Check-Up: Zielgruppe verfehlt?

Köln (pag) – Die allgemeine Gesundheitsuntersuchung „Check-Up“ wird seltener von Personen genutzt, die am stärksten von ihr profitieren könnten. Zu dieser Schlussfolgerung kommt das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) in einem Rapid Report, den das Institut im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit erstellt hat.

© stock.adobe.com, Siphosethu F/peopleimages.com
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Gesetzlich Krankenversicherte haben seit 1989 Anspruch auf eine regelmäßige Gesundheitsuntersuchung, die von ihrer Kranken-
kasse bezahlt wird. Im Rahmen der Untersuchung sollen gesundheitliche Risiken und Belastungen frühzeitig erfasst werden. Sie dient außerdem der Früherkennung von häufig auftretenden Krank-heiten, insbesondere von Herz-Kreislauf- und Nierenerkrankungen sowie von Diabetes. Versicherte zwischen 18 und 34 Jahren haben einmalig Anspruch auf den Check-Up, Versicherte ab 35 Jahren alle drei Jahre.
Das IQWiG kommt zu dem Ergebnis, dass das Angebot in Deutschland eher von Personen genutzt wird, die ohnehin häufiger Kontakt mit Arztpraxen haben. Gruppen, die höhere Gesundheitsrisiken aufweisen und die das ambulante Versorgungssystem weniger in Anspruch nehmen, nutzen das Angebot seltener.

Gezielte Ansprache

„Zu den Menschen, die seltener zum Check-Up gehen, gehören Menschen mit niedrigem sozioökonomischem Status, Frauen und insbesondere Männer mit Hinweisen auf gesundheitliche Risiken bzw. die ihren Gesundheitszustand als mittelmäßig oder schlecht einschätzen sowie Menschen, die nach Deutschland zugewandert sind“, berichtet IQWiG-Mitarbeiterin Beate Zschorlich. Diese Gruppen müssen gezielt angesprochen werden, auch in anderen Sprachen. Die Projektleiterin weist aber auch darauf hin, „dass auf Basis veröffentlichter Studien ein gesundheitlicher Nutzen des sogenannten Check-Ups selbst unklar ist“. Zschorlich: „Die Maßnahmen und Kommunikationsstrategien sollten diese Diskrepanz berücksichtigen.“ Einige Länder wie Österreich und Großbritannien hätten ihre Angebote zu Gesundheitsuntersuchungen in den letzten Jahren deshalb wissenschaftlich neu bewertet und – insbesondere in Großbritannien – grundlegend reformiert. Dabei habe ein Schwerpunkt auf Bevölkerungsgruppen mit besonderen gesundheitlichen Risiken gelegen.

Angeborene Herzfehler: Fataler Versorgungsmangel

Frankfurt a. M. (pag) – Das Aktionsbündnis Angeborene Herzfehler (ABAHF) warnt vor einem Engpass in der Reha-Versorgung von Erwachsenen mit angeborenem Herzfehler (EMAH): Nur eine Handvoll Nachsorge-Kliniken würden den Ansprüchen von EMAH entsprechen. Auch Deutsche-Herzstiftung-Vorstand Prof. Stefan Hofer sieht die Lage kritisch: „Erwachsene mit angeborenem Herzfehler dürfen jetzt nicht in ein Versorgungsloch fallen.“

© istockphoto.com, bojanstory
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Schließlich gehe es um das Wohl von über 350.000 EMAH in Deutschland, die von Geburt an auf eine lebenslange spezifische Nachsorge ihres Herzfehlers angewiesen seien. Hofer sieht einen fatalen Mangel an Reha-Angeboten. Laut ABAHF warten die Betroffenen regelmäßig mehrere Monate bis zu einem Jahr, um einen geeigneten stationären Rehaplatz zu bekommen.

Die Wahrnehmung der ABAHF wird von der Datenlage gedeckt. Im März hat das vom Innovationsfonds des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) geförderte Projekt Versorgungsoptimierung bei Kindern und Erwachsenen mit angeborenen Herzfehlern (OptAHF) erste belastbare Zahlen vorgelegt: Eine Auswertung von Daten des Statistischen Bundesamtes und der Barmer zeigt, dass entgegen der geltenden Leitlinie über 40 Prozent der EMAH nur hausärztlich versorgt werden. Darunter fallen selbst über 35 Prozent der Patienten mit komplexen Herzfehlern. Für die betroffenen Patienten ist dem Projekt zufolge damit ein „signifikant höheres Sterberisiko und das Risiko von schweren unerwünschten Ereignissen assoziiert“.

Eine neue Patientengruppe

Ein Grund für die Versorgungsprobleme ist eigentlich ein positiver: Seit den 90er-Jahren ist die Zahl der Todesfälle durch Fortschritte in der Behandlung drastischer gesunken als bei allen anderen Herzerkrankungen. Wie die Herzstiftung informiert, können heute über 90 Prozent der betroffenen Kinder das Erwachsenenalter erreichen. Damit ist mit den EMAH in Deutschland im Grunde eine völlig neue Patientengruppe entstanden, die weiterhin wächst.

Eine erfolgreiche Behandlung als Kind entspricht aber nicht zwangsläufig einer Heilung. Noch viele Jahre später kann es zu teils lebensbedrohlichen Verschlechterungen kommen, die für Betroffenen selbst nicht immer wahrnehmbar sind, da sie sich oft schleichend entwickeln. Nur durch regelmäßige Kontrolluntersuchungen bei EMAH-Spezialisten können solche Komplikationen rechtzeitig ausgemacht werden.

 

© stock.adobe.com, Dedraw Studio
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Mangel an Experten
Die Deutsche Gesellschaft für Pädiatrische Kardiologie und Angeborene Herzfehler (DGPK) zählt in Deutschland circa 180 EMAH-zertifizierte Kardiologen. Mehr als 150 davon sind Kinderkardiologen, hauptsächlich arbeiten diese in überregionalen EMAH-Zentren, Schwerpunktpraxen oder -Kliniken. In Reha-Kliniken fehle ihre Expertise dadurch zurzeit.
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Wenn Überleben zur Glückssache wird

Zu oft übersehen: die seltenen Krebserkrankungen

Berlin (pag) – Zwar werden neue Fortschritte in der Onkologie kontinuierlich vermeldet, aber gerade bei den seltenen Krebserkrankungen ist die Situation immer noch äußerst unbefriedigend. Auf dem Kongress Vision Zero tauschen sich Expertinnen und Experten kürzlich über Defizite und Vorbilder aus. Patientenvertreter Markus Wartenberg hält fest: „Da gibt es ganz viel, was wir in den nächsten Jahren besser machen müssen.“

Annährend jeder vierte neue Krebspatient erkrankt hierzulande an einer seltenen Krebsform. Das sind rund 120.000 Neuerkrankungen pro Jahr. Das Spektrum umfasst über 200 Diagnosen. Ein entscheiden-der Unterschied zwischen den häufigen und seltenen Krebsarten besteht hinsichtlich der Fünf-Jahres-Überlebensrate. „Mit 47 Prozent ist diese bei Rare Cancer signifikant schlechter als bei Common Cancer mit 65 Prozent“, berichtet Prof. Bernd Kasper bei Vision Zero.

© istockphoto.com, Sarawut
© istockphoto.com, Sarawut.

