Das Präventionsmomentum

Politisch und medizinisch öffnet sich ein „window of opportunity“

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Berlin (pag) – Lange genug führte die Prävention ein gesundheitspolitisches Schattendasein. Inzwischen mehren sich die Signale, dass das Thema ernster genommen wird. Eine überfällige Entwicklung, denn wir können uns es nicht länger leisten, das Gesundheitswesen als bloßen Reparaturbetrieb laufen zu lassen. Zumal die Möglichkeiten der Präventionsmedizin immer vielversprechender werden.

Eine kürzlich im „Lancet“ veröffentlichte Studie beschäftigt sich mit Beatmungspatienten. Demnach werden hierzulande deutlich mehr Patienten künstlich beatmet als in Ländern mit vergleichbaren Gesundheitssystemen. Inzwischen versterbe „jeder zehnte Deutsche beatmet im Krankenhaus“, teilen die an der Studie beteiligten Pneumologen und Intensivmediziner mit. Die durchschnittlichen Kosten pro beatmeten Patienten liegen bei 22.000 Euro für das Jahr 2019 und über 25.500 Euro für 2022.

Ungünstiger Spagat

Für die beiden Facharztgruppen bietet die Studie reichlich Stoff für Diskussionen. Prof. Wolfram Windisch, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin (DGP), weist etwa darauf hin, dass Deutschland Schlusslicht bei der Tabakprävention sei. Rauchen sei einer der größten Risikofaktoren für viele schwere Herz- wie auch Lungenerkrankungen, die wiederum die Hauptgründe für Beatmungen auf Intensivstationen in Deutschland darstellen. „Wir sind also in einem ganz ungünstigen Spagat: Wir verhindern die Krankheiten nicht, die wir dann aber maximal mit allem, was geht, behandeln“, stellt Windisch fest und fragt: Wäre es nicht andersherum deutlich besser?
Die Kritik an diesem Spagat beziehungsweise der Vernachlässigung der Prävention ist in jüngster Zeit immer lauter geworden. Der Epidemiologe Prof. Henry Völzke verweist zuletzt beim wissenschaftlichen Symposium der NAKO Gesundheitsstudie, dessen Vorstandsvorsitzender er ist, auf die aktuellen Zahlen zur Lebenserwartung in Deutschland sowie auf Risikofaktoren für Erkrankungen: „Mir läuft der kalte Schauer über den Rücken, wie schlecht wir dabei abschneiden.“ Auch Völzke sieht Deutschlands Defizite bei der Tabakkontrolle, nennt außerdem die Stichwörter Jodmangel und die steigende Anzahl von Diabetespatienten („eine extrem teure Erkrankung“). Er kritisiert: „Wir sehen als Gesellschaft zu, wie wir immer kränker werden und wir tun nichts dagegen.“
Ähnlich klingt es beim Wissenschaftsrat, der im Mai bei der Veranstaltung „Prävention neu denken“ das Thema mit zahlreichen Experten diskutiert. „Wir brauchen mehr durch Digitalisierung und innovative Forschung unterstützte und im Alltag der Menschen wirksame Prävention“, verlangt dort Ratspräsident Prof. Wolfgang Wick, der Ärztlicher Direktor der Neurologischen Klinik am Universitätsklinikum Heidelberg ist. Dafür sei eine umfassende und nachhaltige Initiative für Prävention und Gesundheit nötig. Diese müsse breit unterstützt und getragen werden – und zwar von der Politik und den Medien über die Krankenkassen bis zum Public-Health-Sektor, Kliniken, Praxen sowie in diesem Bereich aktiven Gruppen der Zivilgesellschaft. Auch in der Wissenschaft seien verschiedene Disziplinen gefragt, so Wick. Neben einer umfassenden Vernetzung der Akteure mahnen die Tagungsteilnehmer für die Prävention wirksame Anreize, zielgruppengerechte Kommunikation sowie verbindliche politische Ziele an.

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Datenquellen: Human Mortality Database, Eurostat, ONS England; Berechnungen durch das BiB
Datenquellen: Human Mortality Database, Eurostat, ONS England; Berechnungen durch das BiB

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Deutschland fällt bei Lebenserwartung in Westeuropa weiter zurück  Deutschland gehört in Westeuropa zu den Schlusslichtern bei der Lebenserwartung und verliert weiter an Anschluss. Dies zeigt eine aktuelle Studie von Mitarbeitenden des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung und des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung, bei der die Sterblichkeitstrends über mehrere Jahrzehnte untersucht wurden. Betrug der Rückstand Deutschlands auf die durchschnittliche Lebenserwartung bei Geburt im restlichen Westeuropa im Jahr 2000 rund 0,7 Jahre, so hat sich der Abstand bis 2022 auf 1,7 Jahre vergrößert.

