„Es fehlt an strukturierter Langzeitnachsorge“

Prof. Volker Arndt zu Defiziten in der Betreuung von Krebsüberlebenden

Heidelberg (pag) – Bei der Betreuung von Langzeitüberlebenden fehlt es trotz vieler Angebote an ganzheitlichen Programmen, sagt Krebsforscher Prof. Volker Arndt. Im Interview spricht er über den Stand der Survivorship-Forschung, die deutsche Versorgungslandschaft und die „Lost in Transition“-Problematik.

In den letzten Jahrzehnten gab es enorme Fortschritte in der Krebsbehandlung. Was bedeutet diese medizinische Entwicklung?

Arndt: Langfristiges Überleben ist für viele Krebspatientinnen und Krebspatienten zu einer realistischen Perspektive geworden. Es gibt mittlerweile eine Reihe von Tumorerkrankungen, bei denen mehr als die Hälfte der Betroffenen 20 Jahre und länger überlebt. Allerdings gilt das nicht für alle Tumorarten.

Prof. Arndt: „Nach Abschluss der regulären Tumornachsorge, die meist nach fünf Jahren endet, (…) beginnt die Phase des ,dauerhaften Überlebens‘.“ © stock.adobe.com, Svitlana

Was folgt aus diesem Fortschritt?

Arndt: Es gibt in Deutschland derzeit etwa fünf Millionen Menschen mit akuter oder überstandener Krebserkrankung. Über 60 Prozent davon – drei Millionen – sind sogenannte Langzeitüberlebende: Personen, bei denen die Diagnose fünf und mehr Jahre zurückliegt. Für viele ist Krebs dabei eine chronische Erkrankung, die auch Jahre nach der Diagnose Auswirkungen auf Gesundheit und Lebensqualität hat.

Wie kann man dieses große Feld fassen?

Arndt: Wir unterscheiden verschiedene Phasen beim Leben mit beziehungsweise nach einer Krebserkrankung. Das erste Jahr nach der Diagnose wird von den diagnostischen und therapeutischen Bemühungen dominiert. Nach Abschluss der primären Therapie schließt sich – wenn eine Heilung oder zumindest eine Remission eingetreten ist – eine Phase des beobachtenden Abwartens mit regelmäßigen Nachuntersuchungen an. Psychologisch gesehen ist diese Zeit von der Angst vor einem Wiederauftreten der Krankheit geprägt.

Wie geht es dann weiter?

Arndt: Nach Abschluss der regulären Tumornachsorge, die meist nach fünf Jahren endet, sofern dann kein aktives Tumorgeschehen mehr nachweisbar ist, beginnt die Phase des „dauerhaften Überlebens“. Sie wird häufig mit „Heilung“ gleichgesetzt. Unsere Untersuchungen zeigen einerseits, dass sich gut zwei Drittel aller Langzeitüberlebenden nach Ende der regulären Tumornachsorge nicht mehr als „Krebspatientin“ oder „Krebspatient“ sehen. Dies gilt insbesondere, solange kein Rezidiv aufgetreten ist. Andererseits gibt ein Drittel der Langzeitüberlebenden an, dass sie die Krebserkrankung noch belastet.

Hier kommt das Konzept Survivorship ins Spiel?

Arndt: Ja, das Forschungsgebiet „Cancer Survivorship“ hat die Gesundheit und Lebenssituation über die akute Diagnose- und Behandlungsphase hinaus im Blick. Wir verfolgen das Ziel, Langzeit- und Spätfolgen besser zu behandeln und Negatives im Idealfall zu verhindern. Neben den physischen, psychosozialen und wirtschaftlichen Aspekten umfasst das auch solche der Nachsorge und Tertiärprävention. Das Konzept betrachtet die Betreuung von Langzeit-Krebsbetroffenen als integralen Bestandteil des Behandlungskontinuums. Deren Bedürfnisse werden hierzulande noch nicht ausreichend wahrgenommen. Ein „Cancer-Survivorship-Nachsorgeprogramm“ ist bislang nicht etabliert.

Was für Probleme gibt es dabei?

Nach Abschluss der regulären Nachsorgephase kann eine „Lost in Transition“-Problematik eintreten, also Unklarheiten darüber, wer Ansprechpartner für die möglichen vielfältigen, nicht immer direkt tumorbezogenen Probleme ist. © iStock.com, mathisworks

Arndt: Die Behandler in der Akutphase verlieren oft bereits während oder spätestens nach Abschluss der regulären Nachsorgephase den Kontakt zu den Patientinnen und Patienten. Es kann dann eine „Lost in Transition“-Problematik, also Unklarheiten darüber, wer Ansprechpartner für die möglichen vielfältigen, nicht immer direkt tumorbezogenen Probleme ist, eintreten. Es fehlt immer noch eine strukturierte Langzeitnachsorge, die alle physischen, psychoonkologischen und sozialen Aspekte gleichermaßen berücksichtigt. Außerdem sind die Betroffenen und behandelnde Ärzte oft unzureichend informiert.

Wie ist die Nachsorge in Deutschland geregelt?

Arndt: Bisher gibt es dazu in zahlreichen klinischen Leitlinien der Fachgesellschaften Vorgaben. Diese fokussieren aber in erster Linie das Erkennen von Tumorrezidiven und adressieren nur einzelne ausgewählte Spät- und Langzeitfolgen. Psychosoziale Aspekte sind zwar in gesonderten Leitlinien enthalten, werden aber im Behandlungsalltag oftmals nicht angesprochen oder nicht erkannt. Kolleginnen und Kollegen der Universität Duisburg-Essen erstellen gerade im Rahmen der vom Bundesgesundheitsministerium geförderten Optilater-Studie eine umfassende Ist-Soll-Analyse zur Langzeitbetreuung von Krebs-Betroffenen.

Seit 2016 leiten Sie die Arbeitsgruppe Cancer Survivorship beim Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ). Wie sieht Ihre Arbeit aus?

Arndt: Neben den physischen, psychosozialen und wirtschaftlichen Folgen interessieren uns Fragen im Zusammenhang mit der Gesundheitsversorgung, dem Zugang zu Unterstützungsmöglichkeiten und der Nachsorge. Wir arbeiten dabei primär „epidemiologisch“ im Rahmen von groß angelegten, meist bevölkerungsbezogenen Befragungsstudien und versuchen, uns ein Bild über die gesundheitliche Situation der Betroffenen zu machen. Wir versuchen, Bedarfe und damit Ansatzpunkte für eine verbesserte Betreuung in der Nachsorge zu identifizieren. Hier sind wir auch im Rahmen nationaler und internationaler Projekte bei der Instrumentenentwicklung zur Erfassung der gesundheitlichen Situation nach einer Krebsdiagnose aktiv beteiligt. Das Thema „Survivorship“ ist aber durch seine Multidisziplinarität noch bei weiteren Gruppen, etwa bei der Abteilung „Gesundheitsökonomie“ oder der Abteilung „Bewegung, Präventionsforschung und Krebs“ am DKFZ, verankert. Durch die Einrichtung zweier weiterer Abteilungen mit dem Fokus auf psychologische Resilienz sowie junge Personen mit Krebs wird die Expertise am DKFZ noch weiter ausgebaut. Hierfür sind wir der Dietmar-Hopp- und der Hector-Stiftung sehr dankbar.

Wie sieht die generelle Entwicklung in Deutschland aus?

Arndt: „Survivorship“ hat in den letzten Jahren zunehmend Niederschlag in der deutschen Forschungslandschaft gefunden. Es sind aber meist isolierte Aspekte oder Entitäten, die von den einzelnen Forschungsgruppen untersucht werden. Diese Gruppen sind zudem meist an deren größeren Abteilungen angegliedert. Eigenständige „Survivorship“-Abteilungen gibt es meines Wissens in Deutschland noch nicht. Allerdings gibt es zunehmend Aktivitäten. Ein wichtiger Impuls resultierte aus dem Nationalen Krebsplan, in dem 2018 eine Experten-Arbeitsgruppe „Langzeitüberleben nach Krebs“ eingerichtet wurde.

Wie steht Deutschland im internationalen Vergleich da?

Arndt: Bei der empirischen Datenlage sind die meisten Länder abgesehen von den skandinavischen auch nicht viel weiter. Um die Lücke zu schließen, haben wir gerade im Verbund der Deutschen Krebsregister dem Bundesgesundheitsministerium ein Konzept zur Integration detaillierter Daten auf Basis des kürzlich in Kraft getretenen Gesundheitsdatennutzungsgesetzes vorgeschlagen. Bei den umfassenden „ganzheitlich orientierten“ Nachsorgeprogrammen haben wir auch Aufholbedarf. Wir sind gerade im Rahmen eines europäischen Konsortiums dabei, uns einen Überblick über die „Survivorship“-Programme in allen europäischen Ländern zu verschaffen. Für Deutschland gibt es bisher nur eine Handvoll Modellprojekte.

Wie sieht die Versorgungslandschaft aus?

Arndt: Es gibt zahlreiche Versorgungsangebote für Langzeitüberlebende, die jeweils separate Themen adressieren aber nicht vernetzt sind. Neben der medi-zinischen Routine-Nachsorge gibt es Angebote wie psychosoziale Krebsberatungsstellen, Rehabilitationsmaßnahmen oder Physio- und Ergotherapie. Auch die Krebs-Selbsthilfe und Patientenverbände spielen eine wichtige Rolle. Die Selbsthilfe ist für viele Langzeitüberlebende schon lange eine bewährte Instanz zur Begleitung und Beratung von Betroffenen durch Betroffene. Trotzdem ist die Entwicklung von spezifischen und zugleich ganzheitlich ausgerichteten Survivorship-Angeboten notwendig. Um das zu erreichen, braucht es mehr Koordinierung.

Wie kann das gelingen?