Netzwerke helfen

„Signifikant schlechtere“ Überlebensrate: Prof. Bernd Kasper © Deutsche Sarkom Stiftung
„Signifikant schlechtere“ Überlebensrate: Prof. Bernd Kasper © Deutsche Sarkom Stiftung

In seinem Impuls stellt der Ärztliche Geschäftsführer des Mannheim Cancer Centers die Herausforderungen seltener Krebserkrankungen am Beispiel der Sarkome dar. Dabei handelt es sich um seltene, bösartige Tumore, die vom Bindegewebe, Knochen und Muskeln ausgehen können. Genaue Zahlen zu Prävalenz und Inzidenz gibt es in Deutschland nicht, Experten gehen von bis zu 6.000 Fällen pro Jahr aus. Kasper weist auf die große Heterogenität dieser Krebsform hin: Es gebe 175 Subgruppen und -typen mit jeweils ganz unterschiedlichen Behandlungsstrategien. Rezidive könnten sogar noch nach 20 Jahren auftreten.
Trotz schwieriger Ausgangslage kann Kasper von einigen Erfolgen berichten: Mittlerweile existieren rund 20 zertifizierte Sarkom-Zentren, auch eine S3-Leitlinie gibt es. Auf europäischer Ebene haben sich zudem eine Reihe von Netzwerken zu seltenen Krebserkrankungen etabliert. Der Onkologe nennt unter anderem RareCareNet und Rare Cancers Europe. Als jüngste Initiative hebt er die 20 European Reference Networks (ERN) hervor. Davon kümmern sich vier um das Thema Krebs, das ERN EURACAN fokussiert sich auf seltene solide Krebsarten im Erwachsenenalter. Solche Netzwerke seien wichtig, um Informationen, aber auch Proben auszutauschen, heißt es auf der Veranstaltung.

„Späte und falsche Diagnosen“: Patientenvertreter Markus Wartenberg © Deutsche Sarkom Stiftung
„Späte und falsche Diagnosen“: Patientenvertreter Markus Wartenberg © Deutsche Sarkom Stiftung

Späte und falsche Diagnosen

Patientenvertreter Markus Wartenberg, Vorstand Deutsche Sarkom Stiftung, bedauert, dass der Schwung von der europäischen Ebene nicht in Deutschland angekommen zu sein scheint. Die von ihm vorgetragene Liste an Defiziten ist lang: „Wir sehen vor allem späte und falsche Diagnosen“, zum Teil seien die Patienten vier bis sechs Monate oder noch länger unterwegs. Es fehle die „Awareness“ bei den Erstbehandlern, dass Schwellungen etwas Bösartiges sein könnten. Probleme gebe es auch in der Pathologie, so Wartenberg, der den Anteil falscher Diagnosen auf 20 Prozent beziffert.
Stichwort Therapie: Probleme bereiten gerade in der Anfangsphase falsch durchgeführte Behandlungen und Biopsien sowie Operationen, die nicht von Experten durchgeführt werden. Wartenberg kritisiert insbesondere, dass nur maximal 40 Prozent der Patienten an zertifizierten Zentren behandelt werden. Die meisten würden dort viel zu spät landen, nach dem Motto: „Wenn nichts mehr hilft, hilft vielleicht ein Sarkomzentrum.“ Die Folge: Den Betroffenen werden Spezialwissen und -verfahren sowie klinische Studien vorenthalten. Hinzu komme ein Mangel an innovativen Therapien und an organisierten Daten- und Gewebesammlungen, so der Patientenvertreter.

Keine zweite Chance

Aus Perspektive der Betroffenen prangert Wartenberg an, dass die bisherigen Erfolge vor allem auf Einzelinitiativen basierten, die Krebs-Community und die Politik hätten organsiert bisher zu wenig getan. Beispielhaft nennt er den nationalen Krebsplan, der seltene Formen nicht berücksichtige. Er fordert daher mehr Verbund, mehr Zusammenarbeit: „Es kann nicht sein, dass bei Patienten mit seltenen Krebserkrankungen das Überleben zur Glückssache wird.“ Je nachdem, wo sie zuerst behandelt werden, falle die Prognose günstiger oder weniger günstig aus. „Der erste Behandlungsschritt hat keine zweite Chance“, ergänzt Prof. Angelika Eggert, Direktorin der Klinik für Kinderonkologie und -hämatologie der Charité Berlin. Wartenberg fordert eine Multi-Stakeholder-Initiative für die seltenen Krebsarten, eine nationale Strategie oder einen Aktionsplan, „um das ganze wirklich voranzutreiben“.

Eine Blaupause könnte die onkologische Pädiatrie sein, von der Privat-Dozentin Dr. Ines Brecht, Universitätsklinikum Tübingen, auf dem Kongress berichtet. Man habe effektive Strukturen und ein enges Netzwerk aufgebaut, die als vorbildliches Modell für den Umgang mit seltenen Tumoren dienen könnten, so die Fachärztin für Pädiatrische Onkologie und Hämatologie. Durch kontinuierliches Sammeln von Daten und Proben sei es gelungen, die Evidenz für Behandlungen konsequent zu verbessern. Als Beispiel nennt sie die Heilungsraten bei Leukämie, die in den 70er- und 80er-Jahren bei bis zu 40 Prozent lagen. Jetzt beträgt die Rate über 90 Prozent – „und zwar langfristig mit wenig Nebenwirkungen“, berichtet Brecht. Stolz ist die Pädiaterin auch darauf, dass 90 Prozent der jungen Patienten in klinischen Studien und Registern eingeschlossen sind. „Davon sind wir im adulten Bereich meilenweit entfernt“, sagt Sarkom-Experte Kasper. Von den zertifizierten Zentren werde gefordert, dass gerade einmal fünf Prozent der Patienten in Studien eingeschlossen sind.

Trotz beeindruckender Erfolge müssen aber auch in der Kinderonkologie noch einige Herausforderungen gemeistert werden. Brecht spricht beispielsweise von Datenschutzregularien, „die uns erdrücken.“ Sie verlangt zu dem Thema eine ethische Debatte, in die auch Patienten eingeschlossen werden. Die Klinikerin fragt: „Ist es moralisch, den Datenschutz so wichtig werden zu lassen, dass Patienten nicht mehr am medizinischen Fortschritt teilhaben?“

RCT oder anders denken?
Stichwort Studien: In der onkologischen Pädiatrie habe man im Rahmen von randomisierten kontrollierten Studien (Randomized controlled trials, RCT) Standardtherapien gegeneinander verglichen und so einen „soliden Fortschritt“ erzielt, berichtet Brecht. Sie sagt aber auch, dass man bei besonders seltenen Tumoren anders denken müsse. Unter europäischen Forschern gelte daher: „If you work on frequent cancers, do randomised trials. If you work on rare cancers, find friends.“ berichtet PD Dr. Ines Brecht vom Universitätsklinikum Tübingen.

Jeder darf alles?
Der Onkologe Prof. Peter Reichardt kritisiert, dass jeder Arzt Erwachsene mit seltenen Krebsbehandlungen behandeln dürfe. Das Motto laute: „Jeder glaubt, das kriegen wir schon hin.“ Der Leiter des Sarkomzentrums Berlin-Brandenburg am Helios Klinikum Berlin-Buch befürwortet daher regulierende Eingriffe, die eben dies verhindern. Reichardt wird auf dem Kongress deutlich: „Dass ein approbierter Arzt in der Medizin, von Mindestmengen abgesehen, fast alles darf, auch jedes Medikament verordnen, ist in jeder anderen Branche undenkbar.“

 

Update dringend erforderlich

Warum das Patientenrechtegesetz in die Jahre gekommen ist

Berlin (pag) – Elf Jahre alt ist mittlerweile das Patientenrechtegesetz. Viele Expertinnen und Experten halten es schon längst für überholungsbedürftig. Bei einer kürzlich stattge-fundenen Konferenz der Grünen-Bundestagsfraktion werden konkrete Reformoptionen diskutiert. Deutlich wird auch: Wenn es um Fehlervermeidung geht, spielt die Verteilung von Ressourcen eine entscheidende Rolle.