 

Lauterbach will Trendwende

Apropos Politik: Anwesend bei der Veranstaltung des Wissenschaftsrates ist auch Bundesgesundheitsminister Prof. Karl Lauterbach. Er bekräftigt, dass es eine „Trendwende bei Gesundheitsförderung und Gesundheitskompetenz“ brauche. Zwei aktuelle Gesetzesentwürfe aus seinem Haus, das „Gesetz zur Stärkung der Öffentlichen Gesundheit“ sowie das „Gesundes-Herz-Gesetz“, greifen diese Themen auf (lesen Sie hierzu auch „Rückfall in der Bedeutungslosigkeit?“). So umstritten die beiden Initiativen von der Fachwelt gesehen werden, so zeigen sie dennoch, dass die Politik in Sachen Prävention aufgewacht und den drängenden Nachholbedarf erkannt hat.
Auch andere Akteure werden aktiv – zum Beispiel bei Krebs. Denn immerhin könnten 40 Prozent der Krebsneuerkrankungen allein durch Impfungen und Veränderungen der Lebensführung verhindert werden. „60 Prozent der Todesfälle wären mit Sekundärprävention vermeidbar“, umreißt Prof. Michael Baumann, Vorstandsvorsitzender des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ), das Präventionspotenzial beim Wissenschaftsrat. Nur wenige Wochen nach der Tagung fällt Ende Juni der Startschuss für eine bauliche Erweiterung des DKFZ in Heidelberg. In dem neuen Gebäudekomplex werden wichtige Zukunftsfelder des DKFZ Einzug halten – wie das Nationale Krebspräventionszentrum, dass sich derzeit bereits im inhaltlichen Aufbau befindet. Es entsteht als strategische Partnerschaft des DKFZ und der Deutschen Krebshilfe, die den Bau mit 25 Millionen Euro unterstützt. Das Zentrum soll alle wesentlichen Komponenten für die Präventionsforschung sowie für die Umsetzung der Prävention unter einem Dach vereinen: die Präventionsambulanz mit Beratungs- und Studienangeboten für die personalisierte Krebsprävention, Labor- und Büroflächen für die Präventionsforschung sowie die Aus- und Weiterbildung von Präventionsfachleuten.

Undenkbare Einblicke

Denkbar wäre übrigens auch, die NAKO Gesundheitsstudie für die Präventionsforschung zu nutzen. Diesen Gedanken will ihr Vorstandsvorsitzender Völzke auf dem wissenschaftlichen Symposium der NAKO der Politik nahebringen (lesen Sie hierzu auch „Die NAKO hat deutlich mehr Potenzial“). Bei Judith Pirscher, Staatssekretärin im Bundesforschungsministerium (BMWF), stößt er mit diesem Anliegen auf offene Ohren. Zumindest betont sie in ihrem Grußwort: „Die NAKO ermöglicht mit ihrem Datenschatz bisher undenkbare Einblicke in Mechanismen der Krankheitsentstehung.“ Wie genau präzisiert im Anschluss Prof. Maike Sander, Vorstandsvorsitzende das Berliner Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin. Es seien bereits rund 3.800 NAKO-Teilnehmende mittels Magnetresonanztomographie (MRT) untersucht worden. Darüber könnten kleinste Veränderungen über die Zeit beobachtet werden, und zwar lange bevor Symptome auftreten. So erhalte man sehr wichtige Einblicke in die Früherkennung, sagt Sander: „Die NAKO schlägt somit eine Brücke vom gesunden zum kranken Menschen.“ Die Medizinerin erinnert daran, dass Kohortenstudien wie die NAKO besonders für die Präventionsmedizin eine enorme Chance bieten, bedeutende Erkenntnisse zu gewinnen. So habe beispielsweise die UK Biobank genetische Marker für die Früherkennung von Brust- und Bauchspeichelkrebs identifiziert. Im Unterschied zur UK-Studie werden die NAKO-Teilnehmer sogar noch viel detaillierter klinisch untersucht. „Diesen Schatz müssen wir jetzt heben“, verlangt sie. 

 

Forschungsprojekt: Krebsrisiken-Prognose mit Gesundheitsdaten
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des DKFZ und des European Bioinformatics Institute aus Großbritannien nutzen die dänischen  Gesundheitsregister, um die individuellen Risiken für 20 verschiedene Krebsarten mit hoher Treffsicherheit vorherzusagen. Das Vorhersagemodell lässt sich auch auf andere Gesundheitssysteme übertragen. Es könnte helfen, Menschen mit hohen Krebsrisiken zu identifizieren, für die man gezielt individuelle Früherkennungsangebote im Rahmen von Studien erproben könnte, vermeldet das DKFZ.

„Wir müssen von vielen Seiten zugleich ansetzen“

Prof. Wolfgang Wick über Umsetzungsprobleme in der Prävention

Berlin (pag) – In Sachen Prävention gibt es weniger ein Erkenntnis- denn ein Umsetzungsproblem, konstatiert Prof. Wolfgang Wick, Vorsitzender des Wissenschaftsrates, und fordert: „Das müssen wir ändern.“ Der oft verlangte „Turn“ im Gesundheitswesen und in der Medizin hin der Gesunderhaltung müsse endlich verbindlich angegangen werden. Wie genau, verrät der Neurologe im Interview.

@ pag, Weger
@ pag, Weger

Auf einem Symposium hat der Wissenschaftsrat kürzlich gefordert, Prävention neu zu denken. Worin bestehen hierzulande die größten Denkfehler auf diesem Feld?

Wick: Ein Denkfehler wäre es, Prävention allein als medizinisches Thema zu begreifen. Prävention ist vielmehr eine gesellschaftliche  Querschnittsaufgabe. Deshalb müssen sich die beteiligten Akteure besser vernetzen. Dies meint sowohl Wissenschaft, Wirtschaft und auch allgemeine Öffentlichkeit wie auch die Politik – und dies ressortübergreifend im Sinne einer konsequenten „Health in all policies“. Weiterhin halte ich Verbotsdiskurse für nicht förderlich. Wir müssen uns stärker Gedanken zu Anreizen für ein gesundheitsbewusstes Verhalten und zielgruppengerechter Kommunikation machen und benötigen hierfür auch ein Zusammenspiel verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen und Professionen. Auch Gesundheits- und Datenkompetenzen müssen in der Breite gestärkt werden, nicht zuletzt auch um Möglichkeiten der Digitalisierung besser nutzen zu können.

