Gesundheit von Hirn und Psyche priorisieren


Berlin (pag) – Was ist der Gesellschaft die psychische Gesundheit aller Altersgruppen wert? Diese Frage zur Zukunftsgestaltung des Gesundheitssystems wirft der Spitzenverband Zentrales Nervensystem (SpiZ) auf und widmet ihr die Aufklärungskampagne #kopfsache. Aktuell sei in der Versorgung von psychischen und neurologischen Erkrankungen noch viel Luft nach oben, kritisiert SpiZ-Präsident Dr. Uwe Meier.

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Patienten mit diesen Krankheitsbildern seien einer systematischen Benachteiligung ausgesetzt, erkennt Meier, der ebenfalls Vorsitzender des Berufsverbandes Deutscher Neurologen ist. Verständnis fehlt ihm dafür gänzlich – denn die Gesundheit von Hirn und Psyche sei nichts Geringeres als die DNA unserer Gesellschaft und nicht etwa eine individuelle Angelegenheit.

Über 38 Prozent aller EU-Bürger leiden einmal per annum an einer psychischen Erkrankung, betont Meier. Mit neurologischen Erkrankungen zusammengefasst sind sie für 26 Prozent der gesellschaftlichen Gesamtkrankenlast verantwortlich. Handlungsbedarf? Offensichtlich. SpiZ fordert: Bewusstsein für diese Leiden als prioritäres Anliegen auf die politische Agenda setzen. Weiterhin müssten die Zuwendungsmedizin sowie spezielle Diagnostikzentren gefördert werden. SpiZ verlangt außerdem Zentren mit multiprofessionellen Behandlungsteams sowie eine systematische Delegation ärztlicher Leistungen. Versorgungswege gehörten besser vernetzt und gesteuert.

„Wenn Bedarfe wachsen und Probleme zunehmen, ist Budgetierung keine Lösung, sondern Brandbeschleuniger. Man stelle sich das vor in anderen systemrelevanten Bereichen wie Feuerwehr und Polizei. Wenn es brennt, ist die Budgetierung von Wasser ein politischer Kunstfehler“, stellt der SpiZ-Präsident fest und appelliert in Richtung Politik, eine Entbudgetierung über die hausärztliche Versorgung hinaus zu veranlassen.

Wer steckt dahinter?

Der Spitzenverband ZNS (SpiZ) ist der Zusammenschluss von Berufsverbänden auf dem Gebiet der Psychiatrie, Neurologie, Psychosomatik, Kinder- und Jugendpsychiatrie und ärztlicher Psychotherapie. Mitgliedsverbände sind: Berufsverband Deutscher Nervenärzte, Berufsverband Deutscher Neurologen, Bundesverband Deutscher Fachärztinnen und Fachärzte für Psychiatrie und Psychotherapie, Berufsverband der Fachärzte für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Berufsverband ärztlicher Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytiker in der Deutschen Gesellschaft für Psychoanalyse, Psychotherapie, Psychosomatik und Tiefenpsychologie sowie der Berufsverband für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie.

Leitlinien im Praxistest

Bei der Implementierung gibt es noch Luft nach oben

Berlin (pag) – Leitlinien sollen die medizinische Versorgung verbessern und gelten als wichtiges Instrument, um Über-, Unter- und Fehlversorgung zu verhindern. Doch werden sie diesem Anspruch gerecht? Der AOK-Bundesverband und das Wissenschaftliche Institut der AOK (WIdO) ziehen aufgrund einer Versorgungsanalyse eine gemischte Bilanz.

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Dass es bei der Implementierung von Leitlinien im Versorgungsalltag noch Luft nach oben gibt, zeigt der auf einer Pressekonferenz vorgestellte Versorgungs-Report des WIdO anhand von mehreren Beispielen.

Beispiel Herzinfarkt: Den AOK-Routinedaten zufolge erhalten Patientinnen und Patienten nach einem Herzinfarkt meist die in den Leitlinien vorgesehenen Medikamente wie Statine oder Blutverdünner. Die Daten offenbaren aber deutliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern. „Frauen sind schlechter versorgt als Männer. Sie erhalten deutlich seltener die angezeigten invasiven Therapieverfahren“, sagt Christian Günster, der beim WIdO die Qualitäts- und Versorgungsforschung leitet. Bei älteren Frauen ab 80 Jahren liege die Behandlungsrate fast zehn Prozent niedriger als bei Männern des gleichen Alters.

Beispiel Restless-Legs-Syndrom: In der aktuellen Leitlinie wird die Behandlung mit dem Medikament Levodopa aufgrund von hohen Risiken nicht mehr empfohlen. Die WIdO-Analyse zeigt, dass etwa ein Viertel der diagnostizierten Patientinnen und Patienten dennoch eine Dauertherapie mit diesem Mittel erhalten. „30 Prozent aus dieser Gruppe wurden sogar länger als zwei Jahre damit therapiert“, kritisiert Günster. Möglicherweise betrieben viele Betroffene zudem „Ärztehopping“, um an das Präparat zu gelangen. „Hier gibt es noch viel zu tun, um eine leitliniengerechte Arzneimittel-Therapie zu erreichen“, betont der Versorgungsforscher.
 

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Beispiel Kontroll-Koronarangiographien nach Erweiterungen der Herzkranzgefäße mit einem Ballonkatheter (PCI): Hierzu gebe es seit 2016 eine Negativ-Empfehlung. Der routinemäßige diagnostische Herzkatheter wird nicht mehr empfohlen, wenn nicht zu erwarten ist, dass daraus eine therapeutische Konsequenz folgt. Hier erkennt Günster ein Umsteuern. Seit Veröffentlichung der neuen Empfehlungen sei es zu einem deutlichen Rückgang bei den Kontroll-Koronarangiographien gekommen.

Der WIdO-Experte spricht von einer „sehr gemischten“ Bilanz zur Leitlinien-Umsetzung in der Praxis. Auf dem Podium diskutieren die Expertinnen und Experten daher verschiedene Ansätze für eine raschere Implementierung. Dr. Gerhard Schillinger, Leiter des Stabs Medizin im AOK-Bundesverband, nennt insbesondere eine „gut aufgeräumte Krankenhauslandschaft mit klar verteilten Aufgaben“. Eine Erfolgsgeschichte seien die zertifizierten Krebszentren. Im ambulanten Setting sieht der AOK-Vertreter vor allem die mangelnde Transparenz zur Behandlungsqualität als Schwierigkeit.