 

Die beiden zuständigen Bundesministerien für Gesundheit und Justiz stellen noch für dieses Jahr eine Änderung des Patientenrechtegesetzes in Aussicht. Auf der Konferenz spricht sich Dr. Martin Danner, Bundesgesch.ftsführer der BAG Selbsthilfe, für eine Beweislasterleichterung zugunsten der Patienten aus. Problematisch sei, dass viele Prozesse über die strafrechtliche Schiene ablaufen. Dabei müsse ein mutmaßlich Geschädigter in der Regel den Kunstfehler, den entstandenen Schaden und den direkten Zusammenhang zwischen beidem belegen: „Ein solcher Nachweis ist naturgemäß nur sehr schwer zu erbringen.“

 

© pag, Weger
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Vertragsrecht als Lösungsansatz

Eine Lösung wäre, das Patientenrechtegesetz mit Blick auf das Vertragsrecht auszurichten. Geht es gerichtlich nicht um ein mögliches Delikt des Arztes, sondern „nur“ um die Verletzung von Vertragspflichten, greifen die beweisrechtlichen Grundlagen des Paragrafen §287 der Zivil-Prozessordnung (ZPO). Hier müsste ein Patient „nur“ noch die Pflichtverletzung beweisen. Außerdem müsse bei Delikten ein Fehler mit „an Sicherheit grenzender  Wahrscheinlichkeit“ nachgewiesen werden, im Vertragsrecht ist dagegen eine richterliche Würdigung des Geschehens entscheidend. Für Danner wäre ein expliziter Verweis im Rechtsparagrafen §630a des Bürgerlichen Gesetzbuch, der die vertragstypischen Pflichten beim Behandlungsvertrag regelt, auf den §287 der ZPO sinnvoll, um klarzustellen, welche beweisrechtlichen Grundlagen gelten. Das könne eine sinnvolle Erweiterung des  Patientenrechtegesetzes sein.
Der Fachanwalt für Medizinrecht Jörg Heynemann sieht ein ähnliches Problem durch die Unterscheidung von Fehlern. Bei einfachen Behandlungsfehlern liegt die komplette Beweislast beim Patienten, nur bei groben Behandlungsfehlern – also einem eindeutigen Verstoß gegen die geltenden Richtlinien, der aus objektiver Sicht nicht mehr verständlich erscheint – muss der beschuldigte Arzt nachweisen, keinen Fehler begangen zu haben. Laut Heymann wüssten medizinische Gutachter vor Gericht genau, welche Formulierungen sie nutzen könnten, damit ein Fall als nur einfacher Behandlungsfehler gilt. Er spricht in diesem Zusammenhang von Gutachtern als „Richter in Weiß“. Eine Absenkung der Beweislast auf „überwiegende Wahrscheinlichkeit“ bei einfachem Behandlungsfehler sei sinnvoll. Das sei für die Patientenanwälte der zentrale Kern, der bei einer künftigen Gesetzesnovellierung angegangen werden müsse. Einig sind sich alle Experten darüber, dass die enormen Verfahrenszeiten und die Anstrengungen,
die für eine Verfahrenserzwingung notwendig sind, abgebaut werden müssen.

Warnung vor „Defensivmedizin“

Laut der Trierer Strafrechtsprofessorin Prof. Carina Dorneck hat das Patientenrechtegesetz den „Status quo der Rechtsprechung von 2013 versteinert“. Die vorgeschlagenen Änderungen sieht sie trotzdem kritisch. Bei Beweiserleichterungen befürchtet sie Rechtsunsicherheit als Folge. Müssten Ärzte Sorge haben verklagt zu werden, könnten sie künftig nur noch risikolose Eingriffe durchführen oder zu Überbehandlung tendieren, um sich abzusichern. Sie spricht von einer „Defensiv-medizin“. Außerdem sieht sie unzumutbare Dokumentationspflichten auf Behandler zukommen, wenn diese in der Pflicht seien, selbst zu beweisen, dass sie keine Fehler gemacht haben.
Aus ihrer Sicht ist das Thema Beweislast nicht der richtige Ansatzpunkt, vielmehr solle man mehr für die Prävention tun – dafür brauche es an erster Stelle eine transparente Fehlerkultur: „Wer persönlich haftet, kann sich nicht offen und selbstkritisch zu Fehlern äußern.“ Das Hauptproblem sei aber die Überlastung des Gesundheitssystems an sich. Erwiesenermaßen seien Zeitmangel und Stress die größten Risikofaktoren für Fehler. „Was in der heutigen Medizin am meisten fehlt, ist Zeit.“

 Dr. Martin Danner (Bundesgeschäftsführer Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe) und Prof. Dr. Carina Dorneck (Uni Trier), © pag, Weger
Dr. Martin Danner (Bundesgeschäftsführer Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe) und Prof. Dr. Carina Dorneck (Uni Trier) © pag, Weger
Jörg Heynemann (Fachanwalt Medizin- und Versicherungsrecht) und Claus Fahlenbrach (Referatsleiter Versorgungsqualität AOK-Bundesverband), 
© pag, Weger
Jörg Heynemann (Fachanwalt Medizin- und Versicherungsrecht) und Claus Fahlenbrach (Referatsleiter Versorgungsqualität AOK-Bundesverband) © pag, Weger

Never Structures und Never Procedures

Das zweite große Thema der Konferenz lautet „Behandlungsverantwortung versus Organisationsverantwortung“. Dr. Charlotte Hölscher von der Fachstelle Patientensicherheit des Medizinischen Dienstes (MD) sieht ein Register für Never Events (NE) als ersten wichtigen Schritt für bessere Fehlerkultur. Die Datenlage zum Thema sei unzureichend, Schätzungen zufolge würden nur drei Prozent der Schadenfälle verfolgt. Eine Meldepflicht für NE im Patienten-rechtegesetz wäre auch zum Erkennen systemischer Probleme notwendig. „Oftmals stehen nach einem Schaden Personen – wie der behandelnde Arzt – im Haftungsfokus, die präventiv gar keinen Einfluss auf die Fehlerkette haben“, betont Hölscher. Die eigentlichen organisatorischen Probleme, die ursächlich für einen Fehler seien, seien schwer greifbar. Danner von der BAG Selbsthilfe fordert, dass parallel zu NE über Never Structures und Never Procedures – also unbedingt zu vermeidende Organisationsstrukturen und Verfahrensabläufe – nachgedacht werden müsse.
Um organisatorische Verantwortungen erfassen zu können, müssten im Patientenrechtegesetz laut Dorneck Einsichtsrechte erweitert werden. Es reiche nicht, nur die eigene Patientenakte zu bekommen, sondern man müsste auch Hygienepläne oder etwa Schichtplanungen einsehen können.

