihre Arbeit flexibel gestalten können oder schrittweise in diese zurückkehren können.“
„Für kleine und mittlere Unternehmen steht ein ‚Werkzeugkasten‘ bereit. Damit haben sie alles an der Hand, um frühzeitig individuelle Rahmenbedingungen für chronisch Erkrankte in ihrem Unternehmen gestalten zu können.“

„Erste Priorität muss sein, mit den Betroffenen zu sprechen“

Dennis Radtke zur politischen Sichtbarkeit von chronisch kranken Menschen

Berlin (pag) – Mehr politische Sichtbarkeit braucht es, damit sich bei der beruflichen Teilhabe von Menschen mit chronischen Erkrankungen etwas tut. Im Interview betont Dennis Radtke, Europaabgeordneter und CAD-Bundesvorsitzender, dass dafür insbesondere „Aufklärung, gezielte Informationskampagnen und die Einbindung von Betroffenen in politische Entscheidungsprozesse“ notwendig seien.

Die berufliche Teilhabe von Menschen mit chronischen Erkrankungen findet in der Politik kaum Beachtung. Der Fokus liegt eher auf älteren Arbeitnehmern, Frauen und ausländischen Fachkräften. Woran liegt das? Und wie lässt sich ein Bewusstseinswandel einleiten?

Dennis Radtke : „Ich denke, es muss unsere erste Priorität sein, mit den Betroffenen zu sprechen und ihnen zuzuhören.“ © iStock.com, Chirayu

Radtke: Ich denke, das liegt daran, dass in vielen Köpfen immer noch kein richtiges Verständnis für chronische Erkrankungen herrscht. Für die meisten sind Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer entweder krank und komplett arbeitsunfähig oder halt gesund genug, um normal zu arbeiten. Doch chronische Erkrankungen – die ja jedes Jahr zunehmen – passen nicht in dieses Schema. Anders als beim Beinbruch oder einer Lungenentzündung führt eine chronische Erkrankung wie Diabetes oder Adipositas nicht automatisch dazu, dass man arbeitsunfähig ist. Langfristig gesehen haben chronische Erkrankungen aber Auswirkungen auf die Gesundheit und die Arbeitsfähigkeit. Dazu kommt, dass chronische Erkrankungen oft unsichtbar sind. Viele Arbeitnehmende reden nicht darüber, weil sie Stigmatisierung fürchten – zum Beispiel über psychische Erkrankungen, die zu sehr langen Arbeitsausfällen führen können. Das erschwert die politische Sichtbarkeit. Außerdem fehlen der Politik häufig Informationen über die Auswirkungen chronischer Krankheiten am Arbeitsplatz, beispielsweise darüber, wie viele Krankheitstage auf das Konto chronischer Erkrankungen gehen. Ein Bewusstseinswandel braucht deshalb Aufklärung, gezielte Informationskampagnen und die Einbindung von Betroffenen in politische Entscheidungsprozesse.

Heute lebt knapp die Hälfte der erwerbstätigen Bevölkerung mit einer oder mehreren chronischen Erkrankungen. Was kann die Politik tun, um ihre Arbeitsfähigkeit langfristig und nachhaltig zu erhalten und damit dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken?

Radtke: Ich denke, es muss unsere erste Priorität sein, mit den Betroffenen zu sprechen und ihnen zuzuhören. Welche Teile ihrer Arbeit empfinden sie als belastend, welche Lösungen haben sie vielleicht schon intern mit ihren Chefs gefunden, mit welchen Herausforderungen haben sie zu kämpfen? Um die Daten zu sammeln und auszuwerten, müssen wir alle Stakeholder ins Boot holen – Betroffene, Politik, Krankenkassen, Rentenversicherung, Gesundheitsexpertinnen und -experten sowie Sozialpartner. Gerade auch die Personal- und Betriebsräte sowie die Schwerbehindertenvertretungen können hier ihre Erfahrungen einbringen.

Und dann?

Radtke: Dann müssen wir passgenaue Lösungen finden und sie auf den verschiedenen Ebenen um.setzen. Mit Gesetzen, aber auch Tarifvereinbarungen und Angeboten zur Prävention oder beruflicher Reha. Außerdem müssen wir mit einer breitflächigen Informations- und Aufklärungskampagne die Sichtbarkeit steigern und Vorurteile abbauen. Chronische Erkrankungen dürfen nicht dazu führen, dass Arbeitnehmer aus der Arbeitswelt gedrängt werden. Wir brauchen jeden und jede! Ich denke, unser Gesundheitswesen ist immer noch zu sehr auf die Akutbehandlung ausgerichtet, aber zu wenig auf die Vermeidung von Erkrankungen. Deshalb müssen Prävention und Reha gestärkt werden.

Wo sehen Sie die größten politischen Herausforderungen bei der beruflichen Teilhabe für Menschen mit chronischen Erkrankungen? Und was sind eher „low hanging fruits“?

Radtke: Meines Erachtens liegen die größten politischen Herausforderungen in der Unsichtbarkeit und Stigmatisierung chronischer Erkrankungen, fehlender Sensibilisierung bei Arbeitgebenden, mangelnder Flexibilität der Arbeitswelt und unzureichender Nutzung bestehender Unterstützungsangebote. Viele Betroffene verschweigen ihre Erkrankung aus Angst, benachteiligt zu werden, was Teilhabe zusätzlich erschwert. Besonders bei psychischen Krankheiten ist die Hemmschwelle da sehr hoch. „Low hanging fruits“ wären für mich gezielte Aufklärungskampagnen, bessere Information über Rechte und Fördermöglichkeiten, mehr Flexibilität bei Arbeitszeiten und Homeoffice sowie die Förderung eines offenen Umgangs mit chronischen Erkrankungen im Betrieb.

Zur Person
Dennis Radtke ist Mitglied des Europäischen Parlaments. Dort fungiert er als Koordinator der Fraktion der Europäischen Volkspartei (Christdemokraten) und gehört dem Ausschuss für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten an. Der ehemalige Gewerkschaftssekretär und Industriekaufmann ist außerdem Bundesvorsitzender der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft Deutschlands (CDA).
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Quelle: www.dennis-radtke.eu

 

Reibungslose Transition – noch immer die Ausnahme

Wiesbaden (pag) – Der Übergang von der Kinder- in die Erwachsenenmedizin, die sogenannte Transition, ist oft unzureichend organisiert. Die Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM) und die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ) fordern verbindliche Strukturen, damit der Übergang nicht zur gesundheitlichen Belastung wird.

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Gerade für junge Menschen, die an komplexen Krankheitsbildern wie Mukoviszidose, Typ-1-Diabetes oder seltenen, oft angeborenen Erkrankungen mit mehreren typischen Symptomen leiden oder eine Organtransplantation erhalten haben, sei dieser Wechsel mit Risiken verbunden. Werden Vorsorge und notwendige Therapien nicht konsequent fortgeführt, drohen den Expertinnen und Experten zufolge bleibende Schäden, Komplikationen und eine erhöhte Langzeitsterblichkeit.

Durch die medizinischen Fortschritte der letzten Jahrzehnte erreichen viele ehemals pädiatrische Patienten heute das Erwachsenenalter. Damit betreffen Erkrankungen, die früher nur in der Kinderheilkunde relevant waren, auch Internisten. Prof. Britta Siegmund, die in der Arbeitsgruppe Transition der DGIM, DGKJ und der Deutschen Gesellschaft für Neurologie Konzepte für Übergänge in der medizinischen Versorgung entwickelt, betont: „Viele junge Menschen, die im Kindesalter Krebs hatten, entwickeln im Laufe ihres Lebens internistische Komorbiditäten wie Herz- und Nierenprobleme sowie Störungen des Hormonhaushalts.“ Diese Verlagerung erfordere ein vertieftes Wissen über Kinder- und Jugendkrankheiten in der Inneren Medizin sowie eng abgestimmte Übergänge.