Worauf kommt es besonders an?

Wick: Prävention in der Gesellschaft und dem alltäglichen Leben besser zu verankern und den bereits oft aufgerufenen „Turn“ im Gesundheitswesen und in der Medizin hin zu einem Ansatz der Gesunderhaltung verbindlich anzugehen. Dabei gilt es aus meiner Sicht auch, bestehende Initiativen und Strukturen gut einzubinden und auch dezentral-regionale Ansätze zu stimulieren sowie einen möglichst breiten, interdisziplinären und interprofessionellen Präventionsbegriff zu stärken. Hier sehe ich eine wichtige Aufgabe für die Universitäten, Hochschulen und Forschungseinrichtungen. Prävention muss sowohl in Studium und Weiterbildung als auch in Forschung Translation/Transfer in den entsprechenden Fächern, Human- und Zahnmedizin und in den anderen Gesundheitswissenschaften, angemessen berücksichtigt werden.

Auf der Veranstaltung haben sich die unterschiedlichsten Expertinnen und Experten zur Prävention ausgetauscht. Gab es für Sie eine überraschende Erkenntnis?

Wick: Es war vielleicht nicht überraschend, aber doch sehr eindrucksvoll, so gebündelt zu sehen, wie viel Wissen wir einerseits haben in ganz unterschiedlichen Feldern. Dennoch gelingt es uns in Deutschland bislang nicht gut genug, Prävention auch umzusetzen. Es gibt weniger ein Erkenntnis- denn ein Umsetzungsproblem. Das müssen wir ändern. Dafür müssen wir von vielen Seiten zugleich ansetzen. Denn so wenig es die eine Ursache gibt, so wenig gibt es die eine Lösung. Wichtig zu verstehen scheint mir auch, dass wir neben gemeinsamen Zielen, die abstrakt formuliert sicher mehrheitsfähig sind, vor allem eine regionale Durchdringung in den Aktivitäten brauchen. Dies bedeutet vielfältige Ansätze, aber klare Standards und Rahmen, um zum Beispiel die viel beschworene Datennutzung zu ermöglichen. Wir brauchen einen interdisziplinären und multiprofessionellen Ansatz.

Was braucht es, um den sogenannten „Implementation Gap“ in der Prävention nachhaltig zu überwinden? Wie gehen dabei andere Länder vor?

Wick: Aus meiner Sicht müssen wir insbesondere die Anreizsysteme für das Wissenschafts- und Gesundheitssystem in den Blick nehmen und so verändern, dass Prävention einen höheren Stellenwert erhält. Andere Länder gehen bereits voran. Im Rahmen des Symposiums haben wir unter anderem das Beispiel der Niederlande gehört.

Wie wird dort Prävention gestaltet?

Wick: In den Niederlanden debattiert man auf politischer Ebene die verpflichtende Vereinbarung konkreter nationaler Gesundheitsziele, ähnlich wie für andere gesellschaftliche Bereiche zum Beispiel im Falle von Finanz- und Klimazielen. Jeder niederländischen Bürgerin und jedem Bürger sollen fünf zusätzliche gesunde Lebensjahre ermöglicht und die Unterschiede in der gesunden Lebenserwartung zwischen ärmsten und reichsten Bevölkerungsschichten signifikant verringert werden. Zur Erreichung solcher Ziele werden attraktive Vorsorgeangebote und Einbindung der Informationen in das hausärztliche Versorgungsumfeld angeboten, die als wertvoll wahrgenommen werden; es wird aber auch die Lebensmittelindustrie mit ins Boot geholt. Davon könnten wir uns vielleicht auch in Deutschland etwas abschauen.

 

Zur Person
Der Neurologe Prof. Wolfgang Wick ist seit vergangenem Jahr Vorsitzender des Wissenschaftsrates. Am Universitätsklinikum Heidelberg ist er Ärztlicher Direktor Neurologie und Poliklinik sowie Zentrumssprecher der Kopfklinik. Wick beschäftigt sich mit grundlegenden, translationalen und klinischen Fragestellungen zu hirneigenen Tumoren und Krebsmetastasen im zentralen Nervensystem.

 

Weiterführender Link:
Der Wissenschaftsrat hat sich kürzlich ausführlich mit Prävention beschäftigt. Die Podcastfolge zu dem Symposium gibt es hier:
https://www.wissenschaftsrat.de/DE/Home/Buehne/_Inhalte/Inhalte_Online/Podcast_Symposium_Praevention

„Die NAKO hat deutlich mehr Potenzial“

Prof. Henry Völzke über Datenschätze für die Prävention

Berlin (pag) – „Wir sehen als Gesellschaft zu, wie wir immer kränker werden und wir tun nichts dagegen“, kritisiert Prof. Henry Völzke kürzlich in Berlin. Der Vorstandsvorsitzende der NAKO bringt für die Prävention den Datenschatz der Gesundheitsstudie ins Gespräch. Welche Potenziale er sieht und ob die Politik interessiert ist, lesen Sie im Interview.

Welchen Beitrag kann die NAKO für die Prävention und die Früherkennung hierzulande leisten?

Völzke: Die NAKO Gesundheitsstudie ist eine Beobachtungsstudie. In 18 Studienregionen untersuchen wir die mehr als 200.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer und wissen daher recht gut darüber Bescheid, welche Bevölkerungsgruppen, welche Regionen und welche sozialen Gruppen besonders von Risikofaktoren und Erkrankungen betroffen sind.