Arndt: Es sind verschiedene Modelle denkbar und in anderen Ländern auch bereits im Einsatz. Die Spannbreite erstreckt sich von „nicht-ärztlichen“ Lotsen über ein allgemeinmedizinisches Gemeinschaftsmodell unter Einbeziehung spezifischer Konsiliardienste bis hin zur multidisziplinären Survivorship-Klinik. Bei allen Ansätzen ist aber zu bedenken: Die Gruppe der von Krebsbetroffenen ist nicht homogen. Zwar eint alle die Erfahrung, mit einer Krebsdiagnose konfrontiert gewesen zu sein – aber die krankheitsbedingten Herausforderungen und Krankheitsverläufe sind unterschiedlich. Deswegen braucht es eine differenzierte Betrachtung und zielgruppenspezifische Betreuungskonzepte.

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privat

Zur Person Der Wissenschaftler Prof. Volker Arndt ist seit 2016 Leiter der Arbeitsgruppe „Cancer Survivorship“ am Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) in Heidelberg. Beim DKFZ ist er aber schon seit über 19 Jahren in der Krebsforschung aktiv. Außerdem ist er Leiter des Epidemiologischem Krebsregisters Baden-Württemberg.
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„Wenn ich dann noch da bin…“

Dr. Cindy Körner über ihr Leben nach der Krebsdiagnose

Berlin (pag) – Krebsforscherin Dr. Cindy Körner wechselt nach einer Brustkrebsdiagnose die Seite und spricht im Interview über Herausforderungen als Krebsüberlebende, Lücken in der Nachsorge und der Angst vor einem Rückfall. „Die größte Veränderung ist wohl der Verlust der gesundheitlichen Unbeschwertheit“, konstatiert Körner.

© Marius Stark, NCT Heidelberg

Zur Person Dr. Cindy Körner ist promovierte Molekularbiologin in der Krebsforschung. Nach ihrer eigenen Brustkrebsdiagnose steht sie plötzlich „auf der anderen Seite“. Als Sprecherin des Patientenforschungsrats Nationales Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) Heidelberg bringt sie Wissenschaft und das Patientensein in Einklang. Zudem beteiligt sich Körner an der im Rahmen der Nationalen Dekade gegen Krebs geförderten Studie SURVIVE zur Brustkrebsnachsorge.
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Wie hat sich Ihr Leben durch die Brustkrebsdiagnose und -therapie verändert?

Körner: Die größte Veränderung ist wohl der Verlust der gesundheitlichen Unbeschwertheit. Es schwingt seit der Diagnose in allen langfristigen Plänen der Gedanke mit: „Wenn ich dann noch da bin…“. Meine größte Herausforderung ist nach wie vor, das Vertrauen in meinen Körper und mein Körpergefühl wieder zurückzufinden. Abgesehen von den psychischen Themen habe ich insbesondere während der Akuttherapie auch körperliche Beeinträchtigungen erlebt – beispielsweise akute Entzündungen mit hohem Fieber, Bewegungseinschränkungen durch die OPs oder eine temporär gefährliche Schwächung des Immunsystems. Das alles hat meinen Körper ganz schön mitgenommen und macht mir nach wie vor zu schaffen.

Wie geht es Ihnen jetzt?

Körner: Ich bin trotz einer gesünderen Lebensweise mit mehr Sport und einem gesünderen Gewicht als vor der Diagnose lange nicht so belastbar wie zuvor. Die Erschöpfung, auch Fatigue genannt, ist unter Langzeitüberlebenden weit verbreitet und beeinträchtigt den Weg zurück in ein normales Leben immens. Gleichzeitig hat meine Erkrankung mir neue Perspektiven eröffnet. Ich habe mich dazu entschieden, diese Perspektiven positiv zu nutzen und mich als Patientenvertreterin zu engagieren, um die künftige Versorgung von Patienten und Patientinnen zu verbessern. Dazu gehört auch, dass ich gemeinsam mit anderen Patientenforschungsräten am Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) dazu beitrage, dass klinische Studien patientenzentrierter werden.

Wie gestaltet sich die medizinische Nachsorge? Werden alle wichtigen Aspekte Ihrer Gesundheit ausreichend überwacht?

Körner: Die medizinische Nachsorge bei Brustkrebs ist klassisch sehr stark auf ein mögliches Wiederauftreten des Tumors in der Brust oder der Achselhöhle ausgerichtet. Das wird engmaschig mit verschiedenen Bildgebungsmethoden überwacht – obwohl das nicht das ist, wovor ich persönlich am meisten Angst hätte.

Sondern?

Körner: Schlimmer wäre das Auftreten von Fernmetastasen in anderen Organen, wie den Knochen, dem Gehirn, der Lunge oder der Leber. Nach aktuellem Stand der Nachsorge werden diese häufig erst erkannt, wenn sie so groß sind, dass sie Symptome verursachen. Das verunsichert uns Patientinnen natürlich.

Wie äußert sich das?

Körner: Viele von uns hören deswegen sehr genau in uns hinein, um Symptome frühzeitig wahrzunehmen. Und wenn wir etwas wahrnehmen, sind das natürlich meistens keine Symptome, die durch Metastasen verursacht werden – Kurzatmigkeit ist beispielsweise meist Folge einer Erkältung. Diese ständige Alarmbereitschaft belastet psychisch immens. Das ist für Außenstehende manchmal schwer nachvollziehbar und wird in der Nachsorge in meinen Augen unzureichend berücksichtigt. Zudem haben Langzeitüberlebende oft Schwierigkeiten, Ansprechpartner für das komplexe Zusammenspiel verschiedener Langzeitfolgen zu finden. Onkologen und Onkologinnen verweisen auf die jeweiligen Fachärzte und Fachärztinnen, die auf ihr Fachgebiet spezialisiert sind, aber etwa mit möglichen Wechselwirkungen zwischen Tumortherapien wenig Erfahrung haben. Da fühlt man sich oft hilflos und verloren.

Viele Betroffene berichten noch Jahre nach der Diagnose von Diskriminierungserfahrungen. Welchen Ungleichbehandlungen sind Patienten ausgesetzt?

© stock.adobe.com, InsideCreativeHouse

Körner: Persönlich habe ich keine sozialen und ökonomischen Ungleichbehandlungen erlebt. Glücklicherweise war mein Arbeitsvertrag als Wissenschaftlerin kurz vor der Diagnose entfristet worden. Dank einer Berufsunfähigkeitsversicherung war ich über die Dauer der Akut-therapie, welche mehr als ein Jahr dauerte, finanziell gut abgesichert. Außerdem habe ich in meinem sozialen und beruflichen Umfeld viel Unterstützung erfahren und die Erkrankung nie als Stigma empfunden. Möglicherweise lag das auch an meinem offenen Umgang mit der Diagnose, der Behandlung und den damit verbundenen Einschränkungen. Offene Kommunikation beugt unter den passenden Umständen vielen Missverständnissen und Spekulationen vor. Ich kenne allerdings auch andere Fälle.

Zum Beispiel?

Körner: Menschen mit einer Schwerbehinderung haben ein Anrecht auf zusätzliche Urlaubstage. Ich kenne Fälle, wo ihnen in der Folge vom Arbeitgeber der vertragliche Urlaub gekürzt wurde, damit sie keinen „Vorteil“ gegenüber den Kollegen und Kolleginnen haben. Manche Arbeitgeber verwehren ihnen, eine für ihre Situation angebrachte Tätigkeit zu übergeben – ohne Rücksicht auf die Auswirkungen zu nehmen, etwa die eingeschränkte Leistungsfähigkeit in bestimmten Bereichen. Ich kenne auch Menschen, denen aus diesen Gründen nahegelegt wurde, den Arbeitgeber zu verlassen. Zusätzlich haben gerade junge Langzeitüberlebende das Problem des Nicht-Vergessens. Ihre frühere Diagnose kann zu teils massiven Nachteilen führen, beispielsweise bei Versicherungen, Krediten, Berufswahl oder auch Adoptionswunsch.

An welchen gesetzlichen Stellschrauben sollte gedreht werden?

Körner: Gerade in Bezug auf die angesprochenen Schwierigkeiten von jungen Langzeitüberlebenden gibt es seit einiger Zeit Bestrebungen nach einem „Recht auf Vergessenwerden“, wie es in anderen europäischen Ländern schon besteht. Vorangetrieben werden diese Initiativen von Patientenorganisationen, darunter die Stiftung „Junge Erwachsene mit Krebs“, und von onkologischen Fachverbänden wie der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie. Dieses Recht würde beinhalten, dass es bei Langzeitüberlebenden nach einer Heilungsbewährung von beispielsweise zehn Jahren keine Benachteiligung mehr gegenüber Nicht-Erkrankten geben darf. Laut EU-Vorgabe muss auch hierzulande bis Ende 2025 eine entsprechende Regelung umgesetzt werden. Auch eine bessere finanzielle Absicherung wäre wünschenswert, wenn Menschen aufgrund einer Krebserkrankung langfristig nicht arbeiten können. Mit dem Verlust des Krankengeldes nach 78 Wochen fallen sie aktuell in die Arbeitslosigkeit oder in die Erwerbsminderungsrente. Beides führt zu finanziellen Einbußen und erschwert die Rückkehr in den Arbeitsmarkt. Außerdem wünsche ich mir eine konsequentere Umsetzung der Nachteilsausgleiche im Zusammenhang mit der Schwerbehinderung. Was nützt ein Kündigungsschutz, wenn es für Arbeitgeber Schlupflöcher gibt oder sie konsequenzlos schwerbehinderte Mitarbeitende aus ihren Beschäftigungsverhältnissen drängen können?

Stichwort psychische Unterstützung bei Langzeitüberlebenden: Welche Angebote gibt es? Sind sie ausreichend?

Körner: Die psychische Unterstützung kommt leider deutlich zu kurz. Aufgrund der steigenden Zahl von Langzeitüberlebenden ist davon auszugehen, dass sich der Mangel künftig eher verschärfen wird. In der Zeit um die Diagnose und die Akuttherapie besteht an den zertifizierten onkologischen Zentren die Möglichkeit einer hochqualifizierten psychoonkologischen Unterstützung. Wie viele andere Angebote der Zentren endet dieses allerdings mit der Akuttherapie. Doch gerade in dieser Phase stehen die Überlebenden vor den Herausforderungen der Rückkehr in einen neuen Alltag. Dabei treffen oft die Erwartungen des Umfeldes, dass alles wieder gut sei, auf die gefühlte Realität der Betroffenen, in der erstmal nichts gut ist.

