Priorisierung, Rationierung, sozialer Unfriede

Berlin (pag) – Weniger Fallzahlen, mehr Personal: So stellt sich die Lage der stationären Versorgung laut „Krankenhaus Rating Report 2022“ dar. Zugrunde liegen Daten aus dem Jahr 2020. Zwar sehen die Zahlen nicht schlecht aus, aber für die Zukunft befürchten die Autoren Rationierung.

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Nur noch sieben Prozent der Häuser befinden sich demnach in erhöhter Insolvenzgefahr. 2019 waren es noch 14 Prozent. Verlust machten 28 Prozent der Kliniken (2019: 34) und das durchschnittliche Jahresergebnis beträgt 1,2 Prozent der Erlöse (2019: 0,6). Diese relativ günstige Entwicklung habe jedoch nichts mit strukturellen Veränderungen zu tun, sondern mit den Corona-Hilfsmaßnahmen, betonen die Autoren.
Die Pandemie sorgt allerdings in 2020 dafür, dass die stationäre Fallzahl um 13,5 Prozent zurückgegangen ist. In 2021 habe sich diese Lage kaum verändert, konstatiert Report-Verfasser Prof. Boris Augurzky vom Institute for Healthcare Business. Dass die Patienten in der Zahl wie vor der Pandemie zurückkommen, halten er und seine Kollegen für nicht realistisch. Der Report spricht außerdem von einem Personalzuwachs in der Pflege in 2020 von fünf Prozent. Im Zusammenspiel mit dem Fallzahlenminus sei so ein Rückgang der Arbeitsproduktivität von 16 Prozent entstanden.
Autor Dr. Adam Pilny, RWI – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung, thematisiert das Problem der nicht ausreichenden Investitionsfinanzierung der Länder. „Wenn man die Substanz der Krankenhäuser erhalten will, müsste man pro Jahr sieben bis acht Prozent der Erlöse reinvestieren.“ Die Länder leisteten 2020 aber nur 3,4 Prozent. Krankenhäuser schlössen diese Lücke nur zum Teil aus eigener Kraft, sodass es zu einem Substanzverzehr komme.

Klinikmanager: Rationierung ist schon da

In den kommenden Jahren würden zudem die Bedarfe und Wünsche stärker steigen als personelle und finanzielle Ressourcen, prognostiziert Augurzky. „Es droht Rationierung.“ Für diesen Fall hätte Dr. Matthias Bracht aus der Geschäftsführung des Klinikum Region Hannover gerne „Instrumente“ vom Gesetzgeber. Dass die kommen, glaubt Augurzky nicht. Sein Report-Kollege Dr. Sebastian Krolop, Vorstand der Healthcare Information and Management System Society, versichert Bracht: „Diese Instrumente wollen Sie nicht haben. Das würde für einen dermaßen sozialen Unfrieden sorgen.“ Währenddessen glaubt Dr. Gerhard Sontheimer, Vorstand des kommunalen ANregiomed-Klinikverbunds in Bayern: „Die erste Stufe der Rationierung ist die Priorisierung.“ An diesem Punkt befinde man sich bereits. Damit meint er das Verschieben oder gar Absagen elektiver Eingriffe.
Augurzky sagt, dass man die Probleme kurzfristig durch Vorhaltefinanzierung und Ambulantisierung begegnen könnte. Auch in der Digitalisierung schlummere Potenzial. „Ultrakurzfristig“ helfe aber nur eins: mehr Geld.
 
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Der Krankenhaus Rating Report 2022 „Vom Krankenhaus zum Geisterhaus?“ kann kostenpflichtig beim Verlag medhochzwei bestellt werden: www.medhochzwei-verlag.de/Shop/ProduktDetail/krankenhaus-rating-report-2022-978-3-86216-915-3

Das Triage-Problem

Ein Gesetzentwurf liegt vor, offene Fragen bleiben


Berlin (pag) – Das Bundesverfassungsgericht verlangt, dass Menschen mit Behinderungen per Gesetz im Fall einer möglichen coronabedingten Triage gesondert schützt werden. Ein erster Entwurf liegt vor. Unterdessen zeigt eine Diskussion zwischen Ärzten und Juristen, wie komplex die Priorisierung medizinischer Hilfeleistung ist.  