 

„Da hinken wir hinterher“

Mit dem Digitale-Versorgung-Gesetz, vom Bundestag im November 2019 verabschiedet, hat der Gesetzgeber der Leitlinienerstellung bereits einen deutlichen Booster verpasst: Die Erstellung oder Aktualisierung kompletter Leitlinien kann über Mittel des Innovationsfonds des Gemeinsamen Bundesausschusses gefördert werden. Außerdem kann das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen mit Evidenzrecherchen beauftragt werden. Dr. Monika Nothacker weiß diese Unterstützung zu schätzen. Die stellvertretende Leiterin des Instituts für Medizinisches Wissensmanagement der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) beschreibt in der Pressekonferenz die Anforderungen, welche bei der Leitlinienerstellung zu beachten sind. Dazu zählen die repräsentative Beteiligung, auch von Betroffenen-Organisationen, die formale Evidenzbasierung sowie die strukturierte Konsensfindung. Das sei viel Arbeit, was auch für die Aktualisierung der Behandlungsempfehlungen gelte – „da hinken wir immer hinterher“, räumt Nothacker ein.
Fortschritte erkennt sie dagegen bei der Verbreitung von Leitlinien. Fachgesellschaften publizierten mittlerweile Kurz- und Langversionen sowie Patientenfassungen. Außerdem werden Leitlinien inzwischen auf großen Kongressen vorgestellt und in Qualitätsmanagementsysteme integriert. „Wir sind außerdem sehr dahinter her, dass die Leitlinien auch digital an den Point of Care kommen“, meint Nothacker. Allerdings gebe es dafür viele Hürden. Bereits 2021 hat die AWMF eine nationale Strategie gefordert, um evidenzbasiertes Wissen in digitale Gesundheitsanwendungen, Patienteninformationen oder Arztinformationssysteme zu integrieren.

V.l.: Dr. Kai Behrens (AOK-Pressesprecher), Dr. Gerhard Schillinger, Dr. Monika Nothacker, Christian Günster und Prof. Jürgen Wolf (Nationales Netzwerk Genomische Medizin Lungenkrebs) bei der Vorstellung des Versorgungsreports © pag, Fiolka
V.l.: Dr. Kai Behrens (AOK-Pressesprecher), Dr. Gerhard Schillinger, Dr. Monika Nothacker, Christian Günster und Prof. Jürgen Wolf (Nationales Netzwerk Genomische Medizin Lungenkrebs) bei der Vorstellung des Versorgungsreports © pag, Fiolka

Lebende Leitlinien als Ziel

Mehr zu Weiterentwicklungsmöglichkeiten von Leitlinien ist in dem Versorgungsreport „Leitlinien – Evidenz für die Praxis“ nachzulesen. Nothacker, Prof. Jörg Meerpohl, Prof. Holger Schünemann und Prof. Ina B. Kopp gehen in einem gemeinsamen Aufsatz unter anderem auf „Living Guidelines“ ein. Ziel sei es, diejenigen Empfehlungen zu identifizieren, die eine häufige Aktualisierung benötigen – zum Beispiel alle zwei bis vier Monate – und dafür Evidenzrecherchen in kurzen Abständen durchzuführen. Bislang wurden die meisten „Living Guidelines“ im Kontext der Corona-Pandemie erstellt. Dabei spielte die strukturierte Zusammenarbeit zwischen universitären Teams und Leitliniengruppen eine wichtige Rolle, schreiben sie. „Die erfolgreiche Zusammenarbeit kann als mögliche Blaupause für künftige Entwicklungen evidenzbasierter Leitlinien gesehen werden.“
Eine noch weitergehende Vision sind digitale Leitlinienformate, die eine Einpassung in ein digitales „Evidenz-Ökosystem“ mit direkter Anbindung an die Nutzenden ermöglichen. Dessen Kern, so beschreiben es die Experten, sei ein strukturiertes Datenformat für alle Produkte, das einen ungehinderten Austausch von Versorgungs- und Studiendaten erlaubt – „bis hin zur ‚Übersetzung‘ in allgemeinverständliche Formate“. Als Voraussetzung dafür nennen die Wissenschaftler gemeinsame Plattformen, Schnittstellen sowie einen Willen und eine Kultur des Teilens. Bis dahin dürfte es noch ein weiter Weg sein.

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DEAL und die dynamische Evidenzaktualisierung
Mit der Aktualisierung von Leitlinien beschäftigt sich das Projekt DEAL des Innovationsfonds. Die Abkürzung steht für „Dynamische Evidenzaktualisierung für Aktuelle Leitlinienempfehlungen“. Das Projekt untersucht und bewertet die Machbarkeit eines digital unterstützten „Living Recommendations“-Prozesses. Der DEAL-Prozess beinhaltet die systematische Identifizierung, Bewertung und Aufbereitung neuer Evidenz zu ausgewählten Leitlinien- und Impfempfehlungen mit hohem Aktualisierungsbedarf („HAP-Empfehlungen“) in kurzen Intervallen mit anschließender Entscheidungsfindung zu möglichen Empfehlungsänderungen. In einem zweiten Projektteil wird eine Kriterienliste für die Identifizierung von Leitlinienempfehlungen mit hoher Aktualisierungspriorität entwickelt. Das Projekt wird für 21 Monate mit insgesamt circa 629.000 Euro gefördert.

Weiterführender Link:

Christian Günster, Jürgen Klauber, David Klemperer, Monika Nothacker, Bernt-Peter Robra, Caroline Schmuker (Hrsg.), WIdO, Versorgungs-Report Leitlinien – Evidenz für die Praxis, PDF, 311 Seiten
https://mwv-open.de/site/books/10.32745/9783954668007/download/9414/

Das Triage-Problem

Ein Gesetzentwurf liegt vor, offene Fragen bleiben


Berlin (pag) – Das Bundesverfassungsgericht verlangt, dass Menschen mit Behinderungen per Gesetz im Fall einer möglichen coronabedingten Triage gesondert schützt werden. Ein erster Entwurf liegt vor. Unterdessen zeigt eine Diskussion zwischen Ärzten und Juristen, wie komplex die Priorisierung medizinischer Hilfeleistung ist.  

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Eine gesetzliche Klarstellung zur Triage ist aufgrund eines Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) Ende des vergangenen Jahres notwendig. Anlass dafür ist eine Verfassungsbeschwerde mehrerer Menschen mit Behinderungen, die im Falle einer COVID-19-bedingten Triage im Krankenhaus fürchten, aufgrund ihrer Behinderung Benachteiligungen zu erfahren.
Gemäß den aktuellen Empfehlungen medizinischer Fachgesellschaften um die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) soll die klinische Erfolgsaussicht als wichtigstes Kriterium bei der Priorisierung von Behandlungskapazitäten berücksichtigt werden. Eine gesetzliche Regelung existiert bislang nicht. Aus Sicht des Gerichts ein Versäumnis, das schnellstmöglich behoben werden soll. Der Gesetzgeber müsse dafür Sorge tragen, dass jede Benachteiligung wegen einer Behinderung bei der Verteilung knapper intensivmedizinischer Behandlungsressourcen hinreichend wirksam verhindert werde, so das Gericht im Dezember vergangenen Jahres. 