Was kann helfen?

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Körner: In dieser Phase können Anschlussheilbehandlungen oder Rehabilitationsmaßnahmen hilfreich sein. In den Reha-Kliniken wird auch viel Aufmerksamkeit auf die psychische Rehabilitation gelegt. Eine weitere Option stellen Krebsberatungsstellen dar, in denen Betroffene und deren Angehörige auch zu späteren Zeitpunkten kostenfrei und unkompliziert psychoonkologische Beratung bekommen können. Diese kann sowohl in akuten Krisen als auch in der Wartezeit auf einen Psychotherapieplatz sehr wertvoll sein. Neuere Ansätze nutzen zudem wissenschaftlich validierte Smartphone-Apps, sogenannte Digitale Gesundheitsanwendungen, um – vereinfacht ausgedrückt – die Langzeitüberlebenden dazu zu befähigen, sich selbst zu helfen und so selbstwirksam ihre Belastung zu reduzieren.

Für viele Langzeitüberlebende ist die Angst vor einem Rückfall ein ständiger Begleiter. Wie gehen Sie damit um? Haben Sie Tipps für andere Betroffene?

Körner: Diese Gedanken kann ich gut nachvollziehen. Das Bewusstsein, dass es nach wie vor zu einem Rückfall kommen kann, schwingt auch bei mir immer mit. Wobei ich es nicht mehr als Angst bezeichnen würde. Es lähmt mich nicht mehr und ich hatte schon lange keine irrationale Paranoia als Reaktion auf unspezifische Symptome mehr. Das ist eine deutliche Verbesserung gegenüber der Situation vor ein oder zwei Jahren. Ähnliches höre ich von anderen Betroffenen, deren Diagnose weiter zurückliegt. Es gibt also Hoffnung für alle, die sich momentan noch durch die Angst vor einem Rückfall gelähmt fühlen. Wie sich die Angst überwinden lässt, ist sicherlich sehr individuell. Mein erster Impuls war, sie beiseitezuschieben – zu vermeiden, darüber nachzudenken. Dieser Weg hat für mich überhaupt nicht funktioniert. Die Angst hat mich in unerwarteten Momenten plötzlich überrollt, bis hin zu Panikattacken. In sehr intensiven und schwierigen Gesprächen in der Krebsberatungsstelle habe ich meine Gefühle mit der Beraterin thematisiert und aufgearbeitet. Mir hilft der Gedanke, alles in meiner Macht Stehende zu tun, um den Rückfall zu verhindern: Ich halte mich zuverlässig an meinen Medikations- und Nachsorgeplan und bemühe mich bewusst um eine gesunde Lebensweise. Zumindest im Rahmen dessen, was in meinen Alltag passt. Jede und jeder Betroffene muss den individuell passenden Weg für den Umgang finden. Ich kenne Menschen, für die der richtige Weg darin liegt, nicht über die Angst nachzudenken und sich auf das Positive und die Gegenwart zu fokussieren.

Sie nehmen an der klinischen Studie „SURVIVE“ teil. Worum geht es dabei?

Körner: SURVIVE hat das Ziel, die bereits angesprochene unzureichende Nachsorge in Bezug auf Fernmetastasen bei Brustkrebs zu verbessern. Im Rahmen der Studie soll der Nutzen von Liquid Biopsies, also der Untersuchung von Blutproben, geprüft werden.

Wie genau?

Körner: In den Blutproben von Patientinnen mit einem erhöhten Rückfallrisiko wird nach sehr spezifischen Markern für Tumorzellen, der sogenannten zirkulierenden Tumor-DNA, gesucht. Wenn diese im Blut einer Patientin entdeckt wird, ist es nahezu sicher, dass in der Folge Metastasen entstehen. Die Studie stellt die Frage, ob das frühzeitige Entdecken von Metastasen und die damit verbundene frühere Behandlung die Prognosen der Patientinnen weiter verbessern können. Dafür werden Blutproben von mehr als 3.000 Patientinnen gesammelt. Die Hälfte davon wurde zufällig dem Kontrollarm der Studie zugeteilt und die Proben werden nur gelagert. Die Proben der anderen Hälfte werden untersucht. Falls Tumormarker entdeckt werden, wird eine gezielte Suche nach den möglichen Metastasen ausgelöst. Als Studienteilnehmerin weiß ich nicht, welcher Gruppe ich angehöre. Ich weiß also nicht, ob ich selbst überhaupt von der Teilnahme profitieren könnte, falls ich einen Rückfall bekomme. Trotzdem war mir sofort klar, dass ich teilnehmen möchte – um einen winzigen Teil beizutragen, dass die Nachsorge für Patientinnen mit hohem Rückfallrisiko treffsicherer gestaltet werden kann, um ihnen die Angst vor großen, schwer behandelbaren Metastasen zu nehmen und die Prognose weiter zu verbessern.

Ignorierte Bedürfnisse

Wie Krebsüberlebende nach der Akuttherapie durchs Raster fallen

Berlin (pag) – Viele Krebsbetroffene kämpfen auch Jahre nach der ersten Diagnose mit Spät- und Langzeitfolgen. Neben körperlichen und psychischen Einschränkungen berichten Betroffene zudem von wirtschaftlicher und sozialer Diskriminierung. Ganzheitliche und strukturierte Versorgungsangebote sind noch rar. Allmählich kommt aber Bewegung in das Thema Survivorship.

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Die Situation für Menschen mit einer Krebserkrankung hat sich in den letzten Jahrzehnten enorm verbessert. Neue Therapien, Frühuntersuchungsprogramme und Fortschritte bei der Diagnostik sorgen dafür, dass die Krankheit heutzutage nicht mehr automatisch ein Todesurteil ist. Bei einer Reihe von Tumorerkrankungen in Deutschland überlebt mittlerweile mehr als die Hälfte der Betroffenen 20 Jahre oder länger. Durch den medi-zinischen Fortschritt ergeben sich damit völlig neue Herausforderungen, auf die das Versorgungssystem allenfalls punktuell vorbereitet ist. Eine Gesamtstrategie fehlt. Die Bedürfnisse von Krebsüberlebenden werden hierzulande noch nicht ausreichend wahrgenommen, kritisiert etwa Prof. Volker Arndt, der die Arbeitsgruppe „Cancer Survivorship“ am Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) leitet.

Andauernde Angst vor dem Rückfall

Zur Einordnung: Etwa 4,5 bis fünf Millionen Menschen mit aktiver oder überstandener Krebserkrankung sind in Deutschland mit vielzähligen Langzeit- und Spätfolgen konfrontiert, welche teilweise erst Jahre nach der Krebstherapie auftauchen können, so die 2018 eingerichtete Expertengruppe „Langzeitüberleben nach Krebs (AG LONKO)“ des Nationalen Krebsplans. Für drei Millionen von ihnen liegt die Krebserkrankung mindestens fünf Jahre zurück – damit fallen sie unter die Kategorie Langzeitüberlebende, häufig gelten sie als „geheilt“. Und dennoch: Der Krebs überschattet für viele von ihnen auch ein halbes Jahrzehnt später noch das alltägliche Leben. In Form chronischer Schmerzen und ‚Fatigue‘ zum Beispiel, in Gestalt von Herzerkrankungen, Lymphödemen oder als Blasen- und Darmfunktionsstörungen. Psychisch steht für viele Langzeitüberlebende eine andauernde Angst vor einem Rezi-div auf der Tagesordnung. Zu den häufigen Langzeit- und Spätfolgen gehören daher Depressionen und posttraumatische Belastungsstörungen.

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Angebot endet mit Akutphase

Gerade die psychische Unterstützung kommt bei den Krebsüberlebenden häufig zu kurz. Das kritisiert etwa Brustkrebsüberlebende Dr. Cindy Körner (lesen Sie dazu das Interview auf Seite 14). In der Zeit um die Diagnose und die Akuttherapie bestehe an den zertifizierten onkologischen Zentren die Möglichkeit einer hochqualifizierten psychoonkologischen Unterstützung. „Wie viele andere Angebote der Zentren endet dieses allerdings mit der Akuttherapie“, so Körner. Sie geht davon aus, dass sich aufgrund der steigenden Zahl von Langzeitüberlebenden dieser Mangel künftig eher noch verschärfen wird. Doch gerade in dieser Phase nach der Akuttherapie stehen die Überlebenden vor den Herausforderungen der Rückkehr in einen neuen Alltag. „Dabei treffen oft die Erwartungen des Umfeldes, dass alles wieder gut sei, auf die gefühlte Realität der Betroffenen, in der erstmal nichts gut ist.“

Lost in Transition

Ein weiteres Problem besteht den Betroffenen zufolge darin, Ansprechpartner für das komplexe Zusammenspiel verschiedener Langzeitfolgen zu finden. Onkologinnen und Onkologen verwiesen auf die jeweiligen Fachärztinnen und Fachärzte, die auf ihr Gebiet spezialisiert sind, aber etwa mit möglichen Wechselwirkungen zwischen Tumortherapien wenig Erfahrung haben. „Da fühlt man sich oft hilflos und verloren“, sagt Körner. Survivorship-Forscher Arndt vom DKFZ bestätigt das Problem. Die Behandler in der Akutphase verlieren dem Experten zufolge oft bereits während oder spätestens nach Abschluss der regulären Nachsorgephase den Kontakt zu den Patientinnen und Patienten. (lesen Sie hierzu das Interview auf Seite 17). „Es kann dann eine ‚Lost in Transition‘-Problematik, also Unklarheiten darüber, wer Ansprechpartner für die möglichen vielfältigen, nicht immer direkt tumorbezogenen Probleme ist, eintreten.“
Keine systematische Bedarfserfassung

Die fehlende Koordination beziehungsweise Ganzheitlichkeit zieht sich wie ein roter Faden durch das Thema Survivorship. Das zeigt sich auch an den Leitlinien der Fachgesellschaften, die zwar in zahlreichen Fällen Vorgaben zum Thema Nachsorge enthalten. Der Fokus liege aber in erster Linie auf dem Erkennen von Tumorrezidiven, nur vereinzelt würden ausgewählte Spät- und Langzeitfolgen adressiert, so Arndt. Psychosoziale Aspekte seien zwar in gesonderten Leitlinien enthalten, gingen aber im Behandlungsalltag oft unter.