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Eine gesetzliche Klarstellung zur Triage ist aufgrund eines Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) Ende des vergangenen Jahres notwendig. Anlass dafür ist eine Verfassungsbeschwerde mehrerer Menschen mit Behinderungen, die im Falle einer COVID-19-bedingten Triage im Krankenhaus fürchten, aufgrund ihrer Behinderung Benachteiligungen zu erfahren.
Gemäß den aktuellen Empfehlungen medizinischer Fachgesellschaften um die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) soll die klinische Erfolgsaussicht als wichtigstes Kriterium bei der Priorisierung von Behandlungskapazitäten berücksichtigt werden. Eine gesetzliche Regelung existiert bislang nicht. Aus Sicht des Gerichts ein Versäumnis, das schnellstmöglich behoben werden soll. Der Gesetzgeber müsse dafür Sorge tragen, dass jede Benachteiligung wegen einer Behinderung bei der Verteilung knapper intensivmedizinischer Behandlungsressourcen hinreichend wirksam verhindert werde, so das Gericht im Dezember vergangenen Jahres. 



Mehraugenprinzip ist zentral

Mittlerweile existiert ein Gesetzesentwurf, ein Kabinettsbeschluss liegt bis Redaktionsschluss allerdings noch nicht vor. Im Entwurf vorgesehen ist ein neu einzuführender Paragraf 5c im Infektionsschutzgesetz. Dieser greift nach Vorstellungen der Regierungsfraktionen „bei der ärztlichen Entscheidung über die Zuteilung von pandemiebedingt nicht ausreichenden überlebenswichtigen, intensivmedizinischen Behandlungskapazitäten im Krankenhaus“. Kern der geplanten Regelung ist das Mehraugenprinzip, falls eine Triage notwendig wird. „Die Entscheidung […] ist von zwei mehrjährig intensivmedizinisch erfahrenen praktizierenden Fachärztinnen oder Fachärzten mit der Zusatzweiterbildung Intensivmedizin einvernehmlich zu treffen, die den Patienten oder die Patientin unabhängig voneinander begutachtet haben“, heißt es im Entwurf, bei dem es sich um eine Formulierungshilfe für die Ampelfraktionen handelt. Besteht kein Einvernehmen, müsse ein weiterer Arzt für eine mehrheitliche Entscheidung hinzugezogen werden. Behandelnde Krankenhäuser seien verpflichtet, nach dieser Regelung zu agieren und deren Einhaltung sicherzustellen. Außerdem sollen sie die Verfahrensabläufe regelmäßig für potenzielle Weiterentwicklungen überprüfen.
Mit Triage in Pandemiezeiten beschäftigt sich kürzlich auch eine Diskussionsveranstaltung der Ärztekammer Nordrhein. Dort hebt Nancy Poser hervor: Sollte es hierzulande zu Zuständen wie in Bergamo 2020 kommen, wäre dies ein Todesurteil für Menschen mit Behinderungen oder Komorbiditäten. Poser ist Richterin am Amtsgericht Trier und eine der Beschwerdeführerinnen vor dem BVerfG.

Triage per Randomisierung

Die Kläger kritisieren insbesondere das Kriterium der klinischen Erfolgsaussicht in der Leitlinie. Man müsse sich fragen, „ob nicht eine Entscheidung nach Erfolgswahrscheinlichkeit Menschen mit Behinderungen immer diskriminieren wird“, sagt Poser.

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Denn Ärzte seien nicht in der Lage, in einer solchen Stresssituation die Behinderung oder Komorbiditäten von Patienten außen vor zu lassen. Spezialisten für die jeweilige Erkrankung seien selten vor Ort. Bei der Priorisierung nach prognostizierter Erfolgswahrscheinlichkeit handele sich um eine gesellschaftliche und verfassungsrechtliche Kernfrage: „Ist es richtig, immer die vermeintlich Schwächeren zu opfern, um eine größere Anzahl vermeintlich Stärkerer zu retten?“
Wonach in einer Triage-Situation entschieden werden soll, habe das BVerfG nicht entschieden. Die Juristin schlägt als Alternative eine Randomisierung vor oder wer als erstes kommt, soll das Bett erhalten. Triage mittels Randomisierung könnte „eine faire Chance“ und weniger diskriminierend sein, stimmt Dr. Maria del Pilar Andrino, Leiterin des Gesundheitszentrums Franz-Sales-Haus in Essen, zu. DIVI-Präsident Prof. Gernot Marx lehnt dies hingegen ab: „Alles was ich als Arzt einbringen kann wäre dann weg, das kann nicht im Sinne unserer Patienten sein.“