Keine angemessene Betreuung?

Trotz Modellprojekten und einer Leitlinie hängt die reibungslose Transition in Deutschland bislang stark vom Engagement einzelner Einrichtungen ab. „Es fehlt an flächendeckenden, verlässlichen Strukturen und klar definierten Verantwortlichkeiten“, betont Prof. Lars Pape. Er ist Mitglied der AG Transition und hat die S3-Leitlinie zu Transition koordiniert. Eine Integration spezieller Angebote, die Heranwachsende beim Wechsel von der Kinder- zur Erwachsenenmedizin unterstützen, in die Regelversorgung scheitere bislang auch daran, dass sie nicht dauerhaft finanziert seien. Ohne geordnete Übergänge bestehe die Gefahr, dass junge Menschen nach dem Verlassen der pädiatrischen Versorgung nicht mehr angemessen internistisch betreut werden – oder erst nach einem langen Versorgungsabbruch wieder Anschluss finden.

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Mit einem gemeinsam herausgegebenen Schwerpunktheft, das parallel in „Die Innere Medizin“ und der „Monatsschrift Kinderheilkunde“ erschienen ist, möchten DGIM und DGKJ Ärztinnen und Ärzte für die Relevanz des Themas sensibilisieren. Das Heft beleuchtet unter anderem Transitionsprozesse bei Erkrankungen aus der Endokrinologie und Diabetologie, Nephrologie, Hämatologie und Onkologie, Pneumologie, Gastroenterologie, Hepatologie und Kardiologie. „Nur wenn wir das Wissen aus Kinder- und Jugendmedizin auf der einen und Innerer Medizin auf der anderen Seite zusammenbringen, können wir Versorgungslücken verhindern und die langfristige Gesundheit dieser jungen Menschen sichern“, betont die DGIM-Vorsitzende Prof. Dagmar Führer-Sakel. Jenseits der AG soll Transition noch stärker in der Aus- und Weiterbildung bei den Jahrestagungen in den Blick genommen werden, kündigt die Essener Internistin an, die im kommenden Jahr dem Internistenkongress als Präsidentin vorstehen wird.

 

Weiterführender Link:
Die Innere Medizin, Schwerpunktheft „Transition – Einführung zum Thema“, Juni 2025

Jede Zelle hat ein Geschlecht


Berlin (pag) – Frauen mit einer chronischen Nierenkrankheit erhalten schlechtere medizinische Versorgung als Männer. Kein Einzelfall, wie kürzlich auf dem Diversity in Health Congress von Inno3 deutlich wird. Dort fordern Experten personalisierte und geschlechtersensible Ansätze in der Versorgung.

Frauen mit chronischer Nierenkrankheit erhielten weniger Früherkennung als Männer, erklärt mkk-Chefin Andrea Galle. © iStock.com, manassanant pamai

Geschlechtsspezifische Medizin ist unverzichtbar, da biologisch weibliche und männliche Körper Krankheiten unterschiedlich wahrnehmen und Therapien verschieden verarbeiten“, betont die Vorständin der Krankenkasse mkk, Andrea Galle. Noch bleibe bei der Gendersensibilität viel Luft nach oben. Frauen mit chronischer Nierenkrankheit erhielten beispielsweise weniger Früherkennung als Männer, erklärt Galle. 
Und Männer mit chronischer Nierenkrankheit erhielten häufiger eine leitliniengerechte Therapie. Zu den Lösungsansätzen gehört für die mkk-Vorständin, biologische Geschlechtsunterschiede in Forschung und Leitlinien zu berücksichtigen. Interprofessionelle Zusammenarbeit sollte in ihren Augen gestärkt und spezialisierte Forschungszentren etabliert werden.

„Jede Zelle, jedes Organ hat ein Geschlecht“, konstatiert Prof. Anke Hinney, die kommissarische Direktorin am Institut für Geschlechtersensible Medizin, Universität Duisburg-Essen. Diese Verschiedenheit der Geschlechter bis auf die zelluläre Ebene müsse sich in geschlechtersensibler Versorgung sowohl in der Prävention, der Diagnostik als auch in der Therapie und Rehabilitation bemerkbar machen.

Unsere Bedarfe

Individuelle Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung blieben in standardisierten Behandlungsplänen unberücksichtigt, sagt Hanna Kindlein vom Verein „Akse – Aktiv und selbstbestimmt“. © iStock, Bill_Vorasate

Unter dem Radar blieben in der Versorgung auch oft Menschen mit Behinderungen, weiß Hanna Kindlein, Mitgründerin des Vereins „Akse – Aktiv und selbstbestimmt“. Aus Betroffenenperspektive berichtet sie auf dem Kongress von Ableismus in Gestalt fehlender barrierefreier Zugänge zu Gebäuden des Gesundheitswesens. Das wiederum verwehre Menschen mit Behinderungen das Recht auf freie Arztwahl. Die individuellen Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung blieben in standardisierten Behandlungsplänen unberücksichtigt. Kindlein fordert, Menschen mit Behinderungen einzubeziehen, denn: „Wir wissen am besten, was unsere Bedarfe sind.

Im Dezember 2024 hat der ehemalige Bundesgesundheitsminister Prof. Karl Lauterbach einen Aktionsplan „für ein diverses, inklusives und barrierefreies Gesundheitswesen“ vorgelegt. Darin finden sich konkrete Maßnahmen, die etwa Arztpraxen beim Abbau von Barrieren unterstützen. Damit der Zugang zu Gesundheitsleistungen für alle einfach und möglich ist, müsse man „Hindernisse erkennen und abbauen – von der Stufe in die Arztpraxis bis zur komplizierten Erklärung einer Therapie“, appelliert Lauterbach.

Weiterführender Link:
Bundesministerium für Gesundheit, Aktionsplan für ein diverses, inklusives und barrierefreies 
Gesundheitswesen PDF, 77 Seiten

Wie ehrliche Bürgerbeteiligung funktioniert

Hannover (pag) – Die Beteiligung von Bürgern in kommunalen Gesundheitsfragen steht kürzlich im Mittelpunkt einer Veranstaltung der Landesvereinigung für Gesundheit und Akademie für Sozialmedizin Niedersachsen Bremen. Dort nennt Sarah Riedel von der Stiftung Mitarbeit entscheidende Erfolgsfaktoren für diese Partizipationsform. Am wichtigsten: Dialoge auf Augenhöhe und „sich ehrlich machen“.

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„In der Regel merken Bürger, wenn sie aufs Korn genommen werden“, betont Riedel. Dazu gehörten Beteiligungs-Inszenierungen, bei denen Bürger nach einer bereits getroffenen Entscheidung „alibi-mäßig“ hinzuzugezogen werden. Die Expertin empfiehlt, Bürgern von Anfang an transparent zu machen, welchen Einfluss die Beteiligung hat und wo Grenzen liegen.