Mehraugenprinzip ist zentral

Mittlerweile existiert ein Gesetzesentwurf, ein Kabinettsbeschluss liegt bis Redaktionsschluss allerdings noch nicht vor. Im Entwurf vorgesehen ist ein neu einzuführender Paragraf 5c im Infektionsschutzgesetz. Dieser greift nach Vorstellungen der Regierungsfraktionen „bei der ärztlichen Entscheidung über die Zuteilung von pandemiebedingt nicht ausreichenden überlebenswichtigen, intensivmedizinischen Behandlungskapazitäten im Krankenhaus“. Kern der geplanten Regelung ist das Mehraugenprinzip, falls eine Triage notwendig wird. „Die Entscheidung […] ist von zwei mehrjährig intensivmedizinisch erfahrenen praktizierenden Fachärztinnen oder Fachärzten mit der Zusatzweiterbildung Intensivmedizin einvernehmlich zu treffen, die den Patienten oder die Patientin unabhängig voneinander begutachtet haben“, heißt es im Entwurf, bei dem es sich um eine Formulierungshilfe für die Ampelfraktionen handelt. Besteht kein Einvernehmen, müsse ein weiterer Arzt für eine mehrheitliche Entscheidung hinzugezogen werden. Behandelnde Krankenhäuser seien verpflichtet, nach dieser Regelung zu agieren und deren Einhaltung sicherzustellen. Außerdem sollen sie die Verfahrensabläufe regelmäßig für potenzielle Weiterentwicklungen überprüfen.
Mit Triage in Pandemiezeiten beschäftigt sich kürzlich auch eine Diskussionsveranstaltung der Ärztekammer Nordrhein. Dort hebt Nancy Poser hervor: Sollte es hierzulande zu Zuständen wie in Bergamo 2020 kommen, wäre dies ein Todesurteil für Menschen mit Behinderungen oder Komorbiditäten. Poser ist Richterin am Amtsgericht Trier und eine der Beschwerdeführerinnen vor dem BVerfG.

Triage per Randomisierung

Die Kläger kritisieren insbesondere das Kriterium der klinischen Erfolgsaussicht in der Leitlinie. Man müsse sich fragen, „ob nicht eine Entscheidung nach Erfolgswahrscheinlichkeit Menschen mit Behinderungen immer diskriminieren wird“, sagt Poser.

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Denn Ärzte seien nicht in der Lage, in einer solchen Stresssituation die Behinderung oder Komorbiditäten von Patienten außen vor zu lassen. Spezialisten für die jeweilige Erkrankung seien selten vor Ort. Bei der Priorisierung nach prognostizierter Erfolgswahrscheinlichkeit handele sich um eine gesellschaftliche und verfassungsrechtliche Kernfrage: „Ist es richtig, immer die vermeintlich Schwächeren zu opfern, um eine größere Anzahl vermeintlich Stärkerer zu retten?“
Wonach in einer Triage-Situation entschieden werden soll, habe das BVerfG nicht entschieden. Die Juristin schlägt als Alternative eine Randomisierung vor oder wer als erstes kommt, soll das Bett erhalten. Triage mittels Randomisierung könnte „eine faire Chance“ und weniger diskriminierend sein, stimmt Dr. Maria del Pilar Andrino, Leiterin des Gesundheitszentrums Franz-Sales-Haus in Essen, zu. DIVI-Präsident Prof. Gernot Marx lehnt dies hingegen ab: „Alles was ich als Arzt einbringen kann wäre dann weg, das kann nicht im Sinne unserer Patienten sein.“

Ambulante Vor-Triage

In den Intensivstationen ist es bisher nicht zu einer Triage gekommen, weil ambulant eine Vor-Triage stattgefunden hat, berichtet Andrino. „Das bedeutet, dass Menschen mit Behinderung überhaupt nicht abgeholt worden sind aus ihrem Zuhause und überhaupt nicht in die Klinik gebracht worden sind.“ Einige Ärzte hätten sich auch geweigert Patienten zu untersuchen, wenn diese aus medizinischen Gründen keine Maske tragen konnten.
Außerdem erinnert Andrino an die Schließung der Spezialstation für Menschen mit Behinderungen in Rummelsberg, da die Betten für COVID-Patienten freigehalten wurden, wofür die Klinik Freihaltepauschalen erhielt. Darum habe es eine Unterdiagnostik und Unterversorgung gegeben. Erschwerend komme hinzu, dass Menschen mit Behinderungen durch die Corona-Maßnahmen eine Rückentwicklung von Autonomie, Selbstbestimmung und Selbstständigkeit erfahren hätten.
Für Andrino ist die DIVI-Leitlinie ein „No-Go“. „Damit kann ich als Medizinerin nicht leben.“ Sie bezweifelt ferner, dass zwei Intensivärzte die richtige Wahl für das Vier-Augen-Prinzip sind, wie es der aktuelle Gesetzesentwurf vorsieht. Die DIVI begrüßt dagegen die vorgesehene Regelung ausdrücklich, ob zwei Fachärzte am geeignetsten sind, weiß Marx jedoch auch nicht.

DIVI hält an Erfolgsaussicht fest

Die Verteilung von Patienten nach dem Kleeblattprinzip hat laut Marx bisher Triage-Situationen auf den Intensivstationen verhindert. Seine Gesellschaft hält auch weiterhin am Kriterium der klinischen Erfolgsaussicht fest. „Man muss klar differenzieren, es geht tatsächlich um die akute Erkrankung“, sagt Marx. Die Ärzte sollen alle wesentlichen die Erfolgsaussicht beeinflussenden Faktoren berücksichtigen: aktuelle Erkrankung, Komorbiditäten und allgemeiner Gesundheitszustand. Der prämorbide Status stehe dabei „deutlich“ als letztes.

Corona: sekundäre Krankheitsfolgen der Kinder

Berlin (pag) – Mehr als anderthalb Jahre nach Beginn der Pandemie mangelt es noch immer an Konzepten, um Jugendliche effektiv zu schützen und ihnen gleichzeitig einen normalen Alltag zu ermöglichen. Kinderärzte bemängeln, dass die sekundären Krankheitsfolgen – zum Beispiel psychische Probleme – für die Altersgruppe weitaus belastender sind als COVID selbst.

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„Kinder haben das Pandemiegeschehen zu keiner Zeit so beeinflusst wie die Erwachsenen“, sagt Prof. Tobias Tenenbaum, erster Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für pädiatrische Infektiologie. Die Kategorien Geimpft/Genesen/Getestet seien unpassend für die Altersgruppe. Zwar nähmen immer mehr Jugendliche die Impfung wahr, ein Herdenschutz könne jedoch nicht erreicht werden. Testungen von Kindern wurden in der Vergangenheit nur sporadisch durchgeführt, viele erkranken ohne Symptome. Sie können somit keinen Genesenenstatus nachweisen. Sensitivität und Spezifität von Antigentests sind bei Kindern deutlich schlechter als bei Erwachsenen.