Hätten Sie ein konkretes Beispiel?

Völzke: Wir sehen eine zunehmende Häufigkeit von Adipositas in der Bevölkerung. Davon ist vor allem der Nordosten betroffen, also Vorpommern und die Mecklenburgische Seenplatte. Der Landespolitik in Mecklenburg-Vorpommern ist das bereits bekannt und sie tut, was sie kann – etwa Aufklärungskampagnen, gesunde Ernährung in Kitas et cetera. Aber die Möglichkeiten des Landes sind eben beschränkt. Es müsste viel mehr auf Bundes- und EU-Ebene passieren, ein Stichwort ist die Zuckersteuer. Mithilfe der NAKO-Daten könnten wir zukünftig beurteilen, was solche Maßnahmen gebracht haben – zum Beispiel, ob der durchschnittliche Body-Mass-Index gesenkt wurde.

Wie sieht es mit der Früherkennung von Erkrankungen aus?

Völzke: Da kann und wird die NAKO Gesundheitsstudie eine große Rolle spielen. Ein starker Punkt sind Biomarker aus verschiedenen Körperflüssigkeiten. Mit neuen Verfahren können innerhalb kurzer Zeit eine Vielzahl an Informationen aus Blut, Serum, Urin oder Stuhlproben gewonnen werden. Das ist natürlich ein Feld der Grundlagenforschung: diese Technologien anzuwenden und dann neue Marker, die eventuell zur Früherkennung von Erkrankung eingesetzt werden können, überhaupt erst einmal zu finden. Außerdem haben wir zahlreiche Untersuchungsverfahren, um subklinische Auffälligkeiten zu bestimmen.

Was sind das für Auffälligkeiten?

Völzke: Dabei handelt es sich um Auffälligkeiten, die auf einen Krankheitsprozess hindeuten, aber selbst noch keinen Krankheitswert haben. Im MRT sieht man zum Beispiel eine vergrößerte Leber, eine vergrößerte Milz, die Verfettung von Organen. Die Frage, mit der sich die Wissenschaftler dann die nächsten Jahre und Jahrzehnte beschäftigen, lautet, ob solche Auffälligkeiten wirklich als Vorhersagemarker für spätere Erkrankungen verwendbar sind.

© NAKO Gesundheitsstudie
© NAKO Gesundheitsstudie

Zur Person
Prof. Henry Völzke ist Vorstandsvorsitzender der NAKO. Der fünfköpfige Vorstand ist die Außenvertretung der Gesundheitsstudie gegenüber Wissenschaft, Politik, Medien, der Öffentlichkeit und Förderern. Völzke leitet außerdem die Abteilung SHIP/ Klinisch-Epidemiologische Forschung am Institut für Community Medicine der Universitätsmedizin Greifswald. SHIP steht für Study of Health in Pomerania, dabei handelt es sich um eine bevölkerungsbezogene, epidemiologische Studie in der Region Vorpommern im Bundesland Mecklenburg-Vorpommern.
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Das dürfte auch ein wichtiger Punkt für die Alzheimertherapie sein, die ja vor den ersten klinischen Auffälligkeiten einsetzen sollte.

Völzke: Gerade das MRT liefert möglicherweise Befunde, von denen wir noch gar nicht wissen, ob sie eine Bedeutung haben. Bei der sogenannten Radiomix-Untersuchung werden mit neuen Bildanalyseverfahren Auffälligkeiten wie bestimmte Muster, Unterschiede zwischen verschiedenen Gehirnanteilen, Größenunterschiede und auch Signalintensitätsunterschiede identifiziert. In Zukunft, wenn wir genügend Fälle mit Alzheimer oder Parkinson in der NAKO haben, werden wir sehen, ob diese bereits jetzt aufgespürten Auffälligkeiten wirklich einen Krankheits- oder zumindest einen Prognosewert haben.

Wo sehen Sie die größten Potenziale?

Völzke: Das größte Potenzial ergibt sich aus der einzigartigen Kombination aus dem Umfang der Untersuchungen und der Größe der Studienpopulation – und das in Verbindung mit dem langfristigen Ansatz: Wir beobachten die Teilnehmer über Jahrzehnte nach, um zu sehen, wer leider krank wird, wer gesund bleibt und welches die Faktoren sind, die über Krankheit und Gesundheit entscheiden. Außerdem ist die NAKO Gesundheitsstudie ein hoch interdisziplinäres Projekt, mit Neurologen, Kardiologen, Diabetologen und Orthopäden an Bord, auch Zahnärzte sind beispielsweise dabei. Irgendwann fügt sich das Ganze zu einem komplexen Bild zusammen, etwa Zahnauffälligkeiten wie Paradontitis, die mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen assoziiert sind. Das Potenzial ergibt sich somit aus dem Umfang der verschiedenen Untersuchungen, und die Größe der Population macht es wiederum möglich, die verschiedenen Interaktionen zwischen Risikofaktoren, subklinischen Auffälligkeiten sowie genetische Faktoren in Bezug auf Krankheitsrisiken zu bestimmen.

Was muss die Politik tun, um diesen Datenschatz zu heben?