Erlösgesteuerte Strukturen als Fehlerquelle

Einig sind sich alle Konferenzteilnehmer, dass man, um Behandlungsfehler wirklich aktiv zu vermeiden, an den Grundlagen des Gesundheitssystems arbeiten müsse. Dahinter steht die Frage, wer über die Verteilung von Ressourcen entscheidet. Laut den Experten Prof. Karl Beine, Facharzt für Psychotherapie, Prof. Karsten Scholz, Leiter des Dezernat Recht der Bundesärztekammer, und dem Richter Dr. Tim Neelmeier sorge die erlösgesteuerte Ausrichtung des Systems – vor allem bei Krankenhäusern – zwangsläufig zu fehleranfälligen Strukturen. Eine Entökonomisierung des Gesundheitswesens sei dringend erforderlich. Wie die Grünen-Abgeordnete Linda Heitmann zusammenfasst, brauche es für eine richtige Fehlerkultur auch betriebswirtschaftliche Anreize, denn das aktuelle DRG-System begünstige Fehler. 

 

Fehler schon vor Behandlungsstart?
Dr. Tim Neelmeier, Vorsitzender Richter am Landgericht Itzehoe, sieht zwei Fehlertypen. Erstens: Während eines Eingriffs geht etwas schief. Zweitens: Schon vor Start besteht ein erhöhtes Risiko, etwa bei viel zu dünner Personalbesetzung. Beispielhaft seien Narkose-Todesfälle in kleinen Praxen, in denen MFAs gleichzeitig den Praxistresen besetzen, Telefondienst haben und Patienten im Aufwachraum überwachen. Ursächlich sieht er „Fatale Anreizstrukturen, weil man wirtschaftlich sein muss.“ Pflichtverletzungen, bei denen die Behandlung gar nicht erst hätte begonnen werden dürfen, sollten für ihn künftig explizit strafbar sein.

„Uns war ein Stimmungsbild aus der Gesellschaft wichtig“

Lena Kümmel über gesundheitspolitische Bürgerbeteiligung im Ostalbkreis

Aalen (pag) – Im Sommer 2023 beschäftigen sich 51 zufällig ausgewählte Bürger damit, wie eine zukunftsfähige Gesundheitsversorgung aussehen könnte. In einem Bürgerforum tauschen sie sich über das Zukunftskonzept der Kliniken Ostalb aus. Das Ergebnis: 26 konkrete Empfehlungen an den Kreistag. Hintergründe, Ziele und Herausforderungen erläutert die Projektverantwortliche, Lena Kümmel, im Interview. Sie hat die Bürgerbeteiligung von Anfang an begleitet.

Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Bürgerforums im Ostalbkreis, die sich mit Klinikstrukturveränderungen auseinandergesetzt haben. © Kommunikationsbüro Ulmer GmbH

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Der Ostalbkreis initiierte im vergangenen Jahr eine Bürgerbeteiligung in der regionalen Gesundheitspolitik. Um welches Thema ging es dabei?

Kümmel: Ursprünglich um unsere Klinikstruktur, konkret um die Zusammenlegung von mehreren Standorten. Doch das Interesse der Bürger reichte weit darüber hinaus. Ein wichtiges Anliegen war ihnen auch die ambulante ärztliche Versorgung. Das spiegelt sich in den Empfehlungen der Bürger wider: Sie beziehen sich einerseits auf Klinikstrukturveränderungen, andererseits auf die gesamte Gesundheitsstruktur im Landkreis. Außerdem gibt es landes- und bundespolitische Empfehlungen.

Warum entschied sich der Landrat für diesen Schritt?

Kümmel: Unser Landrat Dr. Joachim Bläse nahm selbst an einem Zufallsbürgerforum teil. Der Prozess und die Ergebnisse beeindruckten ihn so stark, dass er dieses Format im Rahmen des Klinikstrukturierungsprozesses aufgriff. So kam unser erster Versuch, ein solches Zufallsbürgerforum im Gesundheitssektor auszuprobieren, ins Rollen.

Bekamen Sie dafür externe Unterstützung?

Kümmel: Ja, bei der zuständigen Stelle für Bürgerbeteiligung im Staatsministerium Baden-Württemberg. Bei der Evaluation stand uns Prof. Frank Brettschneider von der Universität Hohenheim zur Seite.

Wie fand die Beteiligung konkret statt?

Der Strukturwandel im Krankenhaussektor stellt viele Kommunen und Landkreise vor erhebliche Herausforderungen. Das trifft auch auf den Ostalbkreis zu. © stock.adobe.com, upixa

Kümmel: Wichtige Leitfragen waren für uns: Wo im Prozess holen wir die Bürger ab? Welche Entscheidungen gingen bereits voraus? In unserem Fall bestand der erste Schritt darin, die Bürger darüber aufzuklären, warum es notwendig ist, den Klinikbereich umzustrukturieren. Über die Gründe – etwa personelle, finanzielle und strukturelle Schwierigkeiten – informierten wir sie zuerst. Das geschah sowohl in Präsenz als auch im Rahmen von Videokonferenzen. In Bürgerdialogen sprachen Experten über die mannigfaltigen Problemfelder.

Wer war das zum Beispiel?

Kümmel: Neben dem Landrat vor allem Klinikmitarbeiter oder der Klinikvorstand. Wir investierten insbesondere deshalb in die Informationsbereitstellung, weil erst mit einem gewissen Problemverständnis Lösungsansätze erarbeitet werden können.

Mit welchen Herausforderungen waren Sie konfrontiert?

Kümmel: Herausfordernd waren im Zufallsbürgerforum insbesondere emotionale Themen, dann wurde die Debatte merklich schwieriger. Das nahmen wir insbesondere bei zwei Bereichen wahr.

Bei welchen?

Kümmel: Bei der Notfallversorgung und der Geburtshilfe. Die Bürger trieb die Frage um, an wen sie sich im Notfall wenden können, wenn zum Beispiel die Notaufnahme nicht mehr vor Ort ist. Bei dieser Frage waren die Beteiligten teilweise sehr besorgt. Zwar versuchten sie, sich von den Fakten leiten zu lassen, aber an anderen Stellen gelang ihnen das besser. Viel Verständnis hatten die Bürger beispielsweise, wenn es um Qualitäts- oder Personalvorgaben ging. Für sie war es gut nachvollziehbar, dass Veränderungen für gute Strukturen und Arbeitsbedingungen notwendig sind.

Wie sind Sie dabei vorgegangen?

Kümmel: Wir haben weiterhin versucht, die Fakten darzustellen und zu erklären, warum kein Weg an Strukturveränderungen vorbei geht. Wir achteten außerdem darauf, den Beteiligten verschiedene Perspektiven aufzuzeigen. Dazu ließen wir etwa Sprecher aus Bürgerinitiativen zu Wort kommen. Statt uns in Details zu verlieren, lenkten wir den Fokus auf das große Ganze. Das konnten die Bürger auch greifen und die Ergebnisse sprechen für sich: Letztlich lautet ihre Empfehlung, ein Zentralklinikum zu bauen. Das deckt sich mit der Entscheidung des Kreistages. Wichtig war für uns aber natürlich auch, die Emotionen und Bedenken der Menschen wahr- und mitzunehmen.

Wie sieht es mit der Berücksichtigung der Bürgerempfehlungen bei den politischen Entscheidungsfindung aus?

Kümmel: Bei uns ist der Kreistag das zuständige Entscheidungsgremium, weil sich die Kliniken in der Trägerschaft des Landkreises befinden. Die Herausforderung besteht darin, dass bei der Neuorganisation der Klinikstruktur viele unterschiedliche Interessen zusammenkommen: Jeder Bürgermeister, jede Stadt hat eigene Vorstellungen. Es ist schwierig, ihnen zu erklären, dass sich ihr Klinikum vor Ort verändern wird.