Brigitte Strahwald von der Universität München kritisiert: „Es braucht für alles in dieser Pandemie mehr Daten, gerade aus dem Public-Health-Bereich.“ Rückblickend hätte man die Maßnahmen in Schulen besser dokumentieren sollen, um zu sehen, welchen Effekt sie haben. Es gebe mehrere Versuche, Cluster-randomisierte Studien an Schulen durchzuführen. Dies sei aber unter anderem aus Mangel an Akzeptanz der Beteiligten gescheitert.

Dario Schramm, Generalsekretär der Bundesschülerkonferenz, weist darauf hin, dass die Probleme, die während des letzten Lockdowns entstanden seien, bestehen blieben. Die mangelnde Bewegung habe körperliche Auswirkungen, betreffe aber auch die Stressverarbeitung. „Viele Jugendliche suchen Hilfs- und Therapieangebote, was extrem schwierig geworden ist.“

Anstieg bei Adipositas und Essstörungen

Dass die sekundären Krankheitsfolgen den Jugendlichen mehr zusetzen als die Erkrankung selbst, bestätigt auch eine aktuelle Auswertung von Versichertendaten der DAK Gesundheit. Demnach wurden 2020 in den Krankenhäusern 60 Prozent mehr Kinder aufgrund einer Adipositas behandelt als im Vorjahr. Die Zahl junger Patienten mit starkem Untergewicht stieg um mehr als ein Drittel. Essstörungen wie Magersucht und Bulimie nahmen um fast zehn Prozent zu. „Kinder sind keine kleinen Erwachsenen. Deshalb müssen wir die speziellen gesundheitlichen Auswirkungen sehr ernst nehmen und darauf reagieren“, sagt DAK-Chef Andreas Storm. Er fordert nach der Bundestagswahl kurzfristig einen Aktionsplan Kindergesundheit, der auf die Situation in Familien, Kitas, Schulen und Vereinen eingehen müsse.

Das Dilemma leistungsfähiger Gesundheitssysteme

Berlin (pag) – Die Ökonomie sollte nicht als Ökonomisierung verteufelt werden, sondern als Impulsgeber für eine bessere Versorgung genutzt werden. So lautet die Botschaft eines zwölfseitigen Strategiepapiers des Bundesverbandes Managed Care (BMC).

Das Papier mit dem Titel „Mehr Ökonomie wagen“ beschreibt das Dilemma leistungsfähiger Gesundheitssysteme: Je mehr aufgrund von medizinischem und technischem Fortschritt möglich sei, desto stärker werde der Finanzierungsdruck und desto bedeutender eine effiziente Ressourcenallokation. Die Pandemie habe das Potenzial, die Akteure aus tradierten Strukturen und Denkmustern zu lösen. Angesichts der sich abzeichnenden Verknappung finanzieller Ressourcen im Gesundheitswesen und dem daraus resultierenden Handlungsdruck wird eine sinnvoll ausgerichtete Ökonomie empfohlen, um Herausforderungen zu bewältigen und Impulse für eine Versorgung zu liefern, die sich tatsächlich am Outcome Gesundheit orientiere. „Lediglich eher ‘einfältige‘ Leistungskürzungen werden nicht genügen, es sind politische Reformen gefragt, die eine sinnvolle Allokation von Ressourcen in den Vordergrund stellen“, konstatieren die Autoren.

Teil des Solidarprinzips

Als zukunftsorientierte ökonomische Ansätze werden Value-based Health Care und Population Care in dem Papier genannt. Bei letzterem kann die Verantwortung für die Gesundheit bestimmter Populationen auf unterschiedliche Akteure übertragen werden. Value-based Health Care wird der Ansatz genannt, die Vergütung der Leistungserbringer nicht an der Menge der erbrachten Leistungen, sondern an den Behandlungsergebnissen auszurichten. Als leitendes Prinzip wird die Qualitätsverbesserung empfohlen; dieses sollte auch als ethisches Gebot und Teil des Solidarprinzips verstanden werden. Den Autoren zufolge kann ein solcher Kulturwandel nicht nur top-down gesteuert werden. Alle Akteure sollten sich auf die Suche nach zukunftsfähigen Versorgungsansätzen begeben.

 

Hinweis: Die Illustrationen der drei Thesen sind dem BMC-Papier entnommen.

Das Strategiepapier enthält neben diesen Appellen drei Thesen:

 

1. Messen, Vergleichen und Nutzen von Daten fördert die Qualität
Ökonomie schaffe Transparenz und befähige zu informierten Wahlentscheidungen, etwa durch Erhebung und Veröffentlichung aufbereiteter Versorgungsdaten zu Leistungserbringern und sektorenübergreifenden Behandlungsverläufen. Erwähnt wird auch der Einsatz von Real World Evidenz sowie Kennzahlen über Krankenkassen und -versicherungen.

2. Innovationen brauchen Handlungsspielräume und Leitplanken
Ökonomie setze auf den Abbau von Barrieren und Spielräume als Stimuli. Angemahnt werden verlässliche Leitplanken, die Förderung von unternehmerischem Handeln sowie eine kontinuierliche Strukturbereinigung mit Markt-
zugang und -austritt.

3. Veränderungen müssen vom Menschen her gedacht werden
Verhaltensökonomische Ansätze erzielten große Wirkungen durch Versorgungsmodelle, die sich an Lebenswelten orientieren. Das Honorieren von Qualität wird in diesem Zusammenhang ebenso genannt wie die Übernahme von Verantwortung für die Gesundheit von Patienten zu fördern.

 

Weiterführender Link:

Strategiepapier des BMC: https://www.bmcev.de/mehr-oekonomie-wagen/

Triage-Tragik: Braucht es ein Gesetz?

Berlin (pag) – Über die Priorisierung lebenserhaltender medizinischer Behandlungsressourcen in der Pandemie diskutiert kürzlich der Deutsche Ethikrat mit verschiedenen Experten. Im Mittelpunkt stehen grundlegende ethische und rechtliche Konflikte in Triage-Situationen.

Für den Bioethiker Christoph Rehmann-Sutter liegt die Tragik der Triage darin, dass jede Handlungsoption mit einem Unrecht verbunden ist – Triage sei demnach ein Verfahren der Schadensbegrenzung. Besonders umstritten sei zum einen die Relevanz voraussichtlich geretteter Lebenszeit und zum anderen die Frage einer subtilen Diskriminierung – etwa von Menschen mit chronischen Erkrankungen oder Behinderungen – durch das Kriterium der Erfolgsaussicht der Behandlung. Dass Grunderkrankungen und Behinderungen kein legitimes Kriterium für Triage-Entscheidungen sind, wurde allerdings bei einer Aktualisierung der klinisch-ethischen Triage-Empfehlungen mehrerer Fachgesellschaften 2020 klargestellt.