Völzke: Uns weiterhin unterstützen. Bund, Länder und die Helmholtz-Gemeinschaft, die die NAKO Gesundheitsstudie finanzieren, unterstützen uns sehr. NAKO ist ein langfristiges Projekt und damit etwas Besonderes in der deutschen Wissenschaftsszene, denn die Politik hat sich für 30 Jahre verpflichtet, die Gesundheitsstudie zu fördern. Wir möchten sie davon überzeugen, dass diese 30 Jahre nicht ausreichen. Die NAKO hat deutlich mehr Potenzial, wenn wir zum Beispiel eine neue Stichprobe hinzufügen, um Prävalenztrends zu beobachten oder die Kinder der NAKO-Teilnehmer in die Untersuchung einbeziehen könnten. Dafür gibt es Verständnis bei unseren Förderern, aber wir erleben natürlich eine angespannte finanzielle Situation.

Hat der Bundesgesundheitsminister Sie bei seinen Bemühungen um die Vorbeugemedizin auf dem Schirm?

Völzke: Ich wünschte mir, er würde das Potenzial der Studie für die Gesundheit unserer Gesellschaft noch intensiver nutzen. Zum Beispiel könnten Erkenntnisse der NAKO auch in die Gesundheitsberichterstattung einfließen oder eigene Forschungsfragen des Ministeriums an die Gesundheitsstudie angedockt werden.

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© NAKO Gesundheitsstudie
© NAKO Gesundheitsstudie

Die NAKO
Die NAKO ist Deutschlands größte Langzeit-Bevölkerungsstudie, bei der fortlaufend in 18 Studienzentren über 205.000 zufällig ausgewählte Bürgerinnen und Bürger umfassend medizinisch untersucht und nach ihren Lebensgewohnheiten befragt werden. Zu Beginn der Erhebung im Jahr 2014 waren die Teilnehmenden 20 bis 69 Jahre alt. In fünf ausgewählten Zentren wurden bislang bei 30.000 Studienteilnehmenden das bildgebende Verfahren der Magnetresonanztomografie (MRT) durchgeführt. Im Laufe der Studie wurden rund 28 Millionen Bioproben gesammelt und stehen für die wissenschaftliche Forschung zur Verfügung. Den Verantwortlichen zufolge ist NAKO ein „einzigartiges Projekt, das die medizinische Forschung und die Gesundheitsprävention nachhaltig prägen wird“.
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In Sichtweite

Vorbereitungen für Lungenkrebs-Screening sind in entscheidender Phase

Berlin (pag) – Vor Lungenkrebs kann sich niemand in Sicherheit wiegen. Denn nicht nur Raucher kann diese Krankheit befallen. Jeder achte Lungenkrebspatient hat niemals in seinem Leben zur Zigarette gegriffen. Allerdings sind Raucherinnen und Raucher immer noch mit Abstand am meisten gefährdet. Der Krebs kann durch ein Lungenkrebs-Screening früh erkannt werden. Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) arbeitet momentan ein solches Programm aus. Zu den Hintergründen.

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In den vergangenen Jahren hat die Behandlung durch medizinische Innovationen deutliche Fortschritte erzielt und die Überlebensraten der Betroffenen zum Teil erheblich verbessert. Lungenkrebs bleibt aber weiterhin eine heimtückische Krankheit: Ein Lungenkarzinom ist lange nicht spürbar und wird in den meisten Fällen erst dann entdeckt, wenn der Krebs weit fortgeschritten ist. Die späte Diagnose bleibt die größte Hürde, um die Krankheit effektiv zu bekämpfen. Mit der Einführung des Lungenkrebs-Screenings soll sich das grundlegend ändern. Es besteht berechtigte Hoffnung, dass durch frühere Diagnosen viele Menschenleben gerettet werden können. Es gibt nicht nur immer differenziertere und passgenauere Therapiekonzepte, sondern frühe Diagnosen ermöglichen auch andere Behandlungsmaßnahmen und machen sogar Heilungen möglich. Es wird künftig auch mehr Menschen geben, die mit Lungenkrebs als chronische Erkrankung leben.

Zielgruppe: Starke Raucher und Ex-Raucher

Technisch ist Deutschland gut auf ein Screening-Programm mittels Niedrig-Dosis-CT vorbereitet. Bis zu einer halbe Million Untersuchungen pro Jahr wären nach Schätzungen von Experten möglich. Die KI-Auswertung von CT-Bildern, kombiniert mit der fachlichen Expertise von Radiologen, Pneumologen und Thoraxchirurgen werden die Fälle falsch-positiver Befunde weiter verringern, wie bereits eine aktuelle Studie in Deutschland zeigen konnte (siehe Infokasten). Die moderne Diagnostik verspricht also vieles, und doch muss vorab gründlich geprüft werden, für wen die Untersuchung wirklich infrage kommen soll. Internationale Studien haben belegt, dass das Lungenkrebs-Screening starken Rauchern oder ehemaligen Rauchern in der zweiten Lebenshälfte als Vorsorgeuntersuchung am meisten nutzt. Genau für diese Risikogruppe ist die Lungenkrebsvorsorge derzeit in Deutschland auch vorgesehen: Denn nur bei ihr überwiegt statistisch gesehen der Nutzen gegenüber dem möglichen Schaden durch Fehldiagnosen und ionisierte Strahlung.

Nichtraucher und Lungenkrebs

Zugleich wirft die Eingrenzung der Personengruppe Gerechtigkeitsfragen auf: Denn viele der Lungenkrebsfälle bei Nichtrauchern werden ausgerechnet von dem Screening-Programm nicht erfasst, weil sie weder vom Alter noch vom Gesundheitsverhalten her zur Risikogruppe zählen. Die Deutsche Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin (DGP) fordert deshalb sogar ein systematisches Lungenkrebs-Screening für alle Erwachsenen. Das Lungenkarzinom sei die Krebserkrankung mit der höchsten Mortalitätsrate, begründet die Fachgesellschaft ihr Drängen auf systematische Früherkennung für alle: Die Früherkennung eines Lungenkarzinoms durch die Computertomografie senkt die Sterberate erheblich – ersten Studien zufolge um bis zu 20 Prozent.