Vom „Bürgerbeirat Gesundheit“ im Landkreis Dachau berichtet Christina Hackl, Bayerisches Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (LGL), auf der Tagung. Der nach dem Modell der „Citizens’ Assembly“ konzipierte Beirat tagte von 2021 bis 2022. Zufällig ausgewählte Bürger erarbeiten in diesem Zeitraum Empfehlungen zu den Themen „Hausärztliche Versorgung“, „Bewegung und Ernährung“ sowie „Psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen“. Nachteilig sei an einer zufälligen Auswahl der Teilnehmer die geringe Rücklaufquote, konstatiert Hackl. „Durch Steigerung der intrinsischen oder extrinsischen Motivation, wie eine Aufwandsentschädigung, könnte die Quote erhöht werden.“

Aus den Erfahrungen des Projekts hat das Landesamt einen Leitfaden zur Bürgerbeteiligung erarbeitet. Erster Schritt ist demnach, die Eignung von Themen zu prüfen. Verschiedene Fragen bieten dafür Orientierung, etwa: „Ist die Kommune zuständig für das Thema oder Themenfeld?“ Der zehnte und letzte Schritt „Abschluss und Auswertung“ sieht vor, das Ergebnis möglichst öffentlichkeitswirksam sichtbar zu machen. Diese Empfehlung hat man in Dachau umgesetzt: Das Modellprojekt Gesundheit wird im Rahmen einer öffentlichen Veranstaltung beendet. Insgesamt 18 Empfehlungen übergeben die Bürger an die Politik.

Kreative Lösungen

Nach einer repräsentativen Befragung von policy matters, Gesellschaft für Politikforschung und Politikberatung, glauben 86 Prozent der Befragten, Bürger sollten künftig stärker in wichtige Entscheidungen einbezogen werden, berichtet Riedel von der Stiftung Mitarbeit. Bei „Fragen der persönlichen Daseinsvorsorge“ befürworten rund drei Viertel der Befragten Bürgerbeteiligung. Riedel benennt einige Vorteile: Bürgerbeteiligung bildet die Meinungsvielfalt einer Gesellschaft ab. Verschiedene Lösungsalternativen können von Bürgern kreativ erdacht werden, neue Ansätze entstehen fernab festgefahrener Muster. Konflikte lassen sich befrieden.

Weiterführender Link:
LGL-Leitfaden für Kommunen: „Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern im Gesundheitsbereich“

Bauplan für die Gesundheit der Zukunft

Experten plädieren für harten Reformkurs

Berlin (pag) – Eine beginnende Zeitenwende im Gesundheitswesen beobachten die drei Professoren Christian Karagiannidis, Boris Augurzky und Mark Dominik Alscher. Um angesichts der vielfältigen Probleme weiterhin eine gute Gesundheitsversorgung sicherzustellen, brauche es tiefgreifende Reformen und eine gesamtgesellschaftliche Transformation. „Wir haben vier Jahre Zeit, um den Turnaround zu schaffen“, sagt Karagiannis bei der Vorstellung eines gemeinsamen Buches.

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„Die Gesundheit der Zukunft“ heißt die Publikation, welche die drei kürzlich bei der Robert Bosch Stiftung in Berlin vorgestellt haben. Deren Zweck umreißt Intensivmediziner Karagiannidis mit wenigen Worten: Die Politik brauche konkrete Reformvorschläge. Alles, was auf der Metaebene bleibe, versickere häufig. Daher will er das Buch als eine Art Bauplan für eine bessere Zukunft verstanden wissen.
Das deutsche Gesundheitswesen ist dem Mediziner zufolge ein System der absoluten Extreme. Extrem viele Arzt-Patienten-Kontakte, extrem viele Krankenhausbetten. Sehr viele Ressourcen werden hineingesteckt, aber am Ende komme „nicht so viel heraus, wie wir uns wünschen“, so Karagiannidis. Das liege nicht an einzelnen Playern, sondern am Gesamtsystem. Sein Credo: Mehr Geld werde die Probleme nicht lösen, sondern nur tiefgreifende Strukturreformen.

Vollkasko mit Selbstbeteiligung

Dafür werden im Buch zahlreiche Vorschläge unterbreitet. Einer der zentralen, den Krankenhausexperte Prof. Boris Augurzky an dem Abend vorstellt, lautet zum Thema Finanzierung: „Vollkasko mit statt ohne Selbstbeteiligung“. Die Experten plädieren dafür, die Vollkaskoversicherung im Gesundheitswesen um eine nach oben gedeckelte und sozial gestaffelte Eigenbeteiligung zu ergänzen. Konkret heißt es im Buch: „Pro Jahr sollten die ersten Ausgaben für Gesundheitsdienstleistungen bis maximal zur Höhe von einem Prozent des beitragspflichtigen Einkommens selbst bezahlt werden.“ Die Autoren rechnen vor, dass die Beitragsbemessungsgrenze (BBG) zur GKV in diesem Jahr bei 66.150 Euro liege. Der maximale Selbstbehalt betrage demnach 661,50 Euro pro Jahr für GKV-Versicherte mit einem Einkommen auf oder oberhalb der BBG. „Für die meisten Versicherten wird er teils deutlich niedriger liegen.“ Bei einem beitragspflichtigen jährlichen Einkommen von 25.000 Euro belaufe sich der maximale Selbstbehalt auf 250 Euro pro Jahr. Damit werde eine soziale Abfederung erreicht, heißt es weiter. Außerdem werden mitversicherte Familienangehörige als Einheit betrachtet, der Selbstbehalt beziehe sich daher auf die Familie als Ganzes.

QALYS moralisch geboten

Darstellung der QALYs für zwei Personen. Person A (blaue Fläche, ohne Behandlung) hat weniger QALYs als Person B (beige Fläche, mit Behandlung). Quelle: wikimedia, Jmarchn, CC BY-SA 3.0

Das Buchkapitel, in dem für die Selbstbeteiligung geworben wird, steht unter dem Titel „Wie wir das künftige System finanzieren“. Darin wird auch klargestellt, dass eine stärkere Steuerfinanzierung kein Heilmittel gegen ungebremste Ausgaben darstelle. Langfristig können sich die Autoren dagegen eine Zusammenführung von GKV und PKV vorstellen. Eine weitere Forderung von ihnen lautet: „Jede medizinische Maßnahme muss auf ihre Kosteneffizienz überprüft werden.“ Dafür bringen sie die sogenannten qualitätsadjustierten Lebensjahre (Quality Adjusted Life Years) ins Spiel.

QALYs sind für viele Akteure des Gesundheitswesens ein Schreckgespenst. Der Vorsitzende des Gemeinsamen Bundesausschusses, Prof. Josef Hecken, warnt seit Jahren vor deren Einführung, er lehnt QALYs als Rationierungsinstrument ab. Das Autorentrio verweist dagegen auf das britische NICE, das solche Bewertungen bereits seit Jahrzehnten durchführe. Dort werden neue Arzneimittel und neue Therapieformen ab einer bestimmten Summe an Kosten pro QALY nicht mehr verabreicht, außer in begründeten Sonderfällen. Augurzky, Alscher und Karagiannidis räumen ein, dass diese nüchterne Herangehensweise auf der Ebene eines Individuums moralisch fragwürdig erscheine. „Wenn man aber bedenkt, dass die Ressourcen, die für die Erbringung einer Leistung mit geringerem Nutzen aufgewandt werden, woanders fehlen, wo sie größeren Nutzen stiften könnten, wird klar, dass diese Vorgehensweise aus gesamtgesellschaftlicher Sicht dagegen moralisch sogar geboten ist.“

Was sind QALYs?
Mit QALYs kann man den Nutzen medizinischer Leistungen messen und mit anderen Leistungen vergleichen. Sie werden auch verwendet, um den erzielbaren Nutzen einer Leistung ihren Kosten gegenüberzustellen. Berücksichtigt werden die verlängerte Lebenszeit des Patienten durch die Therapie, aber auch die Lebensqualität in dieser Lebenszeit. Die Lebensqualität wird anhand eines Nutzwertfaktors bewertet, der zwischen null für die denkbar schlechteste und eins für die bestmögliche Lebensqualität liegt, heißt es in dem Buch. Der QALY errechnet sich aus der verbleibenden Lebenszeit multipliziert mit dem Nutzwertfaktor.