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Klinikpersonal des Antonio Cardarelli Hospitals in Neapel am „Pre-Triage“-Eingang der Notaufnahme für COVID-19-Fälle. Archivaufnahme, 13. November 2020. © Imago Images, Italy Photo Press, Felice De Martino.

Probleme bei Ex-post-Triage

Die Strafrechtswissenschaftlerin Tatjana Hörnle hält bei der Veranstaltung des Ethikrates fest, dass es insbesondere im Fall der Ex-post-Triage, wenn bei einem Patienten A eine bereits eingeleitete Behandlung abgebrochen wird, um einen Patienten B zu versorgen, für ärztliche Entscheider keine Rechtssicherheit gebe. Sie plädiert dafür, in einem Gesetz klarzustellen, dass auch eine mit sachgerechten Auswahlkriterien erfolgende Ex-post-Triage nicht strafbar sei. Der Gesetzgeber müsse zwar nicht, dürfe aber positive Auswahlkriterien definieren. Auch der Medizinrechtler Oliver Tolmein fordert eine gesetzliche Regelung. Er ist dagegen, die Erfolgsaussichten zum maßgeblichen Kriterium bei der Zuteilung lebensrettender medizinischer Ressourcen zu machen.

Demgegenüber führt der Notfallmediziner Markus Wehler aus, dass es bei den medizinischen Behandlungsentscheidungen darum gehe, so viele Menschen wie möglich zu retten und die verfügbaren Ressourcen bestmöglich einzusetzen. Es gebe standardisierte, validierte Prognosesysteme, mit denen Entscheidungen dokumentierbar, nachvollziehbar und transparent seien. Diese würden nicht mehr von einzelnen Ärzten, sondern immer im Team getroffen.
Ein weiteres Thema ist die „graue“ Triage: vorgelagerte Priorisierungsentscheidungen zum Beispiel beim Zugang zur Intensivstation, die im Verdacht stehen, intransparent und dadurch missbrauchsanfällig zu sein. Verlangt wird, den großen Anteil von Patientinnen und Patienten, die außerhalb der Intensivstationen an oder mit Covid-19 verstorben sind, öffentlich zu thematisieren.

Seit Pandemiebeginn wird über Triage diskutiert. Der Ethikrat hat im März vergangenen Jahres eine erste Bewertung vorgenommen. Der Gesundheitsausschuss des Bundestages befasste sich bereits zweimal damit. Außerdem hat das Bundesverfassungsgericht 2020 entschieden, dass die Bundesregierung kein Gremium einrichten müsse, das die Triage in Krankenhäusern vorläufig verbindlich regelt. Die Frage, ob der Gesetzgeber generell dazu verpflichtet sei, Vorgaben dazu zu machen, welche Patienten im Falle knapper Intensivbetten vorrangig zu behandeln sind, würden die Richter weiter prüfen, hieß es.

Gesetzgebung im Gesundheitsnotstand

Passau (pag) – Bei der Bekämpfung des Coronavirus SARS-CoV-2 steht der Gesetzgeber vor enormen Herausforderungen. Juristen der Universität Passau untersuchen jetzt Möglichkeiten und Grenzen eines einheitlichen rechtlichen Regelwerks.

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Die Corona-Pandemie ist für Bund und Länder auch in rechtlicher Hinsicht eine Herausforderung, auf die sie in Rekordzeit reagieren müssen. Rechtsexpertinnen und -experten der Universität Passau wollen Optionen für ein zusammenhängendes Regelwerk aufzeigen und Vorschläge für einen umfassenden Rechtsrahmen für den Fall eines Gesundheitsnotstands wie der durch das Coronavirus SARS-CoV-2 ausgelösten Pandemie entwickeln.
Die Frage einer Notstandsgesetzgebung wird in der juristischen Fachwelt in längeren zeitlichen Abständen immer wieder diskutiert. Ein einheitliches kohärentes Regelwerk, speziell für den Gesundheitsnotstand, existiert bisher aber weder auf Bundes- noch auf Landesebene. Mit Unterstützung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung nehmen Juristinnen und Juristen im Team von Prof. Hans-Georg Dederer im Projekt LegEmerge die Rolle des parlamentarischen Gesetzgebers auf beiden Ebenen unter die Lupe.



Sind die Grundrechtseingriffe verhältnismäßig?


Sie beschäftigen sich konkret mit folgenden Fragen: Welche Regelungen muss der parlamentarische Gesetzgeber selbst treffen? In welchem Umfang darf dabei die Exekutive ermächtigt werden, durch (Not-)Verordnungen parlamentsgesetzliche Vorschriften zu ändern, zu ergänzen, zu suspendieren oder aufzuheben? In diesem Zusammenhang werden sowohl die Vor- als auch die Nachteile von (mehr) Zentralisierung einerseits und (mehr) Föderalisierung andererseits untersucht. Ein weiterer Schwerpunkt des Projekts liegt auf den mit den staatlichen Pandemiemaßnahmen einhergehenden Beschränkungen der individuellen Grundrechte. Die staatlichen Maßnahmen sollen das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit schützen, greifen dadurch aber zugleich in eine Vielzahl anderer Grundrechte ein. Lassen sich diese Eingriffe rechtfertigen, sind sie insbesondere verhältnismäßig? Welchen Grad an Bestimmtheit und Regelungsdichte muss die gesetzliche Eingriffsgrundlage haben? Welche Rolle spielt dabei das Vorsorgeprinzip? Welchen Spielraum hat der Staat bei der Schaffung eines rechtlichen Rahmens in einem solchen Fall? Dies wollen die Wissenschaftler vertieft an der Triage-Problematik untersuchen. 



Weiterführender Link:
BMBF: Meldung vom 26.10.2020: Gesetzgebung im Gesundheitsnotstand

„… bloß nicht das Wort Triage in den Mund nehmen“

Dr. Tobias Witte zu gerechter Ressourcenallokation


Berlin (pag) – Wie steht es mit der Gerechtigkeit im Pandemiefall? Der Medizinrechtsanwalt Dr. Tobias Witte hat vor acht Jahren zu „Recht und Gerechtigkeit im Pandemiefall“ promoviert. Aktuell sieht er einigen Verbesserungsbedarf. Er vermisst beispielsweise eine parlamentarische Debatte über die Zuteilung und die Verabschiedung eines Bundesgesetzes zur Impfkampagne und Impfstoffzuteilung.