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Rufe nach dem „Recht auf Vergessen“ Zum Thema Survivorship gehören auch die sozialen und ökonomischen Folgen der Erkrankung – etwa die eingeschränkte berufliche Perspektive für Cancer Survivors. Besonders gravierend können sich die beruflichen Langzeitfolgen für junge Menschen, die an Krebs erkranken, darstellen. Häufig diagnostizieren Ärzte ihnen die Erkrankung mitten in der Berufsausbildung oder in einer Phase, in welcher die beruflichen Aufstiegschancen definiert werden.
Die Stiftung „Junge Erwachsene mit Krebs“ fordert unter anderem ein „Recht auf Vergessenwerden“. Obwohl die jungen Betroffenen nach wissenschaftlichen Standards längst als geheilt gelten, erfahren viele von ihnen Benachteiligungen gegenüber Gleichaltrigen. So werden jungen Betroffenen beispielsweise Versicherungsabschlüsse, Kreditaufnahmen oder Verbeamtungen verwehrt. Auch beim Thema Adoption werden ehemals erkrankte junge Menschen benachteiligt.

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Die Arbeitsgruppe LONKO vom Nationalen Krebsplan fasst die Situation wie folgt zusammen: Unter Expertinnen und Experten bestehe ein hoher Konsens darüber, „dass das deutsche Versorgungssystem für Langzeitüberlebende bislang keine adäquat strukturierten und ganzheitlichen Versorgungsangebote systematisch vorhält“. Zwar gebe es viele unterschiedliche Versorgungsangebote, aber keine ganzheitlichen Survivorship-Programme. Ein Grund dafür: Über die verschiedenen Angebote hinweg finde keine systematische Bedarfserfassung der Situation und Bedürfnisse der Langzeitüberlebenden statt. „Es fehlt dementsprechend eine Instanz, die einen systematischen Überblick über die Situation und die Bedarfe und Bedürfnisse der Langzeitüberlebenden hat und die eine bedarfsgerechte Versorgung steuern und eine gezielte Inanspruchnahme spezifischer Angebote initiieren könnte.“

Inzwischen haben einige Akteure reagiert. Das Bundesgesundheitsministerium (BMG) und die Deutsche Krebshilfe haben beispielsweise Forschungsprogramme ausgeschrieben. Das Programm der Krebshilfe umfasst ein Budget von drei Millionen Euro. Ende August 2024 veröffentlicht das Bundesministerium für Bildung und Forschung Förderrichtlinien für „Cancer Survivor-ship“-Projekte, die sich auf molekulare Ursachen und Risikofaktoren sowie molekulare Prädikations- und Präventionsmaßnahmen konzentrieren. Survivorship ist außerdem ein Schwerpunktthema in der zweiten Hälfte der Dekade gegen Krebs.

Auf der Forschungsebene tut sich somit einiges. Bleibt zu hoffen, dass die Erkenntnisse der Wissenschaftler möglichst rasch ihren Weg in die Versorgung finden, denn der Druck dürfte mit einer kontinuierlich steigenden Zahl von Krebsüberlebenden wachsen. Rasche Lösungen sind allerdings nicht zu erwarten, dazu ist die Gruppe der Betroffenen zu heterogen. Zwar eint sie alle die Erfahrung einer Krebsdiagnose, aber die krankheitsbedingten Herausforderungen und Krankheitsverläufe sind höchst unterschiedlich. Schnellschüsse nach dem Motto „One fits all“ dürften daher zum Scheitern verurteilt sein.

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Chancen durch digitale Gesundheitsdaten DKFZ-Forscher Arndt verknüpft auch mit dem Gesundheitsdatennutzungs-
gesetz Hoffnungen. Die Deutschen Krebsregister haben dem BMG im Verbund ein Konzept zur Integration detaillierter Daten zu den Langzeit- und Spätfolgen vorgeschlagen. Hintergrund ist das „Gesetz zur Zusammenführung von Krebsregisterdaten“ vom August 2021, welches die systematische Erfassung von Langzeit- und Spätfolgen von Krebserkrankungen anstrebt. Damit soll der Rückstand bei den empirischen Daten im Vergleich zu etwa den skandinavischen Ländern geschlossen werden.
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Wider die Scheinpartizipation

Digitale Gesundheitsforschung mit Patienten gestalten

Berlin/Hamburg (pag) – Ist in einer Legislatur, in welcher der Bundestag ein Digital-Gesetz, ein Gesundheitsdatennutzungsgesetz und ein Medizinforschungsgesetz verabschiedet hat, die Patientenbeteiligung in der digitalen Gesundheitsforschung ein blinder Fleck geblieben? Ein kürzlich vorgestelltes Positionspapier rückt dieses vernachlässigte Thema in den Mittelpunkt.

© PT DLR/BMBF, Manfred Wigger

Im Positionspapier „Einbeziehung von Patientenorganisationen in die digitale Gesundheitsforschung“ sind auf 19 Seiten Empfehlungen und Lösungsansätze formuliert, um die Beteiligung von Patientinnen und Patienten zu unterstützen. Deren Forderungen lauten unter anderem:

  • Um Erfolg zu gewähren und ein Mindestmaß an Kooperation zwischen Patienten und Forschenden herbeizuführen, müssen Patienten und ihre Vertretungen aktiv in digitale Transformationsprozesse von Anfang an eingebunden werden.
  • Die Partizipation von Patientenorganisationen, Betroffenen und Angehörigen bei der Anwendung von digitalen Forschungsprozessen muss von allen Beteiligten realistisch gestaltet werden.
  • Eine fachliche, monetäre, personelle, strukturelle und technische Ausstattung ist die Grundbedingung für die Einbindung von Patientenorganisationen.
  • Es bedarf einer erhöhten Aufmerksamkeit für vulnerable Gruppen. Stigmatisierung und Diskriminierung müssen verhindert werden.

Erarbeitet haben die Betroffenen das Papier in einem konsensorientierten Prozess, der im Rahmen des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Forschungsverbundes PANDORA begleitet wurde.

Startpunkt war eine Stakeholder-Konferenz, die im Juni 2024 in Hamburg stattgefunden hat und an der über 30 Vertreter von Patienten- und Selbsthilfeorganisationen aus ganz Deutschland – sowohl vor Ort als auch digital – teilgenommen haben. Zwei Tage diskutierten sie über Aufklärungs- und Einwilligungsprozesse, Forschungsdatenmanagement, Partizipation an Forschung, digitale Teilhabe und relevante ethische Werte für eine Forschungsbeteiligung. Das Ziel: einen Konsens für das Positionspapier zu erarbeiten. Am Ende des zweiten Tages steht der erste vorläufige Entwurf des Positionspapiers. Fertiggestellt wird dieser von einem Redaktionsteam, das aus vier Vertreterinnen und Vertreter von Patienten- und Selbsthilfeorganisationen besteht. Einer von ihnen ist Thomas Duda von der Pro Retina Stiftung Deutschland. Bei der Vorstellung des Positionspapiers auf einer Pressekonferenz im Rahmen der PANDORA-Abschlusskonferenz sitzt er mit auf dem Podium. Er betont dort: „Es gibt ein hohes Potenzial durch Patientenbeteiligung, was leider nicht erkannt wird.“ Ihm ist es wichtig, dass das Positionspapier die momentanen Zustände nicht nur kritisch beschreibt, sondern auch konkrete Verbesserungsvorschläge formuliert. Durch informierte Patienten wie auch durch den Input aus ihrem Erfahrungsschatz werden Daten- und Forschungsergebnisse bedarfsorientierter ver- beziehungsweise angewendet, ist Duda überzeugt.

Scheinpartizipation entgegenwirken

© PT DLR/BMBF

Für Prof. Silke Schicktanz, Universitätsmedizin Göttingen, ist das Positionspapier ein wichtiges Instrument, um „reflektierte und selbstbestimmte Position einer Vielzahl von Patientenverbänden in die deutsche Debatte einzubringen“, sagt sie bei der Pressekonferenz. Ihre Forschungskollegin und PANDORA-Leiterin Prof. Sabine Wöhlke von der HAW Hamburg adressiert in ihrem Statement die Wissenschaftscommunity. Die Forschenden sollten reflektieren, wie eine langfristige, vertrauensvolle Zusammenarbeit mit Patientenvertretenden aussehen könne. Für diese Organisation seien Reflexion der eigenen Erwartungen und Ziele, Umgang mit Macht, Transparenz in der Kommunikation aber auch Anerkennung von Erfahrungsexpertise wichtig. Wöhlke appelliert: „Eine intensivere Auseinandersetzung mit Machtasymmetrien und der oft fehlenden Transparenz über Forschungsprozesse ist geboten, um der bisher noch zu oft existierenden Scheinpartizipation in der partizipativen digitalen Gesundheitsforschung entgegenwirken zu können.“

Wie es weiter geht

Die Botschaft ist mehr als deutlich, doch um den angemahnten Umdenkungsprozess einzuleiten, müssen äußerst dicke Bretter sowohl in der Politik als auch in der Wissenschaftsszene gebohrt werden. Dass keiner der von PANDORA angefragten Gesundheitspolitiker bereit gewesen ist, an der Pressekonferenz teilzunehmen, spricht Bände. Umso drängender die Frage, wie es mit dem Positionspapier weitergehen soll. Wöhlke kündigt an, die wichtigen Ergebnisse der Stakeholder-Konferenz wissenschaftlich zu publizieren und das Positionspapier relevanten Ministerien, Gremien und Entscheidungsträgern zuzuschicken. An dieser Stelle ende der Einfluss als Forschende. Wöhlke: „Aber es kann dann niemand im Forschungsministerium sagen, man wisse ja gar nicht, dass die aktuellen Partizipationsinitiativen nicht wirklich gut im Sinne einer Teilhabe laufen und ob die Patientenorganisationen sich wirklich beteiligen wollen und was es dafür aus deren Sicht bedarf.“

Was ist PANDORA?
PANDORA (Patient*innenorientierte Digitalisierung) ist ein Verbundprojekt unter der Leitung der Hochschule für angewandte Wissenschaften Hamburg (HAW Hamburg). Kooperationspartner sind die Universitätsmedizin Göttingen und die Medizinische Hochschule Hannover. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler analysieren ethische Fragestellungen, die mit der Einführung und Nutzung von Digitalisierungsprozessen und E-Health-Technologien im Gesundheitswesen einhergehen. Im Fokus stehen die Perspektiven von Patienten- und Selbsthilfeorganisationen, die an solchen digitalen Entwicklungen partizipieren. Das Ziel von PANDORA ist die Entwicklung und Bereitstellung von Unterstützungsinstrumenten, die es diesen Organisationen ermöglichen sollen, ihre Interessen bei der Beteiligung an Digitalisierungsprojekten zu wahren und ethische Prinzipien zu respektieren.