Das medizinisch Sinnvolle

Nach der Finanzierungsfrage nehmen die Autoren die „explodierenden Therapiekosten“ im folgenden Kapitel in den Blick. Explizit sprechen sie dort die jüngere Ärztegeneration an: Deren Aufgabe werde es sein, „kritisch zu hinterfragen, was medizinisch sinnvoll ist, und nicht, was technisch machbar ist“. Ein erster Schritt sei in diesem Zusammenhang die Einrichtung von allgemein-internistischen Stationen in den Krankenhäusern, wo die Spezialisten bei Bedarf hinzugeholt werden. Zur Eindämmung der Therapiekosten wird eine Reihe verschiedener Instrumente aufgezählt. Eine Auswahl:

  • Die Autoren nennen etwa Mengengrenzen. Dabei wird für bestimmte Eingriffe und Therapien je Leistungserbringer ein Gesamtbudget festgelegt, das nicht überschritten werden darf. Ergänzend brauche es Referenzgremien für Einzelfallentscheidungen, wenn der Deckel erreicht sei.
  • Konsequent sollen für neue Arzneimittel Kosten-Nutzen-Bewertungen angewendet werden. Diese Möglichkeit ist gesetzlich sogar möglich, doch zur Anwendung ist dieses Instrument bisher noch nie gekommen.
  • Die Experten plädieren außerdem dafür, das 
„Orphan-Drug-Privileg“ im Rahmen des AMNOG-Verfahrens zu streichen. Bislang gilt für Arzneimittel gegen seltene Leiden automatisch ein Zusatznutzen als belegt.
  • Ein weiteres Stichwort lautet Preisgrenze: Nach den Vorstellungen der Autoren definiert künftig der Gemeinsame Bundesausschuss, wie viel ein zusätzlich gewonnenes Lebensjahr kosten darf. „Dieser Wert dient den Pharmafirmen automatisch als Richtschnur für ihre Preisfestsetzung.“

Die Goldenen Jahre

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Auch für andere Bereiche des Gesundheitswesens wie Prävention, Public Health oder Künstliche Intelligenz und elektronische Patientenakte unterbreiten die Autoren zahlreiche Reformvorschläge. Wie ein roter Faden zieht sich durch das Buch der Appell für tiefgreifende und notwendige strukturelle Umbauten. Diese seien bislang versäumt worden, weil das nötige Geld immer ausreichend vorhanden gewesen sei. Dies diente zur Lösung jedes Problems, „insbesondere auch, um Konflikten aus dem Weg zu gehen“, schreiben die Autoren. Damit ist nun Schluss. Karagiannidis, Augurzky und Alscher sind überzeugt, dass die „Goldenen Jahrzehnte des Gesundheitswesens“ mit schier unerschöpflichem Aufbau von neuen Angeboten, hohen Ausgaben und sehr hohen Gehältern jetzt ein jähes Ende finden.

 

Die Autoren
• Prof. Christian Karagiannidis ist praktisch tätiger Internist, Pneumologe und Intensivmediziner. Er ist Mitglied der Krankenhaus-Regierungskommission sowie an der Universität Witten/Herdecke.
• Prof. Boris Augurzky ist Gesundheitsökonom und gesundheitspolitischer Sprecher des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung RWI und ebenfalls Mitglied der Krankenhaus-Regierungskommission. Er leitet die hcb GmbH sowie die Rhön Stiftung.
• Prof. Mark Dominik Alscher ist Geschäftsführer des Bosch Health Campus mit dem Robert Bosch Krankenhaus.

 

„Es fehlt an strukturierter Langzeitnachsorge“

Prof. Volker Arndt zu Defiziten in der Betreuung von Krebsüberlebenden

Heidelberg (pag) – Bei der Betreuung von Langzeitüberlebenden fehlt es trotz vieler Angebote an ganzheitlichen Programmen, sagt Krebsforscher Prof. Volker Arndt. Im Interview spricht er über den Stand der Survivorship-Forschung, die deutsche Versorgungslandschaft und die „Lost in Transition“-Problematik.

In den letzten Jahrzehnten gab es enorme Fortschritte in der Krebsbehandlung. Was bedeutet diese medizinische Entwicklung?

Arndt: Langfristiges Überleben ist für viele Krebspatientinnen und Krebspatienten zu einer realistischen Perspektive geworden. Es gibt mittlerweile eine Reihe von Tumorerkrankungen, bei denen mehr als die Hälfte der Betroffenen 20 Jahre und länger überlebt. Allerdings gilt das nicht für alle Tumorarten.

Prof. Arndt: „Nach Abschluss der regulären Tumornachsorge, die meist nach fünf Jahren endet, (…) beginnt die Phase des ,dauerhaften Überlebens‘.“ © stock.adobe.com, Svitlana

Was folgt aus diesem Fortschritt?

Arndt: Es gibt in Deutschland derzeit etwa fünf Millionen Menschen mit akuter oder überstandener Krebserkrankung. Über 60 Prozent davon – drei Millionen – sind sogenannte Langzeitüberlebende: Personen, bei denen die Diagnose fünf und mehr Jahre zurückliegt. Für viele ist Krebs dabei eine chronische Erkrankung, die auch Jahre nach der Diagnose Auswirkungen auf Gesundheit und Lebensqualität hat.

Wie kann man dieses große Feld fassen?

Arndt: Wir unterscheiden verschiedene Phasen beim Leben mit beziehungsweise nach einer Krebserkrankung. Das erste Jahr nach der Diagnose wird von den diagnostischen und therapeutischen Bemühungen dominiert. Nach Abschluss der primären Therapie schließt sich – wenn eine Heilung oder zumindest eine Remission eingetreten ist – eine Phase des beobachtenden Abwartens mit regelmäßigen Nachuntersuchungen an. Psychologisch gesehen ist diese Zeit von der Angst vor einem Wiederauftreten der Krankheit geprägt.

Wie geht es dann weiter?

Arndt: Nach Abschluss der regulären Tumornachsorge, die meist nach fünf Jahren endet, sofern dann kein aktives Tumorgeschehen mehr nachweisbar ist, beginnt die Phase des „dauerhaften Überlebens“. Sie wird häufig mit „Heilung“ gleichgesetzt. Unsere Untersuchungen zeigen einerseits, dass sich gut zwei Drittel aller Langzeitüberlebenden nach Ende der regulären Tumornachsorge nicht mehr als „Krebspatientin“ oder „Krebspatient“ sehen. Dies gilt insbesondere, solange kein Rezidiv aufgetreten ist. Andererseits gibt ein Drittel der Langzeitüberlebenden an, dass sie die Krebserkrankung noch belastet.

Hier kommt das Konzept Survivorship ins Spiel?

Arndt: Ja, das Forschungsgebiet „Cancer Survivorship“ hat die Gesundheit und Lebenssituation über die akute Diagnose- und Behandlungsphase hinaus im Blick. Wir verfolgen das Ziel, Langzeit- und Spätfolgen besser zu behandeln und Negatives im Idealfall zu verhindern. Neben den physischen, psychosozialen und wirtschaftlichen Aspekten umfasst das auch solche der Nachsorge und Tertiärprävention. Das Konzept betrachtet die Betreuung von Langzeit-Krebsbetroffenen als integralen Bestandteil des Behandlungskontinuums. Deren Bedürfnisse werden hierzulande noch nicht ausreichend wahrgenommen. Ein „Cancer-Survivorship-Nachsorgeprogramm“ ist bislang nicht etabliert.

Was für Probleme gibt es dabei?