Im Osten Baden-Württembergs gelegen, grenzt der Ostalbkreis an den Freistaat Bayern.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Kümmel: Zu Beginn des Prozesses erhielten wir zuhauf Leserbriefe und Bürgerinitiativen, die sich allesamt gegen Klinikstrukturveränderungen aussprachen. Uns war es daher wichtig, ein Stimmungsbild aus der Gesellschaft zu bekommen, das sich die Situation neutral und unvoreingenommen ansieht. Mit unserer alters- und geschlechtsheterogenen Gruppe haben wir genau diese Möglichkeit bekommen. Durch die Empfehlungen der Bürger fiel dem Kreistag die Entscheidung für einen zentralen Klinikstandort leichter. In anderen Landkreisen sieht man immer wieder, dass es nur knappe Mehrheiten für Strukturänderungen im Klinikbereich gibt. In unserem Fall gab es nur eine Enthaltung und eine Gegenstimme bei insgesamt 73 Kreisräten. Ein eindeutiges Votum. Der Landrat ist davon überzeugt, dass die Bürgerbeteiligung einen relevanten Beitrag zu dieser Zustimmung geleistet hat.

Hat sich die Bürgerbeteiligung auf weitere Versorgungsbereiche ausgewirkt?

Kümmel: Im Landkreis haben wir eine angespannte hausärztliche Versorgungssituation, insbesondere durch eine teilweise Unterversorgung bedingt. Auch den Bürgern fällt auf, dass es an Personal und Nachwuchs fehlt. Lange Wartezeiten sind nur eine der Folgen. Auch im Bürgerforum war spürbar: Es muss sich etwas an den Strukturen ändern, wenn wir eine gute Versorgung im ländlichen Raum sichern wollen. Vielen ist mittlerweile bewusst, dass sich vielleicht nicht in jedem kleinen Dörfchen ein Hausarzt halten kann, sondern Verbünde in Städten zukunftstauglicher sind. Das ist in der Diskussion offensichtlich geworden.

Was sind die wichtigsten Lehren aus der Bürgerbeteiligung?

Kümmel: Gerade im Gesundheitssektor bietet diese Herangehensweise immenses Potenzial. Es handelt sich um einen Bereich, in dem zwar viele Meinungen kursieren, aber grundsätzlich zu wenig Fakten bekannt sind. Ich denke dabei etwa an die Zuständigkeitsbereiche. Ein Beispiel aus meinem Alltag: Häufig rufen Bürger im Landratsamt mit der Bitte an, dass wir ihnen einen Hausarzttermin vermitteln. Da bleibt mir nichts anderes übrig, als sie an die Kassenärztliche Vereinigung zu überweisen.

Passiert das öfter?

Kümmel: Das ist kein Einzelphänomen. Dem Bürger fehlt es häufig an Orientierung. Offen bleiben Fragen wie: Wer trägt die Verantwortung, wo wird mir geholfen oder wo kann ich mich beschweren, wenn etwas nicht gut läuft? Da so viel Halbwissen und Gefühle kursieren, ist die Bürgerbeteiligung eine sehr hilfreiche Möglichkeit, um in den Dialog zu gehen und proaktiv zu kommunizieren. Selbst wenn der Zeit- und Arbeitsaufwand dafür hoch ist, lohnt es sich. Dafür ziehen Bürger und Experten an einem Strang und gewinnen über die Empfehlungen hinaus eine neue Rolle: Sie werden zu Multiplikatoren in ihrer Nachbarschaft, bei Freunden und im familiären Umfeld. Das hat einen hohen Mehrwert.

Ist diese Beteiligungsform auch für andere gesundheitspolitische Bereiche beziehungsweise Akteure denkbar? Gibt es bereits Anfragen?

Kümmel: Aus meiner Sicht ist die Beteiligung in vielen anderen Bereichen sinnvoll. Ich denke beispielsweise an den ambulanten ärztlichen Sektor. Die Eignung leitet sich immer über das Ziel ab: Warum würde man sich hier die Unterstützung für Entscheidungen oder Ideen von Bürgern wünschen? Bei uns ist zwar aktuell nichts weiter geplant, aber die Hebel sind in Bewegung. Wir wollen jetzt ein neues Gesundheitszentrum errichten. Wenn es an die konkrete Planung geht, kann ich mir gut vorstellen, dass wir wieder die Bürger vor Ort zu ihren Wünschen und Ideen befragen. Auch um die Akzeptanz für das neue Zentrum zu erhöhen.

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© pag, Fiolka

Zur Person
Lena Kümmel hat Politikwissenschaft und Soziologie studiert, arbeitete zwei Jahre im Europäischen Parlament und ist seit 2019 im Landratsamt Ostalbkreis als persönliche Referentin des Landrats tätig. Seit 2021 ist sie Referentin für die stationäre und ambulante Versorgung im Landkreis und unterstützt den Zukunftsprozess der Kliniken Ostalb. Begleitend studiert sie Gesundheitsmanagement im Master.
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Bürgerbeteiligung in der Gesundheitspolitik

Wie unbequeme Reformprozesse neu gedacht werden müssen

Berlin (pag) – Die Versorgungslandschaft befindet sich im Wandel, der bisherige Standard wird nicht überall aufrechtzuerhalten sein. Politikerinnen und Politiker müssen sich unpopulären Entscheidungen stellen, die für Unruhe und Skepsis in der Bevölkerung sorgen. Ist die Bürgerbeteiligung ein für die Gesundheitspolitik geeignetes Modell, um Kritik und Protest in konstruktiven Aktivismus umzuwandeln? Eine Bestandsaufnahme.

„Wir erkennen jetzt, dass Bürgerbeteiligung innerhalb des Gesundheitssystems nötig ist und dazu beitragen wird, Reformen innerhalb des Systems zu beschleunigen, konkurrierende Interessen auszugleichen und die Versorgungsqualität zu verbessern“, lautet die zentrale Schlussfolgerung einer vom Bundesgesundheitsministerium (BMG) geförderten und von der Universität Bielefeld durchgeführten Tagung. Stattgefunden hat die Veranstaltung zu Bürgerbeteiligung im Gesundheitswesen bereits im Jahr 1999. Der Gedanke ist also bereits ein Vierteljahrhundert alt. Getan hat sich seitdem nicht viel. Während die Patientenbeteiligung längst im System etabliert ist und kürzlich 20. Jubiläum feierte, herrscht in puncto Bürgerbeteiligung weitgehend Stillstand. Zumindest in Deutschland.

Über internationale Avantgarden

Anders ist die Situation im Ausland: Als Vorreiter für gesundheitspolitische Bürgerbeteiligung gelten etwa skandinavische Länder und auch Großbritannien. „Ich selbst schaue seit vielen Jahren mit einem gewissen Neid nach Großbritannien, wo ich sehe, dass die Organisation der Interessen von Bürgern, Patienten und Konsumenten einen Reifegrad erreicht hat, von dem wir hier noch weit entfernt sind,“ konstatiert der damalige BMG-Abteilungsleiter Dr. Herrmann Schulte-Sasse auf der Tagung vor 25 Jahren. Gegenüber der Presseagentur Gesundheit nennt Prof. Frank Brettschneider von der Universität Hohenheim weitere wichtige Leuchttürme: Das österreichische Bundesland Vorarlberg mit seinen Bürgerräten, der US-amerikanische Bundesstaat Oregon mit seinen Citizens‘ Juries oder Irland mit seinen Citizens‘ Assemblies.

