Berlin (pag) – Die Probleme in Pflegeversorgung und -versicherung sind vielfältig und offensichtlich. Dennoch rangiert das Thema auf der politischen Agenda eher unter ferner liefen. Ein aktueller Report der DAK fasst die Herausforderungen prägnant zusammen. Zentrale Botschaft: Der Kipppunkt ist bald erreicht. „Die soziale Pflegeversicherung droht in wenigen Jahren ihre Funktionsfähigkeit zu verlieren“, sagt DAK-Vorstandschef Andreas Storm.
Storm verlangt eine grundlegende Reform der Pflegeversicherung, um die Pflege mit neuen Versorgungskonzepten „zukunftsfähig zu machen.“ Steigende Kosten, immer mehr Pflegebedürftige und beständig abnehmende Personalressourcen strapazierten das System.
Der Report, den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Institut AGP Sozialforschung verfasst haben, legt den Fokus auf die Personalproblematik durch Effekte der Baby-Boomer-Generation: Mit den nahenden Renteneintritten werde die Zahl der Fachkräfte signifikant sinken. Der Analyse zufolge schmilzt bundesweit die Arbeitsmarktreserve in der beruflichen Pflege bis 2030 auf 0,5 Prozent ab. Für 2025 liegt die Prognose bei 9.664 Renteneintritten, denen 36.004 Berufseinsteiger gegenüberstehen – das entspricht einer Arbeitsmarktreserve von zwei Prozent. Diese bereits äußerst dünne Personaldecke halbiert sich 2027 auf ein Prozent: Statt einer Reserve von 26.340 Pflegekräften stehen dann rechnerisch lediglich 11.752 Arbeitskräfte zur Verfügung. „Wir haben trotz guter Ausbildungszahlen keinen Puffer gegen die berufsdemografischen Dynamiken in der Pflege“, sagt Reportautor Prof. Thomas Klie. Er prognostiziert, dass der Ausbau der Personalkapazitäten demografiebedingt nicht gelingen werde. Mithilfe von Wiedereinsteigerprogrammen, Zuwanderung und Qualifizierungsstrategien ließen sie sich bestenfalls stabil halten.
2029: Kipppunkt für Bremen und Bayern
Einzelne Bundesländer erreichen noch in diesem Jahrzehnt Kipppunkte, an denen deutlich mehr Pflegende in den Ruhestand gehen als Nachwuchskräfte in den Beruf einsteigen. In Bremen und Bayern wird dies den Berechnungen zufolge bereits in 2029 der Fall sein. Klie verweist auf den sehr lokal geprägten Arbeitsmarkt, weshalb die Kipppunkte stark auf der Landkreis- und städtischen Ebene innerhalb der Bundesländer variierten. Selbst in Nordrhein-Westfalen und Thüringen, die rechnerisch weiterhin über eine Reserve verfügen, sei der Arbeitsmarkt praktisch leergefegt.
Während in den nächsten zehn Jahren fast in jedem Bundesland 20 Prozent des Pflegepersonals ersetzt werden müssen, steigt gleichzeitig die Zahl der zu Pflegenden deutlich an. Klie schätzt, dass in den nächsten 25 Jahren rund 2,3 Millionen Menschen mehr als heute auf Unterstützung angewiesen sein werden. Auch die Pflegefinanzierung steht vor einem Kipppunkt. Bereits für das vierte Quartal dieses Jahres zeichnen sich laut Report deutliche Finanzierungslücken ab, die Beitragssatzerhöhungen noch vor der Bundestagswahl in 2025 erforderlich machten. „Das von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach im vergangenen Jahr abgegebene Versprechen einer zumindest kurzfristigen Stabilisierung der Pflegefinanzen bis zum Ende der laufenden Wahlperiode ist wohl nicht mehr zu halten“, fürchtet Storm. Er fordert ein Konzept, das den wachsenden Finanzbedarf aufgrund steigender Kosten in der pflegerischen Versorgung langfristig absichert. Dies sei essenziell, um das Pflegesystem zukunftsfähig zu machen.
Baby-Boomer: Problem und Lösung
Thomas Klie plädiert dafür, die Baby-Boomer in der Pflegediskussion als „Problem und die Lösung zugleich“ zu betrachten. Es werde neue Formen gegenseitiger Unterstützung brauchen, um eine solidarische Pflege und Sorge vor Ort sicherzustellen. „Wir als immer älter werdende Gesellschaft benötigen Modelle ,geteilter Verantwortung‘, die intelligente Verschränkungen von professioneller Pflege, informeller Sorge und zivilgesellschaftlicher Initiative ermöglichen – wie etwa in ambulant betreuten Wohngemeinschaften praktiziert“, so Klie. Erforderlich seien bürokratische Abrüstung, sektoren- und professionsübergreifende Kooperations- und Versorgungsformen sowie Planung auf kommunaler Ebene. Eine Mixtur aus nachberuflicher Erwerbstätigkeit und bürgerschaftlichem Engagement könnte vor Ort einen wichtigen Beitrag zur Stabilisierung der Pflegesituation leisten.
Klie mahnt außerdem an, die Handlungskompetenzen des Pflegepersonals auszuweiten. Man könne es sich nicht leisten, die Fachkräfte weiter mit fachfremden Aufgaben zu beschäftigen und bürokratisch zu kontrollieren wie bisher. Zumindest diesen Aspekt geht der Bundesgesundheitsminister mit dem geplanten Pflegekompetenzgesetz an. Allein reichen wird es nicht. Und auch das Versprechen der Pflegebevollmächtigten der Bundesregierung Claudia Moll einen Tag nach Veröffentlichung des Reports, sich „weiterhin für eine zukunftssichere Pflege stark zu machen“, beruhigt nur mäßig.
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