Nach Abschluss der regulären Nachsorgephase kann eine „Lost in Transition“-Problematik eintreten, also Unklarheiten darüber, wer Ansprechpartner für die möglichen vielfältigen, nicht immer direkt tumorbezogenen Probleme ist. © iStock.com, mathisworks

Arndt: Die Behandler in der Akutphase verlieren oft bereits während oder spätestens nach Abschluss der regulären Nachsorgephase den Kontakt zu den Patientinnen und Patienten. Es kann dann eine „Lost in Transition“-Problematik, also Unklarheiten darüber, wer Ansprechpartner für die möglichen vielfältigen, nicht immer direkt tumorbezogenen Probleme ist, eintreten. Es fehlt immer noch eine strukturierte Langzeitnachsorge, die alle physischen, psychoonkologischen und sozialen Aspekte gleichermaßen berücksichtigt. Außerdem sind die Betroffenen und behandelnde Ärzte oft unzureichend informiert.

Wie ist die Nachsorge in Deutschland geregelt?

Arndt: Bisher gibt es dazu in zahlreichen klinischen Leitlinien der Fachgesellschaften Vorgaben. Diese fokussieren aber in erster Linie das Erkennen von Tumorrezidiven und adressieren nur einzelne ausgewählte Spät- und Langzeitfolgen. Psychosoziale Aspekte sind zwar in gesonderten Leitlinien enthalten, werden aber im Behandlungsalltag oftmals nicht angesprochen oder nicht erkannt. Kolleginnen und Kollegen der Universität Duisburg-Essen erstellen gerade im Rahmen der vom Bundesgesundheitsministerium geförderten Optilater-Studie eine umfassende Ist-Soll-Analyse zur Langzeitbetreuung von Krebs-Betroffenen.

Seit 2016 leiten Sie die Arbeitsgruppe Cancer Survivorship beim Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ). Wie sieht Ihre Arbeit aus?

Arndt: Neben den physischen, psychosozialen und wirtschaftlichen Folgen interessieren uns Fragen im Zusammenhang mit der Gesundheitsversorgung, dem Zugang zu Unterstützungsmöglichkeiten und der Nachsorge. Wir arbeiten dabei primär „epidemiologisch“ im Rahmen von groß angelegten, meist bevölkerungsbezogenen Befragungsstudien und versuchen, uns ein Bild über die gesundheitliche Situation der Betroffenen zu machen. Wir versuchen, Bedarfe und damit Ansatzpunkte für eine verbesserte Betreuung in der Nachsorge zu identifizieren. Hier sind wir auch im Rahmen nationaler und internationaler Projekte bei der Instrumentenentwicklung zur Erfassung der gesundheitlichen Situation nach einer Krebsdiagnose aktiv beteiligt. Das Thema „Survivorship“ ist aber durch seine Multidisziplinarität noch bei weiteren Gruppen, etwa bei der Abteilung „Gesundheitsökonomie“ oder der Abteilung „Bewegung, Präventionsforschung und Krebs“ am DKFZ, verankert. Durch die Einrichtung zweier weiterer Abteilungen mit dem Fokus auf psychologische Resilienz sowie junge Personen mit Krebs wird die Expertise am DKFZ noch weiter ausgebaut. Hierfür sind wir der Dietmar-Hopp- und der Hector-Stiftung sehr dankbar.

Wie sieht die generelle Entwicklung in Deutschland aus?

Arndt: „Survivorship“ hat in den letzten Jahren zunehmend Niederschlag in der deutschen Forschungslandschaft gefunden. Es sind aber meist isolierte Aspekte oder Entitäten, die von den einzelnen Forschungsgruppen untersucht werden. Diese Gruppen sind zudem meist an deren größeren Abteilungen angegliedert. Eigenständige „Survivorship“-Abteilungen gibt es meines Wissens in Deutschland noch nicht. Allerdings gibt es zunehmend Aktivitäten. Ein wichtiger Impuls resultierte aus dem Nationalen Krebsplan, in dem 2018 eine Experten-Arbeitsgruppe „Langzeitüberleben nach Krebs“ eingerichtet wurde.

Wie steht Deutschland im internationalen Vergleich da?

Arndt: Bei der empirischen Datenlage sind die meisten Länder abgesehen von den skandinavischen auch nicht viel weiter. Um die Lücke zu schließen, haben wir gerade im Verbund der Deutschen Krebsregister dem Bundesgesundheitsministerium ein Konzept zur Integration detaillierter Daten auf Basis des kürzlich in Kraft getretenen Gesundheitsdatennutzungsgesetzes vorgeschlagen. Bei den umfassenden „ganzheitlich orientierten“ Nachsorgeprogrammen haben wir auch Aufholbedarf. Wir sind gerade im Rahmen eines europäischen Konsortiums dabei, uns einen Überblick über die „Survivorship“-Programme in allen europäischen Ländern zu verschaffen. Für Deutschland gibt es bisher nur eine Handvoll Modellprojekte.

Wie sieht die Versorgungslandschaft aus?

Arndt: Es gibt zahlreiche Versorgungsangebote für Langzeitüberlebende, die jeweils separate Themen adressieren aber nicht vernetzt sind. Neben der medi-zinischen Routine-Nachsorge gibt es Angebote wie psychosoziale Krebsberatungsstellen, Rehabilitationsmaßnahmen oder Physio- und Ergotherapie. Auch die Krebs-Selbsthilfe und Patientenverbände spielen eine wichtige Rolle. Die Selbsthilfe ist für viele Langzeitüberlebende schon lange eine bewährte Instanz zur Begleitung und Beratung von Betroffenen durch Betroffene. Trotzdem ist die Entwicklung von spezifischen und zugleich ganzheitlich ausgerichteten Survivorship-Angeboten notwendig. Um das zu erreichen, braucht es mehr Koordinierung.

Wie kann das gelingen?

Arndt: Es sind verschiedene Modelle denkbar und in anderen Ländern auch bereits im Einsatz. Die Spannbreite erstreckt sich von „nicht-ärztlichen“ Lotsen über ein allgemeinmedizinisches Gemeinschaftsmodell unter Einbeziehung spezifischer Konsiliardienste bis hin zur multidisziplinären Survivorship-Klinik. Bei allen Ansätzen ist aber zu bedenken: Die Gruppe der von Krebsbetroffenen ist nicht homogen. Zwar eint alle die Erfahrung, mit einer Krebsdiagnose konfrontiert gewesen zu sein – aber die krankheitsbedingten Herausforderungen und Krankheitsverläufe sind unterschiedlich. Deswegen braucht es eine differenzierte Betrachtung und zielgruppenspezifische Betreuungskonzepte.

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privat

Zur Person Der Wissenschaftler Prof. Volker Arndt ist seit 2016 Leiter der Arbeitsgruppe „Cancer Survivorship“ am Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) in Heidelberg. Beim DKFZ ist er aber schon seit über 19 Jahren in der Krebsforschung aktiv. Außerdem ist er Leiter des Epidemiologischem Krebsregisters Baden-Württemberg.
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„Wenn ich dann noch da bin…“

Dr. Cindy Körner über ihr Leben nach der Krebsdiagnose

Berlin (pag) – Krebsforscherin Dr. Cindy Körner wechselt nach einer Brustkrebsdiagnose die Seite und spricht im Interview über Herausforderungen als Krebsüberlebende, Lücken in der Nachsorge und der Angst vor einem Rückfall. „Die größte Veränderung ist wohl der Verlust der gesundheitlichen Unbeschwertheit“, konstatiert Körner.

© Marius Stark, NCT Heidelberg

Zur Person Dr. Cindy Körner ist promovierte Molekularbiologin in der Krebsforschung. Nach ihrer eigenen Brustkrebsdiagnose steht sie plötzlich „auf der anderen Seite“. Als Sprecherin des Patientenforschungsrats Nationales Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) Heidelberg bringt sie Wissenschaft und das Patientensein in Einklang. Zudem beteiligt sich Körner an der im Rahmen der Nationalen Dekade gegen Krebs geförderten Studie SURVIVE zur Brustkrebsnachsorge.
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Wie hat sich Ihr Leben durch die Brustkrebsdiagnose und -therapie verändert?