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Sie haben sich vor acht Jahren in Ihrer Dissertation mit „Recht und Gerechtigkeit im Pandemiefall“ beschäftigt. Wie gerecht geht es zu in der aktuellen Pandemie, insbesondere bezogen auf die Ressourcenallokation im Gesundheitswesen?

Dr. Tobias Witte: Gerechtigkeit ist natürlich ein sehr abstrakter Begriff mit vielen Facetten. Rechtsphilosophisch wird die Gleichheit nicht selten als Kern der Gerechtigkeit bezeichnet. Wenn wir die gleiche Behandlung von Umständen, die im Wesentlichen gleich sind, als Gleichheit definieren, dann ist zumindest wahrzunehmen, dass diese Form gerechter Verteilung von den beteiligten Akteuren im Gesundheitswesen angestrebt und vielfach auch erzielt wird.

Aber?

Dr. Tobias Witte: Bei knappen Ressourcen ist dies natürlich nicht immer möglich. Ich weiß aus meiner Arbeit als Fachanwalt für Medizinrecht, der eine Vielzahl an Ärzten berät, dass in manchen Krankenhäusern bereits Triage-ähnliche Entscheidungen getroffen werden müssen und dass die Geschäftsführung vorgibt, dabei bloß nicht das Wort „Triage“ in den Mund zu nehmen. Es stellt sich also die Frage, wann eine Zuteilung knapper Güter wie beispielsweise Intensivbetten gerecht ist – und dazu muss man Ziele und Kriterien bilden, die unserer Rechtsordnung standhalten. Die Maximierung der Überlebendenzahl ist ein solches zulässiges Ziel. Was viele jedoch als ungerecht empfinden, ist die gleichzeitige Intransparenz der Entscheidungen. Dies zeigt das obige Beispiel. Auch, wenn Ärzte und Pfleger bei Allokationsentscheidungen bestrebt sind, gerecht zu agieren, entstehen Ungerechtigkeitsempfindungen, da häufig nicht klar kommuniziert wird – und werden kann –, warum eine bestimmte Zuordnung erfolgt und eine andere nicht.

Mit steigenden Fallzahlen steigt die Sorge vor Triage-Entscheidungen in den Kliniken. Sind die deutschen Krankenhäuser mit den klinisch-ethischen Empfehlungen von Fachgesellschaften darauf ausreichend und rechtssicher vorbereitet?

Dr. Tobias Witte: Gerade auch die Intensivmediziner sind, dies ist meine Überzeugung, hierzulande fachlich exzellent aufgestellt, sodass bei Entscheidungen darüber, wie eine Triage zu erfolgen hat, die medizinischen Aspekte lege artis erfolgen werden. Triage kann im Notfall ja nur jemand anwenden, der die Kriterien – zumeist die Dringlichkeit und Erfolgsaussicht der Behandlung – fachlich anwenden kann. Aber es gibt eben nicht nur medizinische Vorgaben, sondern auch ethische und rechtliche. Aber es gibt kein Gesetz.

Inwiefern stellt das ein Problem dar?


Dr. Tobias Witte: Die Empfehlungen von Fachgesellschaften sind unverbindlich und im Übrigen auch stellenweise widersprüchlich. Ein Pneumologe aus Hamburg mag, auch auf Grundlage der Vorgaben seines Verbands, völlig anders entscheiden als ein Anästhesist aus München, der andere Empfehlungen las. Dies kann vor dem Hintergrund der anzustrebenden Gleichbehandlung nicht sein; rechtssicher ist das nicht. Je genauer ausgestaltet und je stärker demokratisch fundiert hier also die Vorgaben werden – was nur über eine gesetzliche Grundlage geschehen kann –, desto stärker entlastet man auch die Ärzte. Deren ohnehin schwerer Job in der Pandemie wird einfacher, wenn sie verlässliche Regeln haben, die auch einer späteren gerichtlichen Überprüfung des ärztlichen Handelns standhalten.

Sie haben sich mit der verfassungskonformen Verteilung lebensnotwendiger Impfstoffe im Hinblick auf die Priorisierung von Bevölkerungsgruppen und die Kostentragung auseinandergesetzt. Ist das gegenwärtige Vorgehen bezogen auf Priorisierung und Kosten verfassungskonform? Wo sehen Sie ggf. Nachholbedarf?

Dr. Tobias Witte: Die von der STIKO aufgestellten Kriterien für die Priorisierung der zu impfenden Gruppen sind sicherlich medizinisch und ethisch zulässig und, gerade auch vor dem Hintergrund der konkreten epidemiologischen Anforderungen des Sars-CoV-2-Virus, sinnvoll. Es sind jedoch nur Empfehlungen, die sodann rechtlich ihren Niederschlag in der Impfverordnung des Gesundheitsministeriums gefunden haben. Ein Parlamentsgesetz ist das nicht. Daher erachten viele Rechtswissenschaftler, unter anderem auch ehemalige Verfassungsrichter, die aktuelle Verteilungsregelung für nicht verfassungskonform. 




Teilen Sie diese Einschätzung?

Dr. Tobias Witte: 
Dies ist auch meine Ansicht: Was fehlt, ist eine parlamentarische Debatte über die Zuteilung und die Verabschiedung eines Bundesgesetzes zur Impfkampagne und Impfstoffzuteilung. Diese Impfkampagne wird das Leben jedes einzelnen Menschen in Deutschland auf die eine oder andere Weise beeinflussen. Das ist wesentlich – und wesentliche Entscheidungen, so auch eine Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts, muss der Gesetzgeber treffen. Als Ergebnis einer demokratischen, also parlamentarischen Entscheidungsfindung. Dies ist hier nicht geschehen. Dies muss nachgeholt werden, was im Übrigen auch die Impfakzeptanz in der Bevölkerung erhöhen könnte.

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Zur Person
Dr. Tobias Witte arbeitet als Fachanwalt für Medizinrecht bei der Kanzlei für Wirtschaft und Medizin. Er ist zertifizierter Datenschutzbeauftragter und Justiziar des Berufsverbandes der niedergelassenen Kinderchirurgen Deutschlands. Seine Promotion schrieb er vor einigen Jahren über: „Recht und Gerechtigkeit im Pandemiefall – Bevorratung, Verteilung und Kosten knapper Arzneimittel im Falle eines Seuchenausbruchs“. Darin beschäftigt er sich mit der Frage, ob die deutsche Rechtsordnung auf Pandemien vorbereitet ist.

„Priorisierung muss öffentlich diskutiert werden“

Prof. Birnbacher über Triage, Verteilungskriterien und Intransparenz

Berlin (pag) – 

Durch Corona werden ethische Fragen plötzlich akut, etwa wenn Priorisierungsentscheidungen zu treffen sind. Der Ethiker Prof. Birnbacher sagt im Interview, dass sich Priorisierungen nicht im Namen der Wissenschaft oder der wissenschaftlichen Medizin begründen lassen, sondern immer nur unter Berufung auf ethische Grundsätze. Er kritisiert, dass hierzulande eine offene Diskussion darüber noch immer gescheut wird.