Der G-BA muss nun also darum ringen, welche Personen zum Screening eingeladen werden sollen, und er muss im deutschen Gesundheitssystem erstmals ein risikobasiertes Früherkennungsprogramm auf den Weg bringen.

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Lungenkrebs in Zahlen
In Deutschland erkranken jedes Jahr etwa 57.000 Menschen an Lungenkrebs. Er ist bei Männern nach Prostatakrebs die zweithäufigste Krebserkrankung mit rund 35.000 Erkrankten. Bei Frauen ist das Bronchialkarzinom nach Brustkrebs und Darmkrebs der dritthäufigste Krebs, mit rund 22.000 Erkrankten. Frauen sind im Mittel 69 Jahre und Männer 70 Jahre alt, wenn Ärzte bei ihnen die Krankheit feststellen.
Quelle: DKFZ-Krebsinformationsdienst
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Schneller Leistungsanspruch

Die DGP fordert, der G-BA solle nun schnellstmöglich den Leistungsanspruch der Versicherten definieren. Die Politik habe das Thema schon viel zu lange vernachlässigt. Stattdessen sind die Fachgesellschaften tätig geworden. In einem im Oktober vorgestellten Positionspapier stellen die im Lungenkrebs-Screening beteiligten Fachgesellschaften erstmals konkrete Eckpunkte für ein einheitliches, strukturiertes und qualitätsgesichertes Früherkennungsprogramm vor, um zu diesem Prozess konstruktiv beizutragen. „Wir geben behandelnden Ärztinnen und Ärzten sowie der Gesundheitspolitik klar definierte Empfehlungen an die Hand, die ein einheitliches, strukturiertes, qualitätsgesichertes Früherkennungsprogramm ermöglichen, das effektiv, sicher und zudem kosteneffizient ist“, sagt Prof. Torsten Blum, einer von drei federführenden Autoren des Positionspapiers. An diesem haben Expertinnen und Experten der DGP, der Deutschen Röntgengesellschaft und der Deutschen Gesellschaft für Thoraxchirurgie ein Jahr lang gemeinsam gearbeitet. Darin halten sie fest, dass nur in einem strukturierten Ansatz der Nutzen, die ausreichende Begrenzung der Risiken sowie die Kosteneffektivität hinlänglich mit Evidenz belegt seien. Unstrukturierte Ansätze bergen hingegen substanzielle Risiken für die Teilnehmer und sollten nicht unterstützt werden. Der abschließende Appell lautet: In Deutschland sollten die Voraussetzungen für ein strukturiertes Programm zeitnah geschaffen werden.

HANSE-Studie für Deutschland
Mit der HANSE-Studie ist die Einführung des Lungenkrebs-Screenings in Deutschland wissenschaftlich vorbereitet worden. Dementsprechend breit waren die Fragestellungen: Sie reichten von der Definition der Hochrisikogruppe, über sämtliche Fragen der Implementierung bis zur Festlegung des Screening-Intervalls. Die Studie, die im Sommer 2023 abgeschlossen wurde, dient als Grundlage zur Erarbeitung der Screening-Richtlinien durch den Gemeinsamen Bundesauschuss (G-BA).
Im Rahmen  der HANSE-Studie an der Medizinischen Hochschule Hannover, dem Universitätsklinikum UKSH in Lübeck sowie an der LungenClinic Großhansdorf haben sich 5.000 Raucherinnen und Raucher zwischen 55 und 79 Jahren einem Lungen-Check mittels Niedrigdosis-CTs unterzogen. Ziel war es, die Möglichkeiten des CT-Screenings zur Früherkennung von Lungenkarzinomen zu überprüfen und Standards für das Programm zu entwickeln.

 

Weiterführender Link:

Positionspapier zur „Implementierung eines nationalen organisierten Programms in Deutschland zur Früherkennung von Lungenkrebs in Risikopopulationen mittels Low-dose-CT-Screening inklusive Management von abklärungsbedürftigen Screeningbefunden“
https://www.thieme-connect.de/products/ejournals/html/10.1055/a-2178-2846

Die Präventionskrise

Berlin (pag) – Deutschland leistet sich eines der teuersten Gesundheitssysteme der Welt. Trotzdem ist die Lebenserwartung einer neuen Studie zufolge im Vergleich zu anderen Ländern mit ähnlich hohen Einkommen deutlich geringer. Die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) macht daher eine Präventionskrise aus.

In Spanien und der Schweiz werden die Menschen im Durchschnitt mehrere Jahre älter als in Deutschland.
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Die Studie des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung kommt zu dem ernüchternden Ergebnis, dass Deutschland bei den Ausgaben für das Gesundheitssystem zwar auf den vorderen Plätzen liege, bei der Lebenserwartung jedoch zu den Schlusslichtern gehöre. Die Wissenschaftler haben die Lebenserwartung in sechs Ländern mit hohem Einkommen verglichen. Dabei zeigen sich erhebliche Unterschiede: In den bestplatzierten Ländern (Frauen: Spanien, Männer: Schweiz) werden die Menschen im Durchschnitt mehrere Jahre älter als in Deutschland. Hierzulande ist vor allem die erhöhte Anzahl von Todesfällen aufgrund von Herz-Kreislauf-Erkrankungen auffällig.