Ambulante Vor-Triage

In den Intensivstationen ist es bisher nicht zu einer Triage gekommen, weil ambulant eine Vor-Triage stattgefunden hat, berichtet Andrino. „Das bedeutet, dass Menschen mit Behinderung überhaupt nicht abgeholt worden sind aus ihrem Zuhause und überhaupt nicht in die Klinik gebracht worden sind.“ Einige Ärzte hätten sich auch geweigert Patienten zu untersuchen, wenn diese aus medizinischen Gründen keine Maske tragen konnten.
Außerdem erinnert Andrino an die Schließung der Spezialstation für Menschen mit Behinderungen in Rummelsberg, da die Betten für COVID-Patienten freigehalten wurden, wofür die Klinik Freihaltepauschalen erhielt. Darum habe es eine Unterdiagnostik und Unterversorgung gegeben. Erschwerend komme hinzu, dass Menschen mit Behinderungen durch die Corona-Maßnahmen eine Rückentwicklung von Autonomie, Selbstbestimmung und Selbstständigkeit erfahren hätten.
Für Andrino ist die DIVI-Leitlinie ein „No-Go“. „Damit kann ich als Medizinerin nicht leben.“ Sie bezweifelt ferner, dass zwei Intensivärzte die richtige Wahl für das Vier-Augen-Prinzip sind, wie es der aktuelle Gesetzesentwurf vorsieht. Die DIVI begrüßt dagegen die vorgesehene Regelung ausdrücklich, ob zwei Fachärzte am geeignetsten sind, weiß Marx jedoch auch nicht.

DIVI hält an Erfolgsaussicht fest

Die Verteilung von Patienten nach dem Kleeblattprinzip hat laut Marx bisher Triage-Situationen auf den Intensivstationen verhindert. Seine Gesellschaft hält auch weiterhin am Kriterium der klinischen Erfolgsaussicht fest. „Man muss klar differenzieren, es geht tatsächlich um die akute Erkrankung“, sagt Marx. Die Ärzte sollen alle wesentlichen die Erfolgsaussicht beeinflussenden Faktoren berücksichtigen: aktuelle Erkrankung, Komorbiditäten und allgemeiner Gesundheitszustand. Der prämorbide Status stehe dabei „deutlich“ als letztes.

Gesetzgebung im Gesundheitsnotstand

Passau (pag) – Bei der Bekämpfung des Coronavirus SARS-CoV-2 steht der Gesetzgeber vor enormen Herausforderungen. Juristen der Universität Passau untersuchen jetzt Möglichkeiten und Grenzen eines einheitlichen rechtlichen Regelwerks.

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Die Corona-Pandemie ist für Bund und Länder auch in rechtlicher Hinsicht eine Herausforderung, auf die sie in Rekordzeit reagieren müssen. Rechtsexpertinnen und -experten der Universität Passau wollen Optionen für ein zusammenhängendes Regelwerk aufzeigen und Vorschläge für einen umfassenden Rechtsrahmen für den Fall eines Gesundheitsnotstands wie der durch das Coronavirus SARS-CoV-2 ausgelösten Pandemie entwickeln.
Die Frage einer Notstandsgesetzgebung wird in der juristischen Fachwelt in längeren zeitlichen Abständen immer wieder diskutiert. Ein einheitliches kohärentes Regelwerk, speziell für den Gesundheitsnotstand, existiert bisher aber weder auf Bundes- noch auf Landesebene. Mit Unterstützung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung nehmen Juristinnen und Juristen im Team von Prof. Hans-Georg Dederer im Projekt LegEmerge die Rolle des parlamentarischen Gesetzgebers auf beiden Ebenen unter die Lupe.