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Weite Teile der deutschen Bevölkerung dürften im Zuge der Pandemie das erste Mal mit Mangel und Priorisierung im Gesundheitswesen konfrontiert sein, wie es ansonsten eigentlich nur Personen erleben, die auf ein Spenderorgan warten. Was macht das mit einer Überflussgesellschaft? Glauben Sie beispielsweise, dass davon die Zahlungsbereitschaft für neue Arzneimittel beeinflusst wird?

Prof. Birnbacher: Das hängt unter anderem davon ab, für welche Erkrankungen die neuen Arzneimittel gedacht sind und wie weit man sich durch sie individuell bedroht fühlt. Solange die neuen Arzneimittel der Behandlung ausgesprochen seltener Erkrankungen oder zum Lebenserhalt um eine relativ kurze Frist am Lebensende dienen, wird die Zahlungsbereitschaft begrenzt bleiben. Bei einer höheren Wahrscheinlichkeit, selbst betroffen zu sein, ist die Bereitschaft deutlich höher. Interessanterweise scheinen sich ja gegenwärtig auch Gentechnik-Gegner wenig daran zu stören, dass die wirksamsten Corona-Impfstoffe nicht nur gentechnisch hergestellt werden, sondern ein unmittelbares Resultat der Genforschung sind.

Gegenwärtig müssen Priorisierungsentscheidungen getroffen werden, z.B. über Rangfolgen beim Impfen oder bei Operationen. Findet dabei aus ethischer Sicht eine transparente Güterabwägung statt, die nachvollziehbar kommuniziert wird? 

Prof. Birnbacher: 
Im Unterschied zu anderen Ländern wird eine offene Diskussion über Priorisierung in Deutschland immer noch gescheut. Die daraus folgende Intransparenz – sei es der Beschlüsse des Gemeinsamen Bundesausschusses, sei es der medizinischen Fachgesellschaften oder der gesetzlichen Versicherungen – ist einer Demokratie eigentlich nicht würdig. Priorisierungen lassen sich nicht im Namen der Wissenschaft oder der wissenschaftlichen Medizin begründen, sondern immer nur unter Berufung auf ethische Grundsätze. Da diese häufig kontrovers sind, müssen sie in einer Demokratie öffentlich diskutiert werden. Ich verbuche es als zumindest einen Schritt in die richtige Richtung, dass bei den für die eventuelle Triage bei der Behandlung schwerer Corona-Fälle unter Federführung der DIVI verfassten Richtlinien der einschlägigen medizinischen Fachgesellschaften unter anderem auch die Akademie für Ethik in der Medizin einbezogen worden ist, bei den Priorisierungsempfehlungen der Impfkommission des Robert Koch-Instituts die Leopoldina und der Deutsche Ethikrat. Für die Zukunft wäre allerdings eine gesetzliche Grundlage wünschenswert.

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Haben Sie den Eindruck, dass im Zuge der Pandemie der öffentliche Stellenwert von medizinethischen Erwägungen gestiegen ist? Der deutsche Ethikrat ist derzeit ja ziemlich präsent in den Nachrichten.

Prof. Birnbacher: 
In Krisensituationen, mit denen niemand gerechnet hat und in denen unter Zeitdruck schwerwiegende Entscheidungen getroffen werden müssen, werden ethische Fragen, die ansonsten in Seminaren mehr oder weniger hypothetisch diskutiert werden, auf einen Schlag akut. Das galt vor einigen Jahren – in kleinerem Maßstab – für die Frage der Verteilungskriterien für Lebertransplantate angesichts verschiedener Missbräuche, das gilt gegenwärtig – in größerem Maßstab – für die Frage der gerechten Verteilung von Intensivbetten und Impfstoffen und für die Frage eines möglichen Impfzwangs. Der Deutsche Ethikrat hat dabei wie viele andere Beratungskommissionen die nicht unwichtige Funktion, die Verantwortung für Entscheidungen dieser Größenordnung auf mehrere Schultern zu verteilen, auch wenn die letzte Verantwortung selbstverständlich bei den politischen Institutionen verbleibt.

Zur Person
Prof. Dieter Birnbacher, Leopoldina-Mitglied und Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben, ist Philosoph mit Schwerpunkt Ethik. Er war unter anderem Vorsitzender der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer. Birnbacher forscht unter anderem zu ethischen und anthropologischen Grundlagen- und Anwendungsproblemen der modernen Medizin: Organtransplantation, Reproduktionsmedizin, Sterbehilfe, Verteilungsgerechtigkeit im Gesundheitssystem, Stammzellforschung sowie Gentechnik.

Mangel im Gesundheitswesen

Die Pandemie zwingt zur offenen Priorisierung

Berlin (pag) – Corona verlangt Menschen überall auf der Welt ab, sich mit vorher zum Teil undenkbaren Umständen zu arrangieren. Für die meisten Deutschen dürfte dazu auch gehören: mit Mangel in einem Gesundheitswesen konfrontiert zu sein, das sich selbst stets als „das beste der Welt“ preist.

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Einen richtig dramatischen, bitteren Mangel kennen hierzulande bislang vor allem jene rund 9.000 Menschen, die auf der Warteliste für ein Spenderorgan stehen. Die Rationierung der Nieren, Herzen, Lungen etc. erfolgt nach etablierten Kriterien, die nicht hinterfragt werden. Erfreulich ist nebenbei bemerkt, dass hierzulande offenbar die Zahl der Organspender in 2020 trotz Pandemie stabil geblieben ist.
Das Thema Mangel schleicht sich darüber hinaus in dieser Legislatur zunehmend als Dauerzustand in Form von Liefer- bzw. Versorgungsengpässen von Arzneimitteln ein. Durch Corona gestörte Lieferketten verstärken die Problematik. Gegenmaßnahmen, deren Wirksamkeit sich noch beweisen muss, hat die große Koalition mit dem Fairer-Kassenwettbewerb-Gesetz ergriffen. Arznei als Mangelware hat es zwar in die eine oder andere Schlagzeile geschafft, verharrt aber in den Publikumsmedien weiter als Nischenthema.