Weiterführender Link:
Positionspapier: Einbeziehung von Patientenorganisationen in die digitale Gesundheitsforschung

Chronisch krank am
 Arbeitsplatz

Der Weg zu einer echten Teilhabe ist noch steinig

Berlin (pag) – Mit den Herausforderungen zum Thema „Arbeiten mit chronischen Erkrankungen“ beschäftigt sich kürzlich der Patient Advocacy Summit von Novo Nordisk. Fest steht: Für die Teilhabe von chronisch erkrankten Personen am Arbeitsleben ist noch viel zu tun. Dabei könnte der Fachkräftemangel ein Katalysator sein.

Als politischen Anknüpfungspunkt hebt Pia Vornholt, Vice President Public Affairs Germany von Novo Nordisk, die Wachstumsinitiative der Bundesregierung hervor. „Die Maßnahmen und Lösungen, die wir heute hier erarbeiten, können Teil der Antwort auf den herrschenden Fachkräftemangel und den demografischen Wandel sein.“ Wichtig sei, dass eine starke und vereinte Patientenstimme sich auch in der Politik engagiere und gehört werde, um langfristig Veränderungen herbeizuführen und die Bedürfnisse von Menschen mit chronischen Erkrankungen in der Gesellschaft und der Arbeitswelt angemessen zu berücksichtigen.

© iStock.com, Ivan-balvan
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Ähnlich lautet die Botschaft von Franz Donner. In seinem Impuls konstatiert der ehemalige Konzernpersonalleiter bei der ZEISS-Gruppe, dass die Teilhabe von chronisch Erkrankten in der Gesellschaft, der Politik und bei den Unternehmen nicht das Gewicht bekomme, das es verdiene. Er richtet den Fokus auf den Fachkräfte-
mangel, der mit einem Rückgang von 3,8 Millionen Arbeitskräften bis 2035 einhergeht. „Wir tun gut daran, diesen in den Vordergrund zu stellen.“ Im Gegensatz zu den chronisch Erkrankten hätten es die älteren Erwerbstätigen geschafft, explizit in der Wachstumsinitiative der Bundesregierung erwähnt zu werden. Zwar gebe es Firmen, die das Teilhabe-Thema bewusst aufgreifen, aber der klassische Unternehmer hat es Donner zufolge nicht auf der Agenda und benötigt eine „burning platform“ – in diesem Fall den Fachkräftemangel. Mit dem Later Life Workplace Index stellt der Experte zudem einen Werkzeugkasten vor. Das Diagnoseinstrument unterstützt Firmen bei ihrer Einschätzung, wie gut sie auf eine alternde Belegschaft vorbereitet sind.

„Gemeinsam etwas ändern.“

Die am Summit teilnehmenden Betroffenen stellen insbesondere heraus, dass es sich um ein patientengruppenübergreifendes Thema handele. Michael Wirtz, Adipositas-Hilfe Deutschland, sagt etwa, dass es nicht nur um Menschen mit Adipositas gehe: „Wir reden auch über Menschen mit Diabetes, Rheuma, MS etc.“.

Auch für Corinna Elling-Audersch von der Rheuma-Liga ist „Chronisch krank am Arbeitsplatz“ eine Angelegenheit, welche die Zusammenarbeit aller Patienten erfordert. „Wir müssen gemeinsam etwas ändern“, mahnt sie. Arbeit sichere nicht nur den Lebensunterhalt, sondern auch die soziale Integration. Noch immer gebe jeder fünfte Rheumapatient mittleren Alters in den ersten drei Jahren nach der Diagnose seinen Arbeitsplatz auf, berichtet Elling-Audersch.

Zur besseren Teilhabe am Arbeitsplatz nennt die Aktivistin einige Stichwörter: Aufklärung und Offenheit im Umgang mit der Erkrankung, Wechsel zu weniger körperlich anstrengenden Tätigkeiten, Ausgestaltung des Arbeitsplatzes mit technischen Hilfsmitteln sowie Qualifizierung/Umschulung/Weiterbildung. Oft seien es nur winzige Stellschrauben, die für eine Teilhabe bewegt werden müssten, etwa mehr Pausen oder die Erlaubnis, Physiotherapiestunden in den Arbeitsalltag einzubauen. Auch müssten die staatlichen Zuschüsse für Arbeitgeber noch bekannter gemacht werden. Corinna Elling-Audersch appelliert: „Wir müssen in der Gesellschaft ein Bewusstsein für uns schaffen“.

Wachstumsinitiative der Bundesregierung
Um der deutschen Wirtschaft neue Impulse zu geben, hat die Bundesregierung zusammen mit dem Haushalt 2025 eine umfassende Wachstumsinitiative beschlossen. Mit 49 Maßnahmen in unterschiedlichen Bereichen will sie den Wirtschaftsstandort Deutschland und seine Wettbewerbsfähigkeit nachhaltig stärken, um den Wohlstand langfristig zu sichern – „für gute Arbeitsplätze und für die erfolgreiche Umsetzung der Dekarbonisierung“, wie es heißt. Unter anderem sollen Anreize dafür geschaffen werden, dass es sich für Ältere mehr lohnt, über das Renteneintrittsalter hinaus zu arbeiten. Wirtschaftsminister Dr. Robert Habeck hat angekündigt, dass aufgrund des Fachkräftemangels auch „Arbeitsausfälle infolge von Krankheit reduziert werden sollen“. Konkrete Maßnahmen innerhalb der Initiative sind jedoch nicht benannt.

Erkrankungen sind ein Vollzeitjob

Ein Bewusstsein zu schaffen, ist auch ein Anliegen von Lea Raak. Die Aktivistin für Barrieresensibilität lebt seit 13 Jahren mit verschiedenen chronischen Erkrankungen und arbeitet außerdem in Vollzeit. Sie sagt: „Meine chronischen Erkrankungen sind auch schon ein Vollzeitjob.“ Jeden Tag lebt sie mit einer Vielzahl von Symptomen. „Wenn man mich sieht, würde man das nicht unbedingt denken.“ In ihrem Vortrag gibt sie Einblicke in ihre Arbeit mit einer nicht ersichtlichen Behinderung. Beeinträchtigt fühlt sie sich etwa von Verurteilungen und Diskriminierungen, obgleich sie an ihrem Arbeitsplatz an der Universität das Glück habe, offen mit ihrer Erkrankung umgehen zu können. Dennoch blieben das schlechte Gewissen und ein Ringen mit sich selbst, ob und wann sie sich krankmeldet.

Raak plädiert dafür, gemeinsam mit dem Arbeitgeber Strategien für die Vereinbarkeit zu entwickeln. Ein wichtiges Anliegen sei es ihr auch, dass es auf der Arbeit einen sicheren Raum gibt, um Dinge anzusprechen und offenzulegen. Die Aufgabe von Führungskräften sei es, einen solchen Raum zu schaffen. Lea Raak verlangt: „Nicht ich muss mich anpassen, sondern der Arbeitsplatz sollte sich anpassen und die Führungskräfte sollen sich anpassen.“

 

Prof. Mathilde Niehaus © Kasper Jensen
Prof. Mathilde Niehaus © Kasper Jensen

Sag ich es ?
Prof. Mathilde Niehaus, Universität zu Köln, stellt bei dem Summit den Online-Selbsttest www.sag-ichs.de
vor. Dieser unterstützt Betroffene
bei der Entscheidung für oder gegen die Offenlegung ihrer gesundheitlichen Beeinträchtigung am Arbeitsplatz. Dafür werden verschiedene Bereiche wie „Auf der Arbeit“, „Persönliche Voraussetzungen“, „Einstellungen und Werte“ so-
wie „Erfahrungen und Lebenssitua-tion“ abgefragt. Unter Wahrung des Datenschutzes wird basierend auf den Antworten ein persönliches Profil erstellt. Die Frage, die eigene gesundheitliche Beeinträchtigung am Arbeitsplatz zu offenbaren, sei hochkomplex und ziehe viel Energie, weiß Niehaus. Sie hebt hervor, dass Personen, deren Beeinträchti-gung man von außen nicht sehen könne, ganz anders mit sich und anderen im Konflikt stehen, über ihre Erkrankung zu sprechen. Oft seien sie Vorurteilen ausgesetzt, beispielsweise sich vor der Arbeit zu drücken. Beide Entscheidungsmöglichkeiten – die Erkrankung offenzulegen oder sie für sich zu behalten – seien legitim. „Wichtig ist, dass ich die Entscheidung mit mir selbst ausgemacht habe und sie selbstbestimmt fälle.“

 

 

Vom Leuchtturm Kiel zum 
Versorgungsstandard

Shared Decision Making hat es im Gesundheitssystem (noch) schwer

Berlin/Kiel (pag) – Seit Langem wird Shared Decision Making in Fachkreisen diskutiert. Flächendeckend durchgesetzt hat es sich bisher nicht. Wenig verwunderlich, denn hinter dem Konzept steht nicht weniger als ein Paradigmenwechsel im Verständnis des Arzt-Patienten-Verhältnisses. Mittlerweile kommt aber Bewegung in die Sache.