Sind die Grundrechtseingriffe verhältnismäßig?


Sie beschäftigen sich konkret mit folgenden Fragen: Welche Regelungen muss der parlamentarische Gesetzgeber selbst treffen? In welchem Umfang darf dabei die Exekutive ermächtigt werden, durch (Not-)Verordnungen parlamentsgesetzliche Vorschriften zu ändern, zu ergänzen, zu suspendieren oder aufzuheben? In diesem Zusammenhang werden sowohl die Vor- als auch die Nachteile von (mehr) Zentralisierung einerseits und (mehr) Föderalisierung andererseits untersucht. Ein weiterer Schwerpunkt des Projekts liegt auf den mit den staatlichen Pandemiemaßnahmen einhergehenden Beschränkungen der individuellen Grundrechte. Die staatlichen Maßnahmen sollen das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit schützen, greifen dadurch aber zugleich in eine Vielzahl anderer Grundrechte ein. Lassen sich diese Eingriffe rechtfertigen, sind sie insbesondere verhältnismäßig? Welchen Grad an Bestimmtheit und Regelungsdichte muss die gesetzliche Eingriffsgrundlage haben? Welche Rolle spielt dabei das Vorsorgeprinzip? Welchen Spielraum hat der Staat bei der Schaffung eines rechtlichen Rahmens in einem solchen Fall? Dies wollen die Wissenschaftler vertieft an der Triage-Problematik untersuchen. 



Weiterführender Link:
BMBF: Meldung vom 26.10.2020: Gesetzgebung im Gesundheitsnotstand

„… bloß nicht das Wort Triage in den Mund nehmen“

Dr. Tobias Witte zu gerechter Ressourcenallokation


Berlin (pag) – Wie steht es mit der Gerechtigkeit im Pandemiefall? Der Medizinrechtsanwalt Dr. Tobias Witte hat vor acht Jahren zu „Recht und Gerechtigkeit im Pandemiefall“ promoviert. Aktuell sieht er einigen Verbesserungsbedarf. Er vermisst beispielsweise eine parlamentarische Debatte über die Zuteilung und die Verabschiedung eines Bundesgesetzes zur Impfkampagne und Impfstoffzuteilung.

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Sie haben sich vor acht Jahren in Ihrer Dissertation mit „Recht und Gerechtigkeit im Pandemiefall“ beschäftigt. Wie gerecht geht es zu in der aktuellen Pandemie, insbesondere bezogen auf die Ressourcenallokation im Gesundheitswesen?

Dr. Tobias Witte: Gerechtigkeit ist natürlich ein sehr abstrakter Begriff mit vielen Facetten. Rechtsphilosophisch wird die Gleichheit nicht selten als Kern der Gerechtigkeit bezeichnet. Wenn wir die gleiche Behandlung von Umständen, die im Wesentlichen gleich sind, als Gleichheit definieren, dann ist zumindest wahrzunehmen, dass diese Form gerechter Verteilung von den beteiligten Akteuren im Gesundheitswesen angestrebt und vielfach auch erzielt wird.

Aber?

Dr. Tobias Witte: Bei knappen Ressourcen ist dies natürlich nicht immer möglich. Ich weiß aus meiner Arbeit als Fachanwalt für Medizinrecht, der eine Vielzahl an Ärzten berät, dass in manchen Krankenhäusern bereits Triage-ähnliche Entscheidungen getroffen werden müssen und dass die Geschäftsführung vorgibt, dabei bloß nicht das Wort „Triage“ in den Mund zu nehmen. Es stellt sich also die Frage, wann eine Zuteilung knapper Güter wie beispielsweise Intensivbetten gerecht ist – und dazu muss man Ziele und Kriterien bilden, die unserer Rechtsordnung standhalten. Die Maximierung der Überlebendenzahl ist ein solches zulässiges Ziel. Was viele jedoch als ungerecht empfinden, ist die gleichzeitige Intransparenz der Entscheidungen. Dies zeigt das obige Beispiel. Auch, wenn Ärzte und Pfleger bei Allokationsentscheidungen bestrebt sind, gerecht zu agieren, entstehen Ungerechtigkeitsempfindungen, da häufig nicht klar kommuniziert wird – und werden kann –, warum eine bestimmte Zuordnung erfolgt und eine andere nicht.