Ostalbkreis als Blaupause

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Brettschneider, der zu Kommunikation bei Infrastrukturprojekten forscht, ist selbst in ein gesundheitspolitisches Beteiligungsformat im Ostalbkreis in Baden-Württemberg involviert: Im Sommer 2023 tauschten sich dort 51 Bürger über die Zukunft der dortigen Gesundheitsversorgung, insbesondere die Neugestaltung der Kliniklandschaft, aus. Dem Kommunikationswissenschaftler zufolge ist das Projekt als Blaupause für andere Kreise geeignet. Die Probleme seien vergleichbar, zudem sei das Verfahren relativ unkompliziert. Brettschneider erklärt es wie folgt: „Zunächst werden die betroffenen Personengruppen identifiziert. Mit ihnen hält man alle relevanten Aspekte auf einer Themenlandkarte fest.“ Diese komme im Anschluss ins Internet, sodass die Bürger Ergänzungen vornehmen können. Im nächsten Schritt hören zufällig ausgewählte Bürger Interessengruppen und Fachleute zu den Fragestellungen an. „Dafür brauchen sie vier bis fünf Termine. Abschließend formulieren die Bürger ihre Empfehlungen an den Kreistag.“ Diese seien allerdings nicht bindend. Folge der Kreistag einzelnen Empfehlungen nicht, muss er dies jedoch begründen (Mehr über das Projekt lesen Sie im Interview mit Lena Kümmel auf der nächsten Seite).

Im Ostalbkreis hat man sich für ein Bürgerforum entschieden, um die Bevölkerung in die Neugestaltung der Kliniklandschaft einzubinden. Solche Foren eignen sich besonders, um wichtige Gremienentscheidungen durch Bürgerempfehlungen vorzubereiten, es können aber auch andere Formate gewählt werden (siehe Infokasten).

Vielleicht ist das Forum ein Indiz dafür, dass hierzulande ein Umdenken stattfindet und sich die Gesundheitspolitik stärker öffnet – als Nebeneffekt des spürbaren Reformdrucks, der die politischen Entscheidungsträger zu unbequemen Maßnahmen zwingt. Denn Beteiligung, da sind sich Wissenschaftler einig, kann die Akzeptanz in politische Entscheidungen erhöhen und das Vertrauen in demokratische Institutionen stärken. Brettschneider kann sich gut vorstellen, dass Gesundheitspolitiker künftig häufiger Bürger mit ins Boot holen. „Sie tragen auch unbequeme Maßnahmen mit, wenn sie die Gründe dafür nachvollziehen können. Dafür muss man die Bürgerinnen und Bürger aber ernst nehmen und mit ihnen sprechen“, so der Kommunikationsexperte. Entscheidend für den Erfolg sei eine Vielfalt von Lösungsalternativen statt einer singulären Vorgabe. Innerhalb eines Beteiligungsprozesses empfiehlt er bis zu drei Varianten zur Diskussion zu stellen, samt aller Vor- und Nachteile. „Zufällig ausgewählte Bürgerinnen und Bürger sind da manchmal sogar mutiger als einige Politiker, die sich von den lauten Stimmen in der Bürgerschaft beeindrucken lassen und sie für die Mehrheitsmeinung halten.“

 

Beteiligungsformate – eine Auswahl
Runde Tische kommen vor allem bei kontroversen Themen zum Einsatz. Vertreter verschiedener Interessen erarbeiten hier gemeinsame Ergebnisse. In Themen- und Fokusgruppen steht nicht die partizipatorische Natur im Vordergrund, sondern die Beratung von Entscheidungsträgern durch Bürger. Meinungsbilder aus speziellen Bevölkerungsgruppen können in Fokusgruppen besonders gut dargestellt werden. Zukunftswerkstätten ermöglichen es Bürgern, sich in Ideenfindung zu Entwicklungen und Entscheidungen einzubringen. Das Format dockt meist direkt am Lebensumfeld von Betroffenen an. Charakteristisch ist eine ausgeprägte Visionsphase. Ein Beispiel dafür ist „Neustart! Reformwerkstatt für unser Gesundheitswesen“ der Robert Bosch Stiftung.

Braucht Deutschland eine Menopause-Strategie?

Warum ein „Da müssen Sie durch“ nicht mehr angemessen ist

Berlin (pag) – Die Menopause stellt noch immer ein gesellschaftliches Tabu dar, in der Gesundheitspolitik ist sie ein weißer Fleck. Das Thema sichtbarer zu machen, ist das Ziel eines kürzlich stattgefundenen Parlamentarischen Abends, auf dem über Strategien und ideologische Grabenkämpfe diskutiert wird.

Einen Tag vor der Veranstaltung im März unterschreibt US-Präsident Joe Biden eine Verordnung zur Förderung der Gesundheitsforschung für Frauen. Es sollen unter anderem Forschungslücken zu frauenspezifischen Krankheiten und Phänomenen wie Endometriose und Menopause geschlossen werden. Vielleicht ein Zeichen, dass sich der Umgang mit den Wechseljahren wandelt. Hierzulande sind davon immerhin neun Millionen Frauen betroffen.
Die allermeisten von ihnen wissen wenig über diesen Lebensabschnitt, der bis zu zehn Jahre dauern kann. Dass die Beschwerden, die in den Wechseljahren auftreten können, sehr vielfältig und auch unspezifisch sind, macht es nicht einfacher. In der (frühen) Perimenopause können das beispielsweise Wassereinlagerungen, Schwindel und Herzrasen sein, in der Postmenopause neben den landläufig bekannten Hitzewallungen auch Gelenkschmerzen oder zunehmende Kopfschmerzen beziehungsweise Migräne. Die Symptome treten in sehr unterschiedlicher Intensität auf: Ein Drittel der Frauen hat keine oder nur minimale klimakterische Beschwerden. Zwei Drittel leiden darunter, bei der Hälfte von ihnen ist die Lebensqualität dadurch beträchtlich eingeschränkt.

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Nicht nur ein gynäkolgisches Thema

Oft können die betroffenen Frauen ihre Beschwerden nicht richtig einordnen. Und das geht offenbar nicht nur ihnen so, sondern auch vielfach den konsultierten Ärztinnen und Ärzten. Dass das Wissen in der Ärzteschaft zu diesem Thema noch ausbaufähig ist, wird während des Parlamentarischen Abends rasch deutlich. Das betrifft sowohl die Symptome als auch die zur Verfügung stehenden Therapien, mit denen die Beschwerden gelindert werden können. „Da müssen Sie durch“, ist ein Satz, den die ratsuchenden Frauen oft zu hören bekommen.
Dieser Aussage widerspricht Dr. Katrin Schaudig, Präsidentin der Deutschen Menopause Gesellschaft, auf der Veranstaltung nachdrücklich. Ein erster wichtiger Schritt ist für sie, dass sowohl Frauen als auch Ärzte wissen, was in dieser Phase passiert. Die Gynäkologin macht sich daher für eine Awareness-Kampagne stark, auch mahnt sie an, dass die ausführliche Beratung in der Arztpraxis besser honoriert werden müsse. Ein weiteres Anliegen Schaudigs ist, dass die Menopause nicht nur als gynäkologisches Thema verstanden wird, sondern dass sich auch Hausärzte und Arbeitsmediziner damit stärker beschäftigen.