© iStock.com, Vladgrin, Bearbeitung: pag, Anna Fiolka
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2017, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein (UKSH), Campus Kiel: Der Startschuss für das vom Innovationsfonds geförderte Pilotprojekt SHARE TO CARE fällt. „Making SDM A REALITY“ setzt in Pionierarbeit die Prozesse partizipativer Entscheidungsfindung (auf Englisch Shared Decision Making, SDM) in einem kompletten Krankenhaus der Maximalversorgung um. Das SHARE TO CARE-Programm umfasst vier Module: Training der Ärztinnen und Ärzte, digitale Entscheidungshilfen, Qualifizierung von Pflegekräften und Patientenaktivierung. Am UKSH werden dabei insgesamt 80 Entscheidungshilfen produziert, die wissenschaftlich fundierte, strukturiert aufbereitete und verständliche Informationen bieten. Genutzt werden können sie von Patienten zur Vorbereitung auf die gemeinsame Entscheidung mit Medizinern. „Heute gehört das UKSH zu den weltweit führenden Kliniken in der Anwendung von SDM“, betont das Klinikum auf seiner Website.

Präferenzen und Prioritäten

Das Projekt in Kiel zeigt hierzulande erstmals, dass SDM in allen Bereichen einer ganzen Klinik mit positiven Effekten etabliert werden kann. Der Ansatz beinhaltet eine partnerschaftliche Entscheidungsfindung, in der Arzt und Patient relevante Informationen austauschen und sich gemeinsam auf eine optimale Behandlungsoption einigen. Dabei informiert der Arzt über diagnostische und therapeutische Möglichkeiten mit jeweiligen Vor- und Nachteilen. Der Patient teilt seine Präferenzen und Behandlungserfahrungen. Insbesondere Auswirkungen etwaiger Entscheidungen auf den Alltag des Patienten sind entscheidend.

SHARE TO CARE: Am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein (UKSH), Campus Kiel, fällt 2017 der Startschuss für das vom Innovationsfonds geförderte Pilotprojekt. © Imrohopic - Own work, CC BY-SA 4.0
SHARE TO CARE: Am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein (UKSH), Campus Kiel, fällt 2017 der Startschuss für das vom Innovationsfonds geförderte Pilotprojekt. © Imrohopic – Own work, CC BY-SA 4.0

Johannes Förner, Patientenbeirat am Deutschen Krebsforschungszentrum, sieht darin immense Vorteile: „SDM berücksichtigt Präferenzen und Prioritäten der Patienten bei der Entscheidungsfindung für ein Therapieschema.“ Speziell in der Krebstherapie werde meist auf maximale Lebensverlängerung geschaut, „obwohl dies für den jeweiligen Patienten vielleicht gar nicht so wichtig ist und er lieber eine optimale Lebensqualität erreichen würde.“

Prof. Martin Härter, Direktor des Instituts und der Poliklinik für Medizinische Psychologie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, wirbt bereits 2015 auf einem Kongress des Bundesverbandes Managed Care für das Konzept: SDM steigere die Gesundheitskompetenz der Patienten. Eine Kompetenz, die defizitär in der Bevölkerung ausgebildet ist. Die Patientenzufriedenheit steige, auch für Ärzte gestalte sich die Kommunikation angenehm.
Fest steht mittlerweile auch, dass sich die Compliance der Patienten durch die gemeinsame Entscheidungsfindung erhöht. Zwar bedeutet diese initial mehr Aufwand für Ärzte – die Schulung der Mitarbeiter dauert etwa einen Arbeitstag. Mittel- bis langfristig wird aber Zeit eingespart – etwa durch effizientere Gespräche und weniger Rückfragen. Allerdings eignet sich das Konzept nur für Krankheitsbilder, bei denen aus medizinischer Sicht mehrere Handlungsmöglichkeiten mit jeweils eigenen Vor- und Nachteilen existieren.

Trotz aller Vorteile ist Shared Decision Making bislang vor allem im angelsächsischen Raum präsent. „In den UK gehört SDM bereits zum Standardrepertoire des National Health Service in der personalisierten Medizin“, berichtet Förner. In den USA sei SDM stark abhängig von der jeweiligen Klinik, werde aber häufiger praktiziert als in Deutschland. Hierzulande ist der Ansatz noch längst kein Versorgungsstandard, auch wenn es politisch so gewollt ist. Dieser politische Wille ist beispielsweise im Patientenrechtegesetz nachzulesen. Dort heißt es, dass sich Arzt und Patient „partnerschaftlich begegnen und gemeinsam über die Behandlung entscheiden“. Laut §§ 13 bis 15 SGB I sind die Sozialversicherungsträger zur Aufklärung, Beratung und Auskunft verpflichtet.

Für SHARE TO CARE-Geschäftsführer Dr. Jens Ulrich Rüffer ist eine Ursache dafür, dass Wunsch und Wirklichkeit so auseinanderklaffen und SDM aktuell noch nicht systematisch im Gesundheitssystem eingesetzt wird, die bisher fehlende konkrete Prozessanleitung für alle Beteiligten (lesen Sie hierzu auch das Interview „Das reine Wollen reicht nicht“, Seite 16).

In die Regelversorgung

„Aufzuhalten ist SDM meiner Meinung nach nicht mehr.“ Der SDM-Siegeszug ist für Patientenbeirat Förner nur eine Frage der Zeit. © stock.adobe.com, goodluz
„Aufzuhalten ist SDM meiner Meinung nach nicht mehr.“ Der SDM-Siegeszug ist für Patientenbeirat Förner nur eine Frage der Zeit. © stock.adobe.com, goodluz

Immerhin: Seit März empfiehlt der Gemeinsame Bundesausschuss, das Programm SHARE TO CARE in die Regelversorgung zu überführen. Darauf will Rüffer allerdings nicht warten. „Die Hauptaktivitäten zu SDM finden hierzulande im Rahmen von Forschungsprojekten statt“, weiß er. Im Fokus stehen die Frage der Machbarkeit, außerdem die Reproduktion der Kieler Effekte und sektorenübergreifende Aspekte. Von den momentan laufenden Pilotprojekten hofft der Mediziner, dass sie „genug Evidenz erzeugen, um die Erkenntnis herauszuarbeiten:
Es braucht SDM, sei es über Selektivverträge oder in der Regelversorgung“.

Auch Patientenvertreter Förner hat einige vielversprechende Initiativen fest im Blick: Etwa das groß angelegte Vorhaben an den sechs bayerischen Universitätskliniken, das sich dem Bereich Prostatakrebs widmet. „Bayern versucht hier eine systematische Implementierung von SDM“, berichtet er. Ein anderes Beispiel ist Bremen, wo SHARE TO CARE für den hausärztlichen Bereich adaptiert wird. Das Ziel: SDM in allen Hausarztpraxen im Bundesland verankern. Der SDM-Siegeszug ist für Förner nur eine Frage der Zeit: „Aufzuhalten ist SDM meiner Meinung nach nicht mehr. Wir können es verzögern oder aber auch beschleunigen.“

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Drahtseilakt zwischen Autonomie und Anleitung Grundsätzlich geht es um einen Wandel des Arzt-Patienten-Verhältnisses. SDM vollführt den Drahtseilakt zwischen den Autonomiebestrebungen des Patienten und seinem Bedarf nach Anlehnung und Anleitung durch den Arzt. Die althergebrachte Vorstellung, dass Patienten stillschweigend mit jeder ärztlichen Entscheidung mitgehen, ist längst nicht mehr zeitgemäß. Erstmals konkret wurde die Idee des SDM vom US-amerikanischen Bioethiker Dr. Robert Veatch in den frühen 70er-Jahren ins Spiel gebracht. 1982 stellte eine Kommission des US-Präsidenten fest, dass man zwar grundsätzlich immer besser in der Lage sei, Krankheiten effektiv zu behandeln, gleichzeitig aber weitverbreitet Über-, Unter- und Fehlbehandlung herrsche. Die vorgeschlagene Lösung: SDM.
Mittlerweile hat das Konzept Einzug in die Gesetzgebung und Politik zahlreicher Länder gehalten. Wissenschaftler sehen einen Paradigmenwechsel in Richtung Patientenzentrierung und Beteiligung, der sich vor allem in den 80ern vollzieht. Stichwort Forschung: Seit den 70ern wurden mehr als 6.000 wissenschaftliche Artikel zum Thema veröffentlicht, seit 2013 sind es über 500 pro Jahr.

„Das reine Wollen reicht nicht“

Dr. Jens Ulrich Rüffer über typische Denkfehler bei Shared Decision Making

Für Dr. Jens Ulrich Rüffer ist die bisher fehlende Prozessanleitung der „Misssing Link“ der vergangenen Jahrzehnte, der eine breite Implementierung in der Praxis verhinderte. Im Interview erläutert der Experte für Medizinkommunikation, warum es noch immer vielen Ärzten an einem wirklichen Verständnis für die partizipative Entscheidungsfindung mangelt.

© iStock.com, Ieromin, Berarbeitung pag
© iStock.com, Ieromin, Berarbeitung pag

Welchen Weg hat Shared Decision Making in Deutschland hinter sich?

Jens Ulrich Rüffer: Wir blicken hierzulande auf eine patriarchalische Geschichte. Lange Zeit war es üblich, dass Ärzte Befunde erhoben und hinter verschlossenen Türen über Diagnosen und Behandlungsmethoden brüteten. Erst seit den 70er-Jahren sind Ärzte verpflichtet, Diagnosen mitzuteilen. Meilensteine sind die Patientenrechtegesetze, die zwischen den 90er bis in die Nullerjahre eingeführt wurden. Seitdem haben Patienten den gesetzlichen Anspruch, Diagnosen zu erfahren und zwischen Behandlungsmethoden zu wählen. Berechtigt sind Patienten außerdem, über deren Vor- und Nachteile informiert zu werden. Als Garant hierfür dient Shared Decision Making. Von einem theoretischen Konzept entwickelte sich SDM in den letzten Jahren hin zu konkreten Verfahrensweisen.