Körner: Die größte Veränderung ist wohl der Verlust der gesundheitlichen Unbeschwertheit. Es schwingt seit der Diagnose in allen langfristigen Plänen der Gedanke mit: „Wenn ich dann noch da bin…“. Meine größte Herausforderung ist nach wie vor, das Vertrauen in meinen Körper und mein Körpergefühl wieder zurückzufinden. Abgesehen von den psychischen Themen habe ich insbesondere während der Akuttherapie auch körperliche Beeinträchtigungen erlebt – beispielsweise akute Entzündungen mit hohem Fieber, Bewegungseinschränkungen durch die OPs oder eine temporär gefährliche Schwächung des Immunsystems. Das alles hat meinen Körper ganz schön mitgenommen und macht mir nach wie vor zu schaffen.

Wie geht es Ihnen jetzt?

Körner: Ich bin trotz einer gesünderen Lebensweise mit mehr Sport und einem gesünderen Gewicht als vor der Diagnose lange nicht so belastbar wie zuvor. Die Erschöpfung, auch Fatigue genannt, ist unter Langzeitüberlebenden weit verbreitet und beeinträchtigt den Weg zurück in ein normales Leben immens. Gleichzeitig hat meine Erkrankung mir neue Perspektiven eröffnet. Ich habe mich dazu entschieden, diese Perspektiven positiv zu nutzen und mich als Patientenvertreterin zu engagieren, um die künftige Versorgung von Patienten und Patientinnen zu verbessern. Dazu gehört auch, dass ich gemeinsam mit anderen Patientenforschungsräten am Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) dazu beitrage, dass klinische Studien patientenzentrierter werden.

Wie gestaltet sich die medizinische Nachsorge? Werden alle wichtigen Aspekte Ihrer Gesundheit ausreichend überwacht?

Körner: Die medizinische Nachsorge bei Brustkrebs ist klassisch sehr stark auf ein mögliches Wiederauftreten des Tumors in der Brust oder der Achselhöhle ausgerichtet. Das wird engmaschig mit verschiedenen Bildgebungsmethoden überwacht – obwohl das nicht das ist, wovor ich persönlich am meisten Angst hätte.

Sondern?

Körner: Schlimmer wäre das Auftreten von Fernmetastasen in anderen Organen, wie den Knochen, dem Gehirn, der Lunge oder der Leber. Nach aktuellem Stand der Nachsorge werden diese häufig erst erkannt, wenn sie so groß sind, dass sie Symptome verursachen. Das verunsichert uns Patientinnen natürlich.

Wie äußert sich das?

Körner: Viele von uns hören deswegen sehr genau in uns hinein, um Symptome frühzeitig wahrzunehmen. Und wenn wir etwas wahrnehmen, sind das natürlich meistens keine Symptome, die durch Metastasen verursacht werden – Kurzatmigkeit ist beispielsweise meist Folge einer Erkältung. Diese ständige Alarmbereitschaft belastet psychisch immens. Das ist für Außenstehende manchmal schwer nachvollziehbar und wird in der Nachsorge in meinen Augen unzureichend berücksichtigt. Zudem haben Langzeitüberlebende oft Schwierigkeiten, Ansprechpartner für das komplexe Zusammenspiel verschiedener Langzeitfolgen zu finden. Onkologen und Onkologinnen verweisen auf die jeweiligen Fachärzte und Fachärztinnen, die auf ihr Fachgebiet spezialisiert sind, aber etwa mit möglichen Wechselwirkungen zwischen Tumortherapien wenig Erfahrung haben. Da fühlt man sich oft hilflos und verloren.

Viele Betroffene berichten noch Jahre nach der Diagnose von Diskriminierungserfahrungen. Welchen Ungleichbehandlungen sind Patienten ausgesetzt?

© stock.adobe.com, InsideCreativeHouse

Körner: Persönlich habe ich keine sozialen und ökonomischen Ungleichbehandlungen erlebt. Glücklicherweise war mein Arbeitsvertrag als Wissenschaftlerin kurz vor der Diagnose entfristet worden. Dank einer Berufsunfähigkeitsversicherung war ich über die Dauer der Akut-therapie, welche mehr als ein Jahr dauerte, finanziell gut abgesichert. Außerdem habe ich in meinem sozialen und beruflichen Umfeld viel Unterstützung erfahren und die Erkrankung nie als Stigma empfunden. Möglicherweise lag das auch an meinem offenen Umgang mit der Diagnose, der Behandlung und den damit verbundenen Einschränkungen. Offene Kommunikation beugt unter den passenden Umständen vielen Missverständnissen und Spekulationen vor. Ich kenne allerdings auch andere Fälle.

Zum Beispiel?

Körner: Menschen mit einer Schwerbehinderung haben ein Anrecht auf zusätzliche Urlaubstage. Ich kenne Fälle, wo ihnen in der Folge vom Arbeitgeber der vertragliche Urlaub gekürzt wurde, damit sie keinen „Vorteil“ gegenüber den Kollegen und Kolleginnen haben. Manche Arbeitgeber verwehren ihnen, eine für ihre Situation angebrachte Tätigkeit zu übergeben – ohne Rücksicht auf die Auswirkungen zu nehmen, etwa die eingeschränkte Leistungsfähigkeit in bestimmten Bereichen. Ich kenne auch Menschen, denen aus diesen Gründen nahegelegt wurde, den Arbeitgeber zu verlassen. Zusätzlich haben gerade junge Langzeitüberlebende das Problem des Nicht-Vergessens. Ihre frühere Diagnose kann zu teils massiven Nachteilen führen, beispielsweise bei Versicherungen, Krediten, Berufswahl oder auch Adoptionswunsch.

An welchen gesetzlichen Stellschrauben sollte gedreht werden?

Körner: Gerade in Bezug auf die angesprochenen Schwierigkeiten von jungen Langzeitüberlebenden gibt es seit einiger Zeit Bestrebungen nach einem „Recht auf Vergessenwerden“, wie es in anderen europäischen Ländern schon besteht. Vorangetrieben werden diese Initiativen von Patientenorganisationen, darunter die Stiftung „Junge Erwachsene mit Krebs“, und von onkologischen Fachverbänden wie der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie. Dieses Recht würde beinhalten, dass es bei Langzeitüberlebenden nach einer Heilungsbewährung von beispielsweise zehn Jahren keine Benachteiligung mehr gegenüber Nicht-Erkrankten geben darf. Laut EU-Vorgabe muss auch hierzulande bis Ende 2025 eine entsprechende Regelung umgesetzt werden. Auch eine bessere finanzielle Absicherung wäre wünschenswert, wenn Menschen aufgrund einer Krebserkrankung langfristig nicht arbeiten können. Mit dem Verlust des Krankengeldes nach 78 Wochen fallen sie aktuell in die Arbeitslosigkeit oder in die Erwerbsminderungsrente. Beides führt zu finanziellen Einbußen und erschwert die Rückkehr in den Arbeitsmarkt. Außerdem wünsche ich mir eine konsequentere Umsetzung der Nachteilsausgleiche im Zusammenhang mit der Schwerbehinderung. Was nützt ein Kündigungsschutz, wenn es für Arbeitgeber Schlupflöcher gibt oder sie konsequenzlos schwerbehinderte Mitarbeitende aus ihren Beschäftigungsverhältnissen drängen können?

Stichwort psychische Unterstützung bei Langzeitüberlebenden: Welche Angebote gibt es? Sind sie ausreichend?