Teure Ignoranz

Besonders intensiv diskutieren Politiker, Ärzte, Unternehmer und Betroffene bei dem Termin darüber, wie mit den Wechseljahren am Arbeitsplatz umgegangen wird. Eine deutschlandweite Befragung des Forschungsprojektes MenoSupport zeigt, dass es noch reichlich Luft nach oben gibt. Die wichtigsten Ergebnisse: Von den über 2.000 befragten Frauen wollen knapp 20 Prozent der über 55-Jährigen früher in Rente gehen beziehungsweise sind bereits in Rente gegangen. Knapp ein Viertel der Befragten mit Wechseljahressymptomen reduzierte bereits ihre Arbeitsstunden und knapp ein Drittel war aufgrund der Symptome krankgeschrieben oder nahm unbezahlten Urlaub. „Das können wir uns als Gesellschaft in vielerlei Hinsicht nicht leisten“, kommentiert Schaudig mit Blick auf den Fachkräftemängel diese  Produktivitätsausfälle. Bei Unternehmen wie Edeka, welche die Brisanz bereits erkannt haben, klärt sie die Belegschaft über die Wechseljahre auf.

Vorbild Großbritannien

Auf politischer Ebene passiert dagegen derzeit noch nicht besonders viel. Im Koalitionsvertrag ist das Thema ausgespart. Die Union hat allerdings eine Kleine Anfrage zu den „Auswirkungen der Menopause auf Frauen“ im Oktober vergangenen Jahres gestellt. Begleitet wurde diese von einem Statement zum Weltmenopausetag am 18. Oktober, das Dorothee Bär und die Berichterstatterin der CDU/CSU-Bundestagfraktion für geschlechterspezifische Gesundheit, Diana Stöcker, unterzeichnet haben. 
Letztere verlangt, dass die betroffenen Frauen mit all den Einschränkungen gesundheitlicher, aber in Folge auch wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Art, nicht allein gelassen werden dürften. Die Politikerin sieht mehr Forschungsbedarf, „auch um die Frauen aus der Stigmatisierung zu holen und zudem Arbeitgeber zu sensibilisieren, wie dies bereits in anderen europäischen Ländern der Fall ist“.
Wenn über internationale Vorbilder diskutiert wird, richtet sich der Blick meist nach Großbritannien. Dort wurde im Februar 2022 eine Menopause-Taskforce etabliert. Diese adressiert im Wesentlichen folgende Bereiche: Gesundheitsversorgung, Bildung und Aufmerksamkeit für die Bevölkerung und Gesundheitsberufe, Unterstützung am Arbeitsplatz sowie Forschung. Ob eine so umfassende Strategie auch hierzulande auf die Beine gestellt werden kann, bleibt abzuwarten.

 

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Hormonersatztherapie (HRT) – ja oder nein?
Kein Thema wird im Kontext der Wechseljahre so kontrovers diskutiert wie die Hormonersatztherapie. Eine ideologische Lagerbildung kritisiert Schaudig, die fordert: „Wir müssen weg kommen von dem Schwarz-Weiß-Denken.“ Eine Gruppe fordere Hormone für alle, während die andere den Einsatz grundsätzlich ablehne. Eine Hormonersatztherapie „mit der Gießkanne“ verurteilt die Gynäkologin, nicht aber bei Frauen mit einem Leidensdruck, denn die Risiken seien „relativ niedrig“. Wichtig sei jedoch eine sorgfältige Aufklärung.
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Weiterführende Links

Department of Health & Social Care (UK), Policy paper, Women‘s Health Strategy for England, Updated 30 August 2022, Website

Prof. Dr. Andrea Rumler, Julia Memmert, HWR Berlin, Forschungsprojekt MenoSupport, Ergebnisse der ersten deutschlandweiten Befragung zum Thema Wechseljahre am Arbeitsplatz, Stand 04/2024, Präsentationsfolien, PDF, 45 Seiten

 

Inklusives Gesundheitswesen – ein langer Weg

Berlin (pag) – „Ein inklusives Gesundheitssystem für alle“ lautet der programmatische Titel einer Veranstaltung von gesundheitsziele.de, dem Aktionsbündnis Patientensicherheit sowie der Gesellschaft für Versicherungswissenschaft und -gestaltung. Jürgen Dusel, Behinderten-Beauftragter der Bundesregierung, attestiert dort dem Gesundheitssystem in Sachen Inklusion ein „Qualitätsproblem“ und kritisiert insbesondere die mangelnde Barrierefreiheit von Arztpraxen.

Dusel verlangt von der Regierung, den Auftrag aus dem Koalitionsvertrag endlich umzusetzen. Damit ist der angekündigte Aktionsplan für ein diverses, inklusives und barrierefreies Gesundheitswesen gemeint. Außerdem sollten bestehende Problemlagen nicht auf die „lange Bank“ geschoben werden. Konkret nennt er die Barrierefreiheit von Arztpraxen, die durch eine Änderung im Behindertengleichstellungsgesetz forciert werden soll, und die außerklinische Intensivpflege.
Der Beauftragte für die Belange von Menschen mit Behinderungen erinnert daran, dass Deutschland vor knapp 15 Jahren die UN-Behindertenrechtskonvention ratifiziert hat. Diese beschreibe „eigentlich eine Selbstverständlichkeit“ – nämlich, dass Menschen mit Behinderungen im gleichen Maße Zugang zum Gesundheitssystem haben sollen wie Menschen ohne Behinderungen. Dass die Realität hierzulande anders aussieht, zeigt die Begutachtung des UN-Fachausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen: Gerade das Gesundheitssystem musste Dusel zufolge harsche Kritik vom Ausschuss einstecken. Angeprangert wurde die Diskrepanz zwischen guter finanzieller Ausstattung und mangelnder gleichberechtigter Teilhabe.

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Kein „nice to have“

Dusel geht davon aus, dass drei Viertel der Praxen nicht barrierefrei sind. Beispiel Gynäkologie: Dem Regierungsbeauftragten zufolge gibt es in Deutschland lediglich zehn Praxen, deren Behandlungssetting barrierefrei ausgestattet ist. Die Folge: Frauen im Rollstuhl nehmen seltener an Vorsorgeuntersuchungen teil. Eine WHO-Studie hat ermittelt, dass Menschen mit Behinderungen weltweit eine 20 Jahre geringe Lebenserwartung haben – und zwar nicht aufgrund ihrer Behinderung, sondern aufgrund von Zugangsbarrieren zum Gesundheitswesen. „Diesen Zustand können wir nicht akzeptieren und nicht tolerieren“, appelliert Dusel. Es gehe bei Teilhabe nicht um ein „nice to have, sondern um die Umsetzung von Menschenrechten“. Aufgabe des Staates sei es nicht nur, das Recht zu setzen, sondern auch dafür zu sorgen, dass es bei den Menschen ankommt.
Kritisch fällt auf der Veranstaltung auch die Bilanz von Bundesärztekammerpräsident Dr. Klaus Reinhardt aus. „Passabel“ sei die Inklusion von Menschen mit sensorischer Behinderung wie Blind- oder Taubheit. Etwas besser findet er die Lage bei der Barrierefreiheit, wo Reinhardt eine gewisse Sensibilisierung beobachtet hat. Am allerwenigsten gelinge jedoch die Inklusion im Sinne von selbstständiger Partizipation am Gesundheitswesen von Menschen mit einer Lernbehinderung oder einer geistigen Behinderung. „Da haben wir wirklich noch viel Potenzial und sollten uns mehr Mühe geben“, findet der Mediziner.