Wieso? Trifft der Arzt nicht grundsätzlich Entscheidungen im Sinne seines Patienten?

Rüffer: Es geht um die Frage der Präferenzen. Abgesehen vom medizinischen Wissen des Arztes bringt der Patient individuelle Bedürfnisse mit ins Behandlungszimmer. Bleiben sie vom Arzt unbeachtet, wirkt sich das direkt auf die Behandlung aus: ihre Erfolgschancen sinken. Somit ist SDM mehr als Idealismus – eine Partizipative Entscheidung erhöht auch die Adhärenz.

Welche Vorteile hat SDM außerdem?

Rüffer: Aus ethischer Sicht ist bereits die Schaffung von SDM ein Wert. In unserem groß angelegten Projekt am Kieler Standort des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein konnten wir weitere Vorteile nachweisen: Patienten kommen besser informiert durch Therapien und sind seltener Entscheidungskonflikten ausgesetzt. Ferner fallen die Arztgespräche tendenziell kürzer aus. Es gibt sogar Kosteneinsparungen.

Sie sprechen das Projekt SHARE TO CARE in Kiel an, bei dem sie gezeigt haben, dass man SDM in einer gesamten Klinik einsetzen kann. Wie sind Sie vorgegangen?

Rüffer: Das SHARE TO CARE-Programm setzt sich aus vier Modulen zusammen. Zwei davon richten sich an das Gesundheitssystem. Die anderen beiden zielen auf Patienten ab. Zunächst beinhaltet das Programm ein Training für Ärztinnen und Ärzte.

Wie sieht das Training konkret aus?

Rüffer: Das Training ist per se sehr simpel. Insgesamt bemisst es sich auf vier Stunden. In der ersten wird den Ärzten in einem Online-Training Grundlagenwissen zu SDM anhand von Lehrbeispielen vermittelt. Anschließend werden zwei reale Entscheidungsgespräche auf Video aufgezeichnet. Dazu gibt es ein individuelles Videofeedback von speziell ausgebildeten Trainern mit konkreten Verbesserungsvorschlägen. Nach dem Konzept sollte sich pro Station beziehungsweise Ambulanz ein bis zwei Personen zu einem Decision Coach weiterbilden. Diese können aus diversen Berufen kommen, stammen in der Regel aber aus dem Pflegebereich.

Für Patienten gibt es Entscheidungshilfen in Form der „Drei Fragen“- Methode: Welche
Therapieoptionen habe ich? Welche Vor- und Nachteile gehen damit einher? Und mit welcher Wahrscheinlichkeit treffen diese auf mich zu? © iStock.com, Denis Novikov
Für Patienten gibt es Entscheidungshilfen in Form der „Drei Fragen“- Methode: Welche Therapieoptionen habe ich? Welche Vor- und Nachteile gehen damit einher? Und mit welcher Wahrscheinlichkeit treffen diese auf mich zu? © iStock.com, Denis Novikov

Und wie sieht es auf der Patientenseite aus?

Rüffer: Für sie gibt es Entscheidungshilfen – zumindest für die wichtigsten Indikationen. Weiterhin nutzen wir die „Drei Fragen“-Methode. Das können Sie sich wie einen Leitfaden für ein Arzt-Patienten-Gespräch vorstellen. Sie lauten: Welche Therapieoptionen habe ich? Welche Vor- und Nachteile gehen damit einher? Und mit welcher Wahrscheinlichkeit treffen diese auf mich zu? Ein Stück weit spiegeln die Fragen auch das Patientenrechtegesetz wider.

Welche weiteren Aspekte beinhaltet SDM?

Rüffer: SDM ist in Gänze als ein Werkzeugkasten vorstellbar. Im Einzelfall muss entschieden werden, welche Tools in ein System implementierbar sind. Wir haben uns für die vier beschriebenen entschieden – und ziehen eine positive Bilanz. In anderen Projekten konnten mit anderer Auswahl nicht dieselben Effekte erzielt werden. Ein wichtiger Erfolgsfaktor ist auch die Intensität der Maßnahmen. Es ist ein lernendes System – aber SHARE TO CARE setzt heute einen Standard.

Ist es nicht auch ein Stück weit eine individuelle Einstellung, wie offen und gleichberechtigt ich als Arzt beziehungsweise Patient ein Behandlungsgespräch führe?

Rüffer: Wir wissen, dass SDM-Elemente in Behandlungsgesprächen nur in geringem Ausmaß stattfinden. Gleichzeitig behaupten neun von zehn Ärzten, sie praktizierten Partizipative Entscheidungsfindung.

© stock.adobe.com, Rido
© stock.adobe.com, Rido

Wird da gelogen?

Rüffer: Nein. Als Vorwurf ist es nicht zu verstehen. Vielmehr erkenne ich darin einen ärztlichen Willen zum SDM. Nur fehlt an vielen Stellen heute noch ein tieferes Verständnis. Dazu gehört die Einsicht des Arztes, dass er hauptverantwortlich dafür ist, dass der Patient ein Thema erfasst und seine Präferenzen mit den Behandlungsoptionen abgleicht. Ärzte scheinen schnell bereit zu sagen, sie hätten das getan. In der Praxis bestätigt sich das nicht. Das reine Wollen reicht nicht. Es fehlte bisher die Prozessanleitung.

Das müssen Sie genauer erklären.

Rüffer: Ein Vergleich: Fährt man Auto, tut man das bisweilen mit der inneren Haltung, dass man vorsichtig fahren möchte. Dann möchte ich in einer 30er-Zone auch nur 30 fahren. Fehlt es allerdings an einem Tachometer, an Bremsen oder einem richtigen Gaspedal, wird es schwierig, mein Ziel zu erreichen. Deutlich leichter ist es, wenn ich adäquat ausgerüstet bin und einen Tempomat habe, den ich auf 30 einstellen kann. Der SDM-Prozess ist wie dieses Hilfsmittel. Ich schätze, das ist der Missing Link der letzten Jahrzehnte, welcher für eine breitflächige Implementierung fehlte. In theoretische Diskussionen ist die Thematik schon längst eingezogen. Die Umsetzung in der Praxis stand dagegen auf der Stelle. Nun haben wir einen Prozess erarbeitet, der Ärzten mit unseren kombinierten Optionen SDM ermöglicht.

Das ist ein wohlwollender Blick. Was ist mit Widerständen von Ärzten, die ihr althergebrachtes Selbstbild gefährdet sehen?

Rüffer: Widerstände gibt es definitiv. Interessanterweise finden sich jene traditionellen Haltungen vermehrt bei Kollegen, die in Lobbygruppen aktiv sind und seltener direkt mit Patienten arbeiten. Sicherlich ist damit auch eine Generationenfrage verbunden. Dennoch: Ich bin der Meinung, es stieße keine große Veränderung an, tauschten wir alle Ü40-Ärzte durch jüngere Kollegen aus. Denn: SDM ist kein Automatismus, keine reine Willensfrage. Es bedarf aktiven Trainings und einer bewussten Implementierung.

Die Einstellung der Ärzte muss sich nicht ändern?

Rüffer: Doch. Dazu gehört, dass Ärzte seit Langem die Effektivität von Interventionen überschätzen. Watchfull Waiting wiederum wird unterschätzt. Solche Phänomene lassen sich mit Partizipativer Entscheidungsfindung ausgleichen. Denn im Prozess werden sich Ärzte bewusst, dass zuweilen Therapieoptionen vorgezogen werden, die aus ärztlicher Sicht weniger erfolgsversprechend oder weniger invasiv sind. Das zu verstehen, ist vielmehr Inhalt als Macht und Deutungshoheit.

Wie gelingt die flächendeckende Implementierung?

Rüffer: Daran arbeiten wir mit SHARE TO CARE. Seit März empfiehlt der Gemeinsame Bundesausschuss, unser Programm in die Regelversorgung zu überführen. Doch darauf wollen wir nicht warten. Die Hauptaktivitäten zu SDM finden hierzulande im Rahmen von Forschungsprojekten statt. Im Fokus stehen die Frage der Machbarkeit, außerdem die Reproduktion der Kieler Effekte und sektorenübergreifende Aspekte. Gegenwärtig entwickeln sich verschiedene Pilotprojekte, die hoffentlich genug Evidenz erzeugen, um die Erkenntnis herauszuarbeiten: Es braucht SDM, sei es über Selektivverträge oder in der Regelversorgung. Mitbedacht werden muss auch, dass man damit gleichzeitig Anreize für Personen mit anderem SDM-Verständnis schafft, sich in den Markt zu drängen. Möglicherweise entsteht dabei Pseudo-SDM.

Was verstehen Sie unter Pseudo-SDM? Drückt man Patienten eine Entscheidungshilfe in die Hand, und das war es dann?

Rüffer: Entscheidungshilfen allein erzeugen durchaus positive Effekte. Diese sind allerdings um Längen von den Kieler Ergebnissen entfernt. Denn an erster Stelle ist es eine Frage der Haltung: zu respektieren, dass Patienten eigene Präferenzen und Therapievorstellungen haben. Diese Haltung ist komplementär zu Werkzeugen wie Entscheidungshilfen, Decision Coaches oder den „Drei Fragen“. Erst wenn alle Rädchen ineinandergreifen, gedeiht Partizipative Entscheidungsfindung.