Körner: Die psychische Unterstützung kommt leider deutlich zu kurz. Aufgrund der steigenden Zahl von Langzeitüberlebenden ist davon auszugehen, dass sich der Mangel künftig eher verschärfen wird. In der Zeit um die Diagnose und die Akuttherapie besteht an den zertifizierten onkologischen Zentren die Möglichkeit einer hochqualifizierten psychoonkologischen Unterstützung. Wie viele andere Angebote der Zentren endet dieses allerdings mit der Akuttherapie. Doch gerade in dieser Phase stehen die Überlebenden vor den Herausforderungen der Rückkehr in einen neuen Alltag. Dabei treffen oft die Erwartungen des Umfeldes, dass alles wieder gut sei, auf die gefühlte Realität der Betroffenen, in der erstmal nichts gut ist.

Was kann helfen?

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Körner: In dieser Phase können Anschlussheilbehandlungen oder Rehabilitationsmaßnahmen hilfreich sein. In den Reha-Kliniken wird auch viel Aufmerksamkeit auf die psychische Rehabilitation gelegt. Eine weitere Option stellen Krebsberatungsstellen dar, in denen Betroffene und deren Angehörige auch zu späteren Zeitpunkten kostenfrei und unkompliziert psychoonkologische Beratung bekommen können. Diese kann sowohl in akuten Krisen als auch in der Wartezeit auf einen Psychotherapieplatz sehr wertvoll sein. Neuere Ansätze nutzen zudem wissenschaftlich validierte Smartphone-Apps, sogenannte Digitale Gesundheitsanwendungen, um – vereinfacht ausgedrückt – die Langzeitüberlebenden dazu zu befähigen, sich selbst zu helfen und so selbstwirksam ihre Belastung zu reduzieren.

Für viele Langzeitüberlebende ist die Angst vor einem Rückfall ein ständiger Begleiter. Wie gehen Sie damit um? Haben Sie Tipps für andere Betroffene?

Körner: Diese Gedanken kann ich gut nachvollziehen. Das Bewusstsein, dass es nach wie vor zu einem Rückfall kommen kann, schwingt auch bei mir immer mit. Wobei ich es nicht mehr als Angst bezeichnen würde. Es lähmt mich nicht mehr und ich hatte schon lange keine irrationale Paranoia als Reaktion auf unspezifische Symptome mehr. Das ist eine deutliche Verbesserung gegenüber der Situation vor ein oder zwei Jahren. Ähnliches höre ich von anderen Betroffenen, deren Diagnose weiter zurückliegt. Es gibt also Hoffnung für alle, die sich momentan noch durch die Angst vor einem Rückfall gelähmt fühlen. Wie sich die Angst überwinden lässt, ist sicherlich sehr individuell. Mein erster Impuls war, sie beiseitezuschieben – zu vermeiden, darüber nachzudenken. Dieser Weg hat für mich überhaupt nicht funktioniert. Die Angst hat mich in unerwarteten Momenten plötzlich überrollt, bis hin zu Panikattacken. In sehr intensiven und schwierigen Gesprächen in der Krebsberatungsstelle habe ich meine Gefühle mit der Beraterin thematisiert und aufgearbeitet. Mir hilft der Gedanke, alles in meiner Macht Stehende zu tun, um den Rückfall zu verhindern: Ich halte mich zuverlässig an meinen Medikations- und Nachsorgeplan und bemühe mich bewusst um eine gesunde Lebensweise. Zumindest im Rahmen dessen, was in meinen Alltag passt. Jede und jeder Betroffene muss den individuell passenden Weg für den Umgang finden. Ich kenne Menschen, für die der richtige Weg darin liegt, nicht über die Angst nachzudenken und sich auf das Positive und die Gegenwart zu fokussieren.

Sie nehmen an der klinischen Studie „SURVIVE“ teil. Worum geht es dabei?

Körner: SURVIVE hat das Ziel, die bereits angesprochene unzureichende Nachsorge in Bezug auf Fernmetastasen bei Brustkrebs zu verbessern. Im Rahmen der Studie soll der Nutzen von Liquid Biopsies, also der Untersuchung von Blutproben, geprüft werden.

Wie genau?

Körner: In den Blutproben von Patientinnen mit einem erhöhten Rückfallrisiko wird nach sehr spezifischen Markern für Tumorzellen, der sogenannten zirkulierenden Tumor-DNA, gesucht. Wenn diese im Blut einer Patientin entdeckt wird, ist es nahezu sicher, dass in der Folge Metastasen entstehen. Die Studie stellt die Frage, ob das frühzeitige Entdecken von Metastasen und die damit verbundene frühere Behandlung die Prognosen der Patientinnen weiter verbessern können. Dafür werden Blutproben von mehr als 3.000 Patientinnen gesammelt. Die Hälfte davon wurde zufällig dem Kontrollarm der Studie zugeteilt und die Proben werden nur gelagert. Die Proben der anderen Hälfte werden untersucht. Falls Tumormarker entdeckt werden, wird eine gezielte Suche nach den möglichen Metastasen ausgelöst. Als Studienteilnehmerin weiß ich nicht, welcher Gruppe ich angehöre. Ich weiß also nicht, ob ich selbst überhaupt von der Teilnahme profitieren könnte, falls ich einen Rückfall bekomme. Trotzdem war mir sofort klar, dass ich teilnehmen möchte – um einen winzigen Teil beizutragen, dass die Nachsorge für Patientinnen mit hohem Rückfallrisiko treffsicherer gestaltet werden kann, um ihnen die Angst vor großen, schwer behandelbaren Metastasen zu nehmen und die Prognose weiter zu verbessern.

Ignorierte Bedürfnisse

Wie Krebsüberlebende nach der Akuttherapie durchs Raster fallen

Berlin (pag) – Viele Krebsbetroffene kämpfen auch Jahre nach der ersten Diagnose mit Spät- und Langzeitfolgen. Neben körperlichen und psychischen Einschränkungen berichten Betroffene zudem von wirtschaftlicher und sozialer Diskriminierung. Ganzheitliche und strukturierte Versorgungsangebote sind noch rar. Allmählich kommt aber Bewegung in das Thema Survivorship.

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Die Situation für Menschen mit einer Krebserkrankung hat sich in den letzten Jahrzehnten enorm verbessert. Neue Therapien, Frühuntersuchungsprogramme und Fortschritte bei der Diagnostik sorgen dafür, dass die Krankheit heutzutage nicht mehr automatisch ein Todesurteil ist. Bei einer Reihe von Tumorerkrankungen in Deutschland überlebt mittlerweile mehr als die Hälfte der Betroffenen 20 Jahre oder länger. Durch den medi-zinischen Fortschritt ergeben sich damit völlig neue Herausforderungen, auf die das Versorgungssystem allenfalls punktuell vorbereitet ist. Eine Gesamtstrategie fehlt. Die Bedürfnisse von Krebsüberlebenden werden hierzulande noch nicht ausreichend wahrgenommen, kritisiert etwa Prof. Volker Arndt, der die Arbeitsgruppe „Cancer Survivorship“ am Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) leitet.