Gesundheitsversorgung: Menge statt Qualität?

Berlin (pag) – Eine Umfrage im Auftrag der Siemens Betriebskrankenkasse (SBK) offenbart ein zwiespältiges Bild: Die meisten Menschen sind mit der medizinischen Versorgung in Deutschland zufrieden, doch ein nicht unerheblicher Teil erlebt Defizite. Vorständin Dr. Gertrud Demmler mahnt weitreichende Reformen an, die die Ressourcen des Gesundheitswesens entlasten. Ein Problem: Aktuell sei das System auf Menge und nicht auf Qualität ausgerichtet.

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Geld, Fachkräfte und Materialien fließen Demmler zufolge vor allem in aufwendige Therapien und Angebote, die einen hohen Ressourcenverbrauch aufweisen. Dieser Mechanismus schaffe keine Anreize, nachhaltig zu handeln. Die Kassenchefin fordert: „Dieser mengenbasierte Verteilungsmechanismus sollte zu einem qualitätsbasierten weiterentwickelt werden.“ Profitieren sollten insbesondere Therapien, die aus Patientensicht einen hohen und langfristigen Nutzen haben. Voraussetzung dafür sei, die Qualität von Behandlungen über die Erfahrungen der Versicherten zu messen und die Ergebnisse transparent zur Verfügung zu stellen. Demmler ist überzeugt, dass auf diese Weise eine neue Qualitätsorientierung erreicht werde, welche wirksamere Therapien fördert. „Zudem sparen wir wertvolle Ressourcen ein und entlasten das medizinische Personal.“

Probleme beim Zugang

Die repräsentative Untersuchung, die das Marktforschungsinstitut YouGov im Auftrag der SBK unter 2.022 Teilnehmenden ab 18 Jahren durchgeführt hat, zeigt ein geteiltes Bild: Die meisten Menschen geben der Versorgung ein gutes Zeugnis. So bewerten 77 Prozent ihre letzten Erfahrungen mit einer Arztpraxis positiv. Doch: Jeder Vierte (24 Prozent) sieht die Notfallversorgung in der eigenen Region als nicht vollständig gesichert. 35 Prozent der Menschen, die schon einmal pflegebedürftig waren oder einen Menschen gepflegt haben, waren nicht zufrieden mit den Erfahrungen, die sie mit ambulanten oder stationären Pflegeeinrichtungen gemacht haben. 28 Prozent der Eltern mit Kindern bis 12 Jahren hatten Schwierigkeiten, eine Kinderarztpraxis zu finden.
Beim Zugang zur ärztlichen Versorgung schwankt die Zufriedenheit laut Umfrage: 80 Prozent können eine haus- oder allgemeinärztliche Praxis in angemessener Entfernung zu ihrem Wohnort besuchen. Allerdings haben 30 Prozent trotz dringendem Bedarf keinen Facharzttermin in angemessener Zeit erhalten. 37 Prozent der Menschen mit Erfahrungen mit ambulanter oder stationärer Pflege konnten in einer Pflegesituation nicht ausreichend schnell einen Platz im Heim oder einen Pflegedienst finden.

Die wichtigste Ressource

„Die Gesundheitsversorgung ist in einer angespannten Lage, das zeigen auch die Ergebnisse dieser Umfrage“, betont Gertrud Demmler. Auf absehbare Zeit werde die Überlastung aufgrund des demographischen Wandels eher größer. „Das heißt Arzttermine, Pflegeeinrichtungen oder Zeit für die Patientinnen und Patienten im Krankenaus werden eher knapper.“ Das sei nicht nur für die Patientinnen und Patienten eine schlechte Nachricht. Auch die Menschen, die sie versorgen, stehen zunehmend unter Druck. „Wir brauchen jetzt weitreichende Reformen, die die Ressourcen des Gesundheitswesens insgesamt entlasten. Und die wichtigste dieser Ressourcen sind die Menschen, die im System arbeiten.“

Orthopädie: Kinder-OPs mit Warteliste

Berlin (pag) – Fachärztinnen und Fachärzte sehen die kinderorthopädische Versorgung als bedroht an, denn die aufwendigen Behandlungen seien ein Minusgeschäft. Krankenhäuser würden daher ihre kinderorthopädischen Abteilungen schließen oder verkleinern. Die Folge seien OP-Wartezeiten an spezialisierten Zentren von bis zu einem Jahr.

Zugang zur kinderorthopädischen Versorgung gefährdet? Ärzte schlagen Alarm. © stock.adobe.com, Towfiqu Barbhuiya

 

„Wenn gesundheitspolitisch nicht gegengesteuert wird, droht eine Unterversorgung im kinderorthopädischen Bereich“, sagt Prof. Maximilian Rudert, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie (DGOU). Systematisch setzt sich mit dem Thema eine wissenschaftliche Arbeit auseinander, die eine Wirtschaftlichkeitsanalyse hüftrekonstruierender Eingriffe in der Kinderorthopädie erstellt. Die Autorengruppe um Kinderorthopädin Dr. Katharina Gather beleuchtet die Versorgung von Kindern mit Schädigungen im zentralen Nervensystem. Die sogenannte „neurogene Hüftdezentrierung“ behindert bei den Betroffenen Mobilität, Pflegefähigkeit und Lebensqualität. Mit einer speziellen Operationstechnik können orthopädische Chirurgen Hüftgelenke bereits im Wachstum wieder neu einstellen und dadurch Schmerzen verringern, Beweglichkeit verbessern und auch die frühzeitige Entstehung von Gelenkverschleiß verhindern. Die Orthopädische Universitätsklinik Heidelberg gilt als eine der führenden Einrichtungen für diese hochspezialisierten Operationen. Gather hat die wirtschaftliche Bilanz der lebensverbessernden Operationen wissenschaftlich aufgearbeitet. Demnach sind solche Eingriffe im DRG-System nicht kostendeckend durchführbar. Die Kliniken blieben am Ende auf vielen hundert Euro an Kosten sitzen.

Prof. Tobias Renkawitz, Ärztlicher Direktor der Orthopädischen Universitätsklinik Heidelberg, verlangt daher eine grundsätzliche Neuberechnung der Prozeduren in der ambulanten und stationären Kinderorthopädie. Diese müsse den tatsächlichen Aufwand der Einrichtungen realistisch abbilden. Anders könne trotz Vorhaltepauschalen nicht sichergestellt werden, dass Familien „auch zukünftig Zugang zu einer adäquaten kinder- und jugendorthopädischen Versorgung erhalten“.

Einige Wochen später gibt die Krankenhaus-Regierungskommission eine Empfehlung zur Kindermedizin ab. Demnach soll das künftige Vorhaltebudget für die Leistungsgruppen von Pädiatrie und Kinderchirurgie dauerhaft um einen Aufschlag von bis zu 20 Prozent der bisherigen aDRG-Erlösvolumina der Fachabteilungen der operativen und konservativen Kinder- und Jugendmedizin erhöht werden.

Weiterführender Link:

Solidarität mit Kindern und Menschen mit Behinderung?
Eine Wirtschaftlichkeitsanalyse hüftrekonstruierender Eingriffe in der Kinderorthopädie
https://link.springer.com/article/10.1007/s00132-023-04381-7