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© atp Verlag
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Zur Person Dr. Jens Ulrich Rüffer treibt seit Jahrzehnten europaweit SDM-Projekte voran. Als Geschäftsführer von SHARE TO CARE hat der Facharzt für Innere Medizin mit Schwerpunkt Hämatologie und Onkologie zuletzt SDM in einer ganzen Klinik in Kiel implementiert. Außerdem hat er das Buch „Wenn eine Begegnung alles verändert: Ärztinnen und Ärzte erzählen“, in dem Mediziner von augenöffnenden Patientenbegegnungen berichten, mit herausgegeben.
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Inklusion als „Bringschuld“

Berlin (pag) – Der Weg zu einem inklusiven Gesundheitssystem ist steinig. Die Gesellschaft für Versicherungswirtschaft und -gestaltung (GVG) nimmt sich Anfang Oktober des Themas in einem digitalen Impuls an. Mit dabei sind Dr. Klaus Reinhardt, Präsident der Bundesärztekammer (BÄK), Prof. Claudia Hornberg, Dekanin der Medizinischen Fakultät an der Universität Bielefeld, und Verena Bentele, Präsidentin des Sozialverbands VdK Deutschland.

© iStock.com, Ivan Pantic
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„Es ist eine Selbstverständlichkeit, dass wir Menschen mit einer Behinderung inkludieren“, lautet Reinhardts Überzeugung. Ihnen müsse das Gefühl genommen werden, dass sie in der sozialen Integration beeinträchtigt seien. „Das ist die Bringschuld derjenigen, die das Glück haben, keine Behinderung zu haben.“ Diese Grundhaltung müsse man als Arzt einnehmen, findet der BÄK-Präsident. Dazu gehöre auch, dass man sich gegebenenfalls eingestehen muss, wenn man mit seinem Wissen an Grenzen stößt und die Expertise von beispielsweise einem der Medizinischen Behandlungszentren für Erwachsene mit geistiger oder schwerer Mehrfachbehinderung (MZEB) heranzieht. Für deren strukturelle Weiterentwicklung mache sich die BÄK schon seit Längerem stark. Aber sprechen solche Einrichtungen nicht gegen die freie Arztwahl und sind exklusiv? Wo Inklusion machbar sei, müsse sie umgesetzt werden, so Reinhardt. Menschen mit leichten kognitiven Einschränkungen könnten vom Hausarzt behandelt werden. Sei die Beeinträchtigung schwerer, könne sich der Patient beispielsweise nicht so artikulieren, dass ihn der Behandler versteht, ergebe sich eine Situation, die der Hausarzt nicht bewältigen könne.

In bestimmten Situationen benötige man entsprechende fachliche Kompetenzen, gibt Hornberg dem BÄK-Präsidenten Recht. In ihrem Vortrag geht sie auf den Status quo ein: In Deutschland lebten circa 13 Millionen Menschen mit Beeinträchtigungen – bezieht sie sich auf Zahlen aus 2017. Im Vergleich zum Jahr 2009 sei diese Zahl um neun Prozent angestiegen. Das stelle die medizinische Versorgung vor Herausforderungen. Dort fehle es oft an Zeit und an Finanzierung des Mehraufwands. „Wir müssen uns damit beschäftigen, das sind essenzielle Barrieren.“ Menschen mit Behinderungen müssten ferner in der ärztlichen Aus- und Weiterbildung eine größere Rolle einnehmen.

„Revolutionäre Veränderungen“

Existierende Barrieren spricht auch Bentele an. Damit meint sie nicht nur die fehlende Rampe zur Arztpraxis. Ihr sei ein Fall bekannt, in dem ein Mensch mit einem Knieleiden nicht in einer Rehaklinik aufgenommen worden sei, weil er blind sei. „Das finde ich absurd.“ So etwas zu unterbinden, sei Aufgabe des Gesetzgebers. Denn auch Menschen mit Behinderungen seien Beitragszahlende und hätten somit ein Recht auf gleichen Zugang zu gesundheitlicher Versorgung.

Auch die Erwartungen an den Aktionsplan für ein inklusives Gesundheitswesen, für den vor rund einem Jahr der Startschuss im Bundesgesundheitsministerium fiel, werden thematisiert. Hornberg dreht das Thema um. Ihre Devise: „Jeder muss für sich in seiner Institution gucken, wo sie oder er anfangen kann.“ Bentele spricht die Überwindung der Sektorengrenzen und der Unterschiede zwischen Stadt und Land an. Zudem müssten Prävention und Rehabilitation eine größere Rolle spielen. „Dafür brauchen wir revolutionäre Veränderungen.“

Check-Up: Zielgruppe verfehlt?

Köln (pag) – Die allgemeine Gesundheitsuntersuchung „Check-Up“ wird seltener von Personen genutzt, die am stärksten von ihr profitieren könnten. Zu dieser Schlussfolgerung kommt das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) in einem Rapid Report, den das Institut im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit erstellt hat.

© stock.adobe.com, Siphosethu F/peopleimages.com
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Gesetzlich Krankenversicherte haben seit 1989 Anspruch auf eine regelmäßige Gesundheitsuntersuchung, die von ihrer Kranken-
kasse bezahlt wird. Im Rahmen der Untersuchung sollen gesundheitliche Risiken und Belastungen frühzeitig erfasst werden. Sie dient außerdem der Früherkennung von häufig auftretenden Krank-heiten, insbesondere von Herz-Kreislauf- und Nierenerkrankungen sowie von Diabetes. Versicherte zwischen 18 und 34 Jahren haben einmalig Anspruch auf den Check-Up, Versicherte ab 35 Jahren alle drei Jahre.
Das IQWiG kommt zu dem Ergebnis, dass das Angebot in Deutschland eher von Personen genutzt wird, die ohnehin häufiger Kontakt mit Arztpraxen haben. Gruppen, die höhere Gesundheitsrisiken aufweisen und die das ambulante Versorgungssystem weniger in Anspruch nehmen, nutzen das Angebot seltener.

Gezielte Ansprache

„Zu den Menschen, die seltener zum Check-Up gehen, gehören Menschen mit niedrigem sozioökonomischem Status, Frauen und insbesondere Männer mit Hinweisen auf gesundheitliche Risiken bzw. die ihren Gesundheitszustand als mittelmäßig oder schlecht einschätzen sowie Menschen, die nach Deutschland zugewandert sind“, berichtet IQWiG-Mitarbeiterin Beate Zschorlich. Diese Gruppen müssen gezielt angesprochen werden, auch in anderen Sprachen. Die Projektleiterin weist aber auch darauf hin, „dass auf Basis veröffentlichter Studien ein gesundheitlicher Nutzen des sogenannten Check-Ups selbst unklar ist“. Zschorlich: „Die Maßnahmen und Kommunikationsstrategien sollten diese Diskrepanz berücksichtigen.“ Einige Länder wie Österreich und Großbritannien hätten ihre Angebote zu Gesundheitsuntersuchungen in den letzten Jahren deshalb wissenschaftlich neu bewertet und – insbesondere in Großbritannien – grundlegend reformiert. Dabei habe ein Schwerpunkt auf Bevölkerungsgruppen mit besonderen gesundheitlichen Risiken gelegen.

Angeborene Herzfehler: Fataler Versorgungsmangel

Frankfurt a. M. (pag) – Das Aktionsbündnis Angeborene Herzfehler (ABAHF) warnt vor einem Engpass in der Reha-Versorgung von Erwachsenen mit angeborenem Herzfehler (EMAH): Nur eine Handvoll Nachsorge-Kliniken würden den Ansprüchen von EMAH entsprechen. Auch Deutsche-Herzstiftung-Vorstand Prof. Stefan Hofer sieht die Lage kritisch: „Erwachsene mit angeborenem Herzfehler dürfen jetzt nicht in ein Versorgungsloch fallen.“

© istockphoto.com, bojanstory
© istockphoto.com, bojanstory

Schließlich gehe es um das Wohl von über 350.000 EMAH in Deutschland, die von Geburt an auf eine lebenslange spezifische Nachsorge ihres Herzfehlers angewiesen seien. Hofer sieht einen fatalen Mangel an Reha-Angeboten. Laut ABAHF warten die Betroffenen regelmäßig mehrere Monate bis zu einem Jahr, um einen geeigneten stationären Rehaplatz zu bekommen.

Die Wahrnehmung der ABAHF wird von der Datenlage gedeckt. Im März hat das vom Innovationsfonds des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) geförderte Projekt Versorgungsoptimierung bei Kindern und Erwachsenen mit angeborenen Herzfehlern (OptAHF) erste belastbare Zahlen vorgelegt: Eine Auswertung von Daten des Statistischen Bundesamtes und der Barmer zeigt, dass entgegen der geltenden Leitlinie über 40 Prozent der EMAH nur hausärztlich versorgt werden. Darunter fallen selbst über 35 Prozent der Patienten mit komplexen Herzfehlern. Für die betroffenen Patienten ist dem Projekt zufolge damit ein „signifikant höheres Sterberisiko und das Risiko von schweren unerwünschten Ereignissen assoziiert“.

Eine neue Patientengruppe

Ein Grund für die Versorgungsprobleme ist eigentlich ein positiver: Seit den 90er-Jahren ist die Zahl der Todesfälle durch Fortschritte in der Behandlung drastischer gesunken als bei allen anderen Herzerkrankungen. Wie die Herzstiftung informiert, können heute über 90 Prozent der betroffenen Kinder das Erwachsenenalter erreichen. Damit ist mit den EMAH in Deutschland im Grunde eine völlig neue Patientengruppe entstanden, die weiterhin wächst.

Eine erfolgreiche Behandlung als Kind entspricht aber nicht zwangsläufig einer Heilung. Noch viele Jahre später kann es zu teils lebensbedrohlichen Verschlechterungen kommen, die für Betroffenen selbst nicht immer wahrnehmbar sind, da sie sich oft schleichend entwickeln. Nur durch regelmäßige Kontrolluntersuchungen bei EMAH-Spezialisten können solche Komplikationen rechtzeitig ausgemacht werden.

 

© stock.adobe.com, Dedraw Studio
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Mangel an Experten
Die Deutsche Gesellschaft für Pädiatrische Kardiologie und Angeborene Herzfehler (DGPK) zählt in Deutschland circa 180 EMAH-zertifizierte Kardiologen. Mehr als 150 davon sind Kinderkardiologen, hauptsächlich arbeiten diese in überregionalen EMAH-Zentren, Schwerpunktpraxen oder -Kliniken. In Reha-Kliniken fehle ihre Expertise dadurch zurzeit.
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