Das Tabu-Wort: Triage

Bei Corona hingegen geht es von Anfang an um Knappheit: Zuerst wurde um Beatmungsgeräte gebangt. Derzeit wird die Kapazität an Intensivbetten ängstlich beobachtet, wobei die entscheidendere Frage uns zur nächsten Ressourcenknappheit führt: ausreichend Fachpersonal, um die Patienten adäquat zu versorgen. Der Begriff Triage wird dabei ängstlich vermieden. Dabei weisen Experten wie der Medizinrechtsanwalt Dr. Tobias Witte darauf hin, dass in manchen Krankenhäusern bereits „Triage-ähnliche Entscheidungen getroffen“ werden müssen – allerdings vermeide es die Geschäftsführung, das Wort „Triage“ in den Mund zu nehmen. Die im Frühjahr formulierten Empfehlungen von Fachgesellschaften für jene Ärzte, die im schlimmsten Fall darüber entscheiden müssen, welcher Patient eine Behandlung erhält und welcher nicht, reichen nach Ansicht des Juristen nicht aus. „Je genauer ausgestaltet und je stärker demokratisch fundiert hier also die Vorgaben werden – was nur über eine gesetzliche Grundlage geschehen kann –, desto stärker entlastet man auch die Ärzte“, argumentiert er im Interview.

Wer fühlt sich benachteiligt?

Neben den Krankenhäusern, die mit ihren Ressourcen teilweise gefährlich nah am Limit sind, sorgt derzeit insbesondere der Mangel an Impfstoff für täglich neue Schlagzeilen. Lässt man das politische Schwarze-Peter-Spiel beiseite, so bleibt im Kern die Notwendigkeit und Herausforderung, eine Rangfolge festzulegen – zu priorisieren. Im Unterschied zur Organspende sind davon allerdings nicht einige Tausend Patienten, sondern alle Menschen betroffen. Der Mangel ist für alle spürbar. Eine transparente Priorisierungskultur in der Gesundheitsversorgung gibt es hierzulande nicht, stattdessen das politische Glaubensbekenntnis, dass alles für alle reicht. Jetzt reicht der Impfstoff jedoch definitiv erst einmal nicht.

Was die konkrete Priorisierung betrifft, fühlen sich derzeit vor allem zwei Gruppen benachteiligt: die niedergelassenen Ärzte sowie Behinderte. Inklusionsaktivist Raul Krauthausen kritisiert etwa, dass Behinderte oder chronisch Kranke, die nicht in einer Einrichtung, sondern zu Hause leben, vergessen worden seien. Als riskant kritisiert etwa der Präsident der Bundesärztekammer, Dr. Klaus Reinhardt, dass Niedergelassene in der Impfverordnung nicht mit der höchsten Priorität eingestuft worden sind. Ähnliches monieren etwa die ambulanten Operateure.

 

Von links: Inklusionsaktivist Raul Krauthausen, © Stefan Müller, CC BY 2.0, Dr. Klaus Reinhardt, Präsident der Bundesärztekammer und Rechtswissenschaftler Prof. Thorsten Kingreen © pag


Zuteilung von Lebenschancen

Mehrere Juristen haben dagegen mit der Verordnung an sich Probleme. Ihre Kritik lautet: Die durch eine Verordnung festgelegte Corona-Impfpriorisierung hätte eigentlich ein Gesetz sein müssen. Medizinrechtsanwalt Witte, der zu „Recht und Gerechtigkeit im Pandemiefall“ promoviert hat, vermisst eine parlamentarische Debatte über die Zuteilung und die Verabschiedung eines Bundesgesetzes zur Impfkampagne und Impfstoffzuteilung. Ähnlich klingt es kürzlich bei einer öffentlichen Anhörung im Gesundheitsausschuss des Bundestages. Dort stellt der Rechtswissenschaftler Prof. Thorsten Kingreen, Universität Regensburg, klar: Die grundsätzliche Frage nach einer Impfpriorisierung sei Aufgabe des Gesetzgebers, denn „es geht um die Zuteilung von Lebenschancen. In den nächsten Monaten werden Menschen nur deshalb sterben, weil für sie noch kein Impfstoff zur Verfügung stand“. Juristin Dr. Andrea Kießling, Ruhr-Universität Bochum, hält die Verordnung aus dem BMG für verfassungswidrig. „Das führt dazu, dass Einzelne natürlich klagen können“, sagt sie bei der Anhörung. Prof. Anna Leisner-Egensperger, ebenfalls Rechtswissenschaftlerin, vertritt dagegen eine andere Auffassung. Der Bundestag müsse regeln, dass priorisiert wird, welche Ziele eine Priorisierung zu verfolgen hat und die möglichen Priorisierungskriterien. „Dann muss die Aufstellung weiterer Priorisierungskriterien, einschließlich deren Rangfolge, verfassungsrechtlich zwingend an den Bundesgesundheitsminister delegiert werden.“ Allerdings vermisst die Professorin von der Friedrich-Schiller-Universität Jena eine eindeutige Rechtsgrundlage.

Diese juristischen Fragen scheinen lösbar zu sein – „einfach die Rechtsverordnung des Ministeriums nehmen, sie als Gesetzentwurf einbringen und das Problem ist in wenigen Tagen gelöst“, lautet beispielsweise Kingreens pragmatischer Vorschlag. Ungleich schwieriger ist derzeit abzuschätzen, wie die kollektive Mangelerfahrung der Bürger die Wahrnehmung des Gesundheitssystems langfristig beeinflussen wird. Dabei handelt es sich um ein System, das für Außenstehende schwer zu durchschauen ist und in dem implizite Priorisierungsfragen nur hinter verschlossenen Türen diskutiert werden. Möglich, dass das nicht länger hingenommen wird und kritische Nachfragen zunehmen. Die in den kommenden Jahren notwendig werdenden Einsparungen dürften eine solche Entwicklung begünstigen.

Triage: Viele offene Fragen
Der Gesundheitsausschuss des Bundestages hat sich Mitte Dezember mit Triage befasst. Die Vorsitzende des Deutschen Ethikrates, Prof. Alena Buyx, warnt insbesondere vor Ex-post-Triage, bei der eine laufende Behandlung zugunsten eines neuen Patienten mit besserer Prognose abgebrochen wird. Dies sei ethisch eine „ungeheuerliche Tragik“. Dr. Wiebke Pühler von der Bundesärztekammer weist darauf hin, dass die Prioritätensetzung während der Behandlung von Patienten immer Bestandteil ärztlicher Entscheidungen sei. Ärzte müssten Prioritäten setzen und könnten das auch. Sie mahnt, in der Pandemie sollten wegen einer möglichen Unterversorgung nicht nur die Intensivmedizin und Covid-19-Patienten in den Blick genommen werden, sondern alle medizinischen Bereiche – auch die ambulanten. Prof. Uwe Janssens von der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin hebt mit Blick auf Triage-Entscheidungen die Rechtsunsicherheit für Ärzte hervor, diese sei „unerträglich“. Auch der Jurist Stephan Rixen, ebenfalls Mitglied im Deutschen Ethikrat, kritisiert viele ungeklärte Fragen bezüglich der Triage. Er appelliert, die Diskriminierung bestimmter Patientengruppen müsse unbedingt ausgeschlossen werden.