Andauernde Angst vor dem Rückfall

Zur Einordnung: Etwa 4,5 bis fünf Millionen Menschen mit aktiver oder überstandener Krebserkrankung sind in Deutschland mit vielzähligen Langzeit- und Spätfolgen konfrontiert, welche teilweise erst Jahre nach der Krebstherapie auftauchen können, so die 2018 eingerichtete Expertengruppe „Langzeitüberleben nach Krebs (AG LONKO)“ des Nationalen Krebsplans. Für drei Millionen von ihnen liegt die Krebserkrankung mindestens fünf Jahre zurück – damit fallen sie unter die Kategorie Langzeitüberlebende, häufig gelten sie als „geheilt“. Und dennoch: Der Krebs überschattet für viele von ihnen auch ein halbes Jahrzehnt später noch das alltägliche Leben. In Form chronischer Schmerzen und ‚Fatigue‘ zum Beispiel, in Gestalt von Herzerkrankungen, Lymphödemen oder als Blasen- und Darmfunktionsstörungen. Psychisch steht für viele Langzeitüberlebende eine andauernde Angst vor einem Rezi-div auf der Tagesordnung. Zu den häufigen Langzeit- und Spätfolgen gehören daher Depressionen und posttraumatische Belastungsstörungen.

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© iStock.com, FatCamera

Angebot endet mit Akutphase

Gerade die psychische Unterstützung kommt bei den Krebsüberlebenden häufig zu kurz. Das kritisiert etwa Brustkrebsüberlebende Dr. Cindy Körner (lesen Sie dazu das Interview auf Seite 14). In der Zeit um die Diagnose und die Akuttherapie bestehe an den zertifizierten onkologischen Zentren die Möglichkeit einer hochqualifizierten psychoonkologischen Unterstützung. „Wie viele andere Angebote der Zentren endet dieses allerdings mit der Akuttherapie“, so Körner. Sie geht davon aus, dass sich aufgrund der steigenden Zahl von Langzeitüberlebenden dieser Mangel künftig eher noch verschärfen wird. Doch gerade in dieser Phase nach der Akuttherapie stehen die Überlebenden vor den Herausforderungen der Rückkehr in einen neuen Alltag. „Dabei treffen oft die Erwartungen des Umfeldes, dass alles wieder gut sei, auf die gefühlte Realität der Betroffenen, in der erstmal nichts gut ist.“

Lost in Transition

Ein weiteres Problem besteht den Betroffenen zufolge darin, Ansprechpartner für das komplexe Zusammenspiel verschiedener Langzeitfolgen zu finden. Onkologinnen und Onkologen verwiesen auf die jeweiligen Fachärztinnen und Fachärzte, die auf ihr Gebiet spezialisiert sind, aber etwa mit möglichen Wechselwirkungen zwischen Tumortherapien wenig Erfahrung haben. „Da fühlt man sich oft hilflos und verloren“, sagt Körner. Survivorship-Forscher Arndt vom DKFZ bestätigt das Problem. Die Behandler in der Akutphase verlieren dem Experten zufolge oft bereits während oder spätestens nach Abschluss der regulären Nachsorgephase den Kontakt zu den Patientinnen und Patienten. (lesen Sie hierzu das Interview auf Seite 17). „Es kann dann eine ‚Lost in Transition‘-Problematik, also Unklarheiten darüber, wer Ansprechpartner für die möglichen vielfältigen, nicht immer direkt tumorbezogenen Probleme ist, eintreten.“
Keine systematische Bedarfserfassung

Die fehlende Koordination beziehungsweise Ganzheitlichkeit zieht sich wie ein roter Faden durch das Thema Survivorship. Das zeigt sich auch an den Leitlinien der Fachgesellschaften, die zwar in zahlreichen Fällen Vorgaben zum Thema Nachsorge enthalten. Der Fokus liege aber in erster Linie auf dem Erkennen von Tumorrezidiven, nur vereinzelt würden ausgewählte Spät- und Langzeitfolgen adressiert, so Arndt. Psychosoziale Aspekte seien zwar in gesonderten Leitlinien enthalten, gingen aber im Behandlungsalltag oft unter.

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© stock.adobe.com, freshidea

Rufe nach dem „Recht auf Vergessen“ Zum Thema Survivorship gehören auch die sozialen und ökonomischen Folgen der Erkrankung – etwa die eingeschränkte berufliche Perspektive für Cancer Survivors. Besonders gravierend können sich die beruflichen Langzeitfolgen für junge Menschen, die an Krebs erkranken, darstellen. Häufig diagnostizieren Ärzte ihnen die Erkrankung mitten in der Berufsausbildung oder in einer Phase, in welcher die beruflichen Aufstiegschancen definiert werden.
Die Stiftung „Junge Erwachsene mit Krebs“ fordert unter anderem ein „Recht auf Vergessenwerden“. Obwohl die jungen Betroffenen nach wissenschaftlichen Standards längst als geheilt gelten, erfahren viele von ihnen Benachteiligungen gegenüber Gleichaltrigen. So werden jungen Betroffenen beispielsweise Versicherungsabschlüsse, Kreditaufnahmen oder Verbeamtungen verwehrt. Auch beim Thema Adoption werden ehemals erkrankte junge Menschen benachteiligt.

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Die Arbeitsgruppe LONKO vom Nationalen Krebsplan fasst die Situation wie folgt zusammen: Unter Expertinnen und Experten bestehe ein hoher Konsens darüber, „dass das deutsche Versorgungssystem für Langzeitüberlebende bislang keine adäquat strukturierten und ganzheitlichen Versorgungsangebote systematisch vorhält“. Zwar gebe es viele unterschiedliche Versorgungsangebote, aber keine ganzheitlichen Survivorship-Programme. Ein Grund dafür: Über die verschiedenen Angebote hinweg finde keine systematische Bedarfserfassung der Situation und Bedürfnisse der Langzeitüberlebenden statt. „Es fehlt dementsprechend eine Instanz, die einen systematischen Überblick über die Situation und die Bedarfe und Bedürfnisse der Langzeitüberlebenden hat und die eine bedarfsgerechte Versorgung steuern und eine gezielte Inanspruchnahme spezifischer Angebote initiieren könnte.“

Inzwischen haben einige Akteure reagiert. Das Bundesgesundheitsministerium (BMG) und die Deutsche Krebshilfe haben beispielsweise Forschungsprogramme ausgeschrieben. Das Programm der Krebshilfe umfasst ein Budget von drei Millionen Euro. Ende August 2024 veröffentlicht das Bundesministerium für Bildung und Forschung Förderrichtlinien für „Cancer Survivor-ship“-Projekte, die sich auf molekulare Ursachen und Risikofaktoren sowie molekulare Prädikations- und Präventionsmaßnahmen konzentrieren. Survivorship ist außerdem ein Schwerpunktthema in der zweiten Hälfte der Dekade gegen Krebs.

Auf der Forschungsebene tut sich somit einiges. Bleibt zu hoffen, dass die Erkenntnisse der Wissenschaftler möglichst rasch ihren Weg in die Versorgung finden, denn der Druck dürfte mit einer kontinuierlich steigenden Zahl von Krebsüberlebenden wachsen. Rasche Lösungen sind allerdings nicht zu erwarten, dazu ist die Gruppe der Betroffenen zu heterogen. Zwar eint sie alle die Erfahrung einer Krebsdiagnose, aber die krankheitsbedingten Herausforderungen und Krankheitsverläufe sind höchst unterschiedlich. Schnellschüsse nach dem Motto „One fits all“ dürften daher zum Scheitern verurteilt sein.

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© iStock.com, Smederevac

Chancen durch digitale Gesundheitsdaten DKFZ-Forscher Arndt verknüpft auch mit dem Gesundheitsdatennutzungs-
gesetz Hoffnungen. Die Deutschen Krebsregister haben dem BMG im Verbund ein Konzept zur Integration detaillierter Daten zu den Langzeit- und Spätfolgen vorgeschlagen. Hintergrund ist das „Gesetz zur Zusammenführung von Krebsregisterdaten“ vom August 2021, welches die systematische Erfassung von Langzeit- und Spätfolgen von Krebserkrankungen anstrebt. Damit soll der Rückstand bei den empirischen Daten im Vergleich zu etwa den skandinavischen Ländern geschlossen werden.
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