Mehr Zeit für Beratung

Die DEGAM ist auch deshalb alarmiert, weil in Deutschland überdurchschnittlich viele Ärztinnen und Ärzte arbeiteten. Gleichzeitig gebe es mehr Krankenhaus- und Intensivbetten als in fast allen anderen Vergleichsländern. DEGAM-Präsident Prof. Martin Scherer erwähnt außerdem ein krasses Missverhältnis: „Die Anzahl der Arztkontakte pro Person ist extrem hoch – aber die Zeit pro Patienten, um gesundheitsförderndes Verhalten zu besprechen, viel kürzer als in den verglichenen Ländern.“ Die Fachgesellschaft fordert daher mehr Prävention. Dringend nötig sei es insbesondere, die sprechende Medizin aufzuwerten, damit den Hausärztinnen und -ärzten mehr Zeit für Gesundheitsberatung insbesondere für Risikopatienten zur Verfügung steht.

Echte Prävention müsse zudem viel stärker als gesellschaftspolitische Aufgabe gesehen werden, denn der Anteil übergewichtiger und adipöser Menschen sei überdurchschnittlich hoch, zudem seien Alkohol- und Zigarettenkonsum höher als in den Vergleichsländern. Auch bewegten sich die Deutschen zu wenig. Die Fachgesellschaft schlägt vor, eine Zuckersteuer und ein Werbeverbot für Tabakprodukte einzuführen. Auch Raucherentwöhnung als Kassenleistung, die Subventionierung von gesunder Ernährung in Kindergarten und Schule sowie mehr Sportangebote für jede Altersstufe seien „längst überfällige Schritte“. Nur so könne in Deutschland bei der Lebenserwartung zumindest den internationalen Durchschnitt erreichen.

Krankheitslast effektiv reduzieren

Stichwort Herz-Kreislauf-Erkrankungen: Die Fachgesellschaft geht davon aus, dass die kardiovaskuläre Krankheitslast auch medikamentös effektiver reduziert werden könne. Dr. Uwe Popert von der DEGAM wird konkret und verlangt, dass bei Menschen mit hohem absoluten und relativen Herzinfarkt-Risiko verstärkt Statine verschrieben werden sollten. In Deutschland liege die Indikationsgrenze derzeit bei einem 20-prozentigen Risiko, dass innerhalb von zehn Jahren ein kardiovaskuläres Ereignis – zum Beispiel Herzinfarkt – auftritt. Im europäischen Ausland befinde sich die Schwelle meist bei zehn Prozent. Auch hierzulande sollte man diesen Wert insbesondere für Jüngere bei zehn Prozent ansetzen, um eine problematische Verzögerung der Behandlung zu vermeiden.

Weiterführender Link:

Quellen: „The underwhelming German life expectancy“ in: European Journal of Epidemiology
https://link.springer.com/article/10.1007/s10654-023-00995-5

PrEP: Potenzial mit Nebenwirkungen

Politiker nehmen zur HIV-Prophylaxe Stellung

Berlin (pag) – Die Präventionskampagnen zum Schutz gegen HIV-Infektionen waren erfolgreich. Allerdings stagniert die Zahl der Neuerkrankungen in Deutschland. Hauptvirusträger sind Männer, die Sex mit Männern haben. Seit 2016 gibt es eine neue medikamentöse Präventionsmethode, die Prä-Expositions-Prophylaxe, kurz: PrEP. Dem „Wildwuchs“ rund um PrEP will Bundesgesundheitsminister Jens Spahn ein strukturiertes Angebot entgegensetzen. Zur Erstattungsfrage nehmen Kordula Schulz-Asche (Bündnis90/Die Grünen) und Rudolf Henke (CDU) Stellung.

Die WHO, internationale und nationale Leitlinien sprechen sich mittlerweile für diese Art der Prävention bei Menschen mit hohem HIV-Risiko aus. Seit zwei Jahren kann hierzulande das antiretrovirale Medikament auf Rezept aus der Apotheke bezogen werden. Noch ist es eine Selbstzahlerleistung. Ob es solidarisch finanziert werden sollte, wurde in den vergangenen Monaten kontrovers diskutiert. Die Hauptkosten liegen allerdings mit rund 50 Euro monatlich nicht beim Arzneimittel. Wer PrEP einnimmt, muss sich wegen der Nebenwirkungen engmaschig ärztlich untersuchen lassen.

Der Gemeinsame Bundesausschuss, der über die Aufnahme in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung bestimmt, sah sich als nicht zuständig an. Eine medikamentöse Prophylaxe oral eingenommen ist in den Regularien nicht abgebildet, hieß es. Die Private Krankenversicherung zeigte sich ebenfalls ablehnend. In Schottland dagegen werden die Kosten seit April übernommen, zuvor sind Norwegen, Frankreich und Belgien diesen Schritt gegangen. Und jetzt zieht Deutschland nach: Im Juli hat Jens Spahn angekündigt, dass Menschen mit erhöhtem Infektionsrisiko einen gesetzlichen Anspruch auf ärztliche Beratung, Untersuchung und Arzneimittel zur Prä-Expositions-Prophylaxe erhalten. Die Kassenärztliche Bundesvereinigung und der GKV-Spitzenverband sollen vereinbaren, welche Personen anspruchsberechtigt sind. Das Bundesgesundheitsministerium schätzt, dass PrEP etwa 10.000 Menschen in Anspruch nehmen werden. Die Wirkung der Prophylaxe will das Ministerium bis Ende 2020 evaluieren.

Mit der Prophylaxe wird die Hoffnung verbunden, HIV/Aids eines Tages ausrotten zu können. Sie ermöglicht einen selbstbestimmten Schutz vor der Krankheit, ohne darauf angewiesen zu sein, dass der Partner ein Kondom benutzt. Allerdings befürchten Kritiker, dass damit die Bereitschaft für Kondome sinkt. In der Folge würden andere Geschlechtskrankheiten wieder vermehrt übertragen.

Rudolf Henke: „Argumentationsprobleme für solidarische Finanzierung

Rudolf Henke © pag, Fiolka

PrEP ist ein vielversprechender Ansatz um HIV-Neuinfektionen einzudämmen. Das zeigen uns Zahlen aus Ländern und Städten, in denen durch den Einsatz von PrEP Rückgänge der Neuinfektionen von teilweise über 40 Prozent zu verzeichnen sind. Zudem ist es in den Hochrisikogruppen sehr akzeptiert. Die Medikation verspricht also einen Beitrag zur Bekämpfung von HIV/AIDS leisten zu können. Die PrEP darf allerdings nicht dazu führen, in der Präventionsarbeit besonders im Bereich der übrigen sexuell übertragbaren Krankheiten (STI) nachzulassen.

Bei den Überlegungen über Erstattungsansprüche sind wir dem Wirtschaftlichkeitsprinzip des SGB V verpflichtet: ausreichend, zweckmäßig, wirtschaftlich und das Maß des Notwendigen nicht überschreitend. Deshalb sehe ich Argumentationsprobleme, PrEP als Präventionsmaßnahme von der Solidargemeinschaft zu finanzieren. Anders stellt es sich für die notwendigen Begleituntersuchungen dar, die etwa die Überwachung der Nebenwirkungen von PrEP auf die Nieren und obligatorische HIV-Tests beinhalten.

Ich werbe dafür, diese Begleituntersuchungen zukünftig als Leistungsanspruch in das SGB V aufzunehmen. Dies wäre ein vielversprechender Ansatz, um die Zahl der Arzt-Patienten-Kontakte innerhalb der Hochrisikogruppen zu erhöhen, was sich in der Vergangenheit oft als schwierig erwiesen hat. In diesem Zusammenhang sollten wir auch diskutieren, ob diese Untersuchungen an ein obligatorisches STI-Screening geknüpft werden könnten.

Rudolf Henke Der Aachener Internist ist seit 2009 Mitglied des Deutschen Bundestags. Außerdem engagiert er sich als Präsident der Ärztekammer Nordrhein in der ärztlichen Selbstverwaltung. Henke ist außerdem erster Vorsitzender der Ärztegewerkschaft Marburger Bund. Bei der AIDS-Hilfe Nordrhein-Westfalen ist er Kuratoriumsmitglied.

Kordula Schulz-Asche: „Bei der Erstattung darf es nicht zu Ungerechtigkeiten kommen“

Kordula Schulz-Asche © pag, Fiolka

Eine kürzlich vorgestellte Studie der Universität Duisburg-Essen kam zum Schluss, dass die Zahl der PrEP-Nutzer seit ihrem Preisverfall rasant gestiegen ist. 4.500 Menschen schützen sich demnach inzwischen in Deutschland auf diese Weise vor einer HIV-Infektion. Die Entwicklung zeigt, dass die PrEP in Deutschland angekommen ist. Das ist zu begrüßen, schließlich hat das Medikament das Potenzial die Neuinfektionen signifikant zu senken. Die Einnahme ist jedoch nicht risikofrei, schließlich schützt sie nicht vor anderen Geschlechtskrankheiten. Auch kann es bei unwissentlich HIV-Infizierten bei der PrEP-Einnahme zu Resistenz-Entwicklungen kommen. Die dauerhafte Einnahme als Präventivmaßnahme kann also nur für Menschen mit hohem Infektionsrisiko und als Ergänzung zu herkömmlichen Verhütungsmethoden sinnvoll sein.

Um die PrEP ausgewählten Risikogruppen verfügbar zu machen, bedarf es jedoch passender Therapiekonzepte, in denen vor allem die Frage der Kostenübernahme geklärt sein muss. Die Behandlung kann nur in enger medizinischer Begleitung durch Spezialisten erfolgen und bedarf regelmäßiger Laboruntersuchungen, welche die gesetzliche Krankenversicherung heute noch nicht abdeckt. Eine entsprechende Änderung des Einheitlichen Bewertungsmaßstabes (EBM) könnte hier Abhilfe schaffen. Auch die Frage der Erstattung des Medikaments selbst ist ungelöst. Hier darf es nicht zu Ungerechtigkeiten kommen, da etwa Kondome auch nicht von den Kassen übernommen werden. Diese Hürden gilt es jedoch zu bewältigen, wenn wir HIV-Neuinfektionen wirklich den Kampf ansagen wollen. Denn anders werden wir das Ziel der Vereinten Nationen, AIDS bis 2030 auszurotten, wohl nicht erreichen.

 

Kordula Schulz-Asche Von der hessischen Landespolitik wechselte die ausgebildete Krankenschwester 2013 in den Bundestag. Schulz-Asche lebte zwischenzeitlich in Afrika, wo sie für Entwicklungsorganisationen im Bereich Gesundheitsaufklärung tätig war. Bei der Deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit arbeitete sie im Projekt „HIV/AIDS-Bekämpfung in Entwicklungsländern“.