Mit steigenden Fallzahlen steigt die Sorge vor Triage-Entscheidungen in den Kliniken. Sind die deutschen Krankenhäuser mit den klinisch-ethischen Empfehlungen von Fachgesellschaften darauf ausreichend und rechtssicher vorbereitet?

Dr. Tobias Witte: Gerade auch die Intensivmediziner sind, dies ist meine Überzeugung, hierzulande fachlich exzellent aufgestellt, sodass bei Entscheidungen darüber, wie eine Triage zu erfolgen hat, die medizinischen Aspekte lege artis erfolgen werden. Triage kann im Notfall ja nur jemand anwenden, der die Kriterien – zumeist die Dringlichkeit und Erfolgsaussicht der Behandlung – fachlich anwenden kann. Aber es gibt eben nicht nur medizinische Vorgaben, sondern auch ethische und rechtliche. Aber es gibt kein Gesetz.

Inwiefern stellt das ein Problem dar?


Dr. Tobias Witte: Die Empfehlungen von Fachgesellschaften sind unverbindlich und im Übrigen auch stellenweise widersprüchlich. Ein Pneumologe aus Hamburg mag, auch auf Grundlage der Vorgaben seines Verbands, völlig anders entscheiden als ein Anästhesist aus München, der andere Empfehlungen las. Dies kann vor dem Hintergrund der anzustrebenden Gleichbehandlung nicht sein; rechtssicher ist das nicht. Je genauer ausgestaltet und je stärker demokratisch fundiert hier also die Vorgaben werden – was nur über eine gesetzliche Grundlage geschehen kann –, desto stärker entlastet man auch die Ärzte. Deren ohnehin schwerer Job in der Pandemie wird einfacher, wenn sie verlässliche Regeln haben, die auch einer späteren gerichtlichen Überprüfung des ärztlichen Handelns standhalten.

Sie haben sich mit der verfassungskonformen Verteilung lebensnotwendiger Impfstoffe im Hinblick auf die Priorisierung von Bevölkerungsgruppen und die Kostentragung auseinandergesetzt. Ist das gegenwärtige Vorgehen bezogen auf Priorisierung und Kosten verfassungskonform? Wo sehen Sie ggf. Nachholbedarf?

Dr. Tobias Witte: Die von der STIKO aufgestellten Kriterien für die Priorisierung der zu impfenden Gruppen sind sicherlich medizinisch und ethisch zulässig und, gerade auch vor dem Hintergrund der konkreten epidemiologischen Anforderungen des Sars-CoV-2-Virus, sinnvoll. Es sind jedoch nur Empfehlungen, die sodann rechtlich ihren Niederschlag in der Impfverordnung des Gesundheitsministeriums gefunden haben. Ein Parlamentsgesetz ist das nicht. Daher erachten viele Rechtswissenschaftler, unter anderem auch ehemalige Verfassungsrichter, die aktuelle Verteilungsregelung für nicht verfassungskonform. 




Teilen Sie diese Einschätzung?

Dr. Tobias Witte: 
Dies ist auch meine Ansicht: Was fehlt, ist eine parlamentarische Debatte über die Zuteilung und die Verabschiedung eines Bundesgesetzes zur Impfkampagne und Impfstoffzuteilung. Diese Impfkampagne wird das Leben jedes einzelnen Menschen in Deutschland auf die eine oder andere Weise beeinflussen. Das ist wesentlich – und wesentliche Entscheidungen, so auch eine Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts, muss der Gesetzgeber treffen. Als Ergebnis einer demokratischen, also parlamentarischen Entscheidungsfindung. Dies ist hier nicht geschehen. Dies muss nachgeholt werden, was im Übrigen auch die Impfakzeptanz in der Bevölkerung erhöhen könnte.

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Zur Person
Dr. Tobias Witte arbeitet als Fachanwalt für Medizinrecht bei der Kanzlei für Wirtschaft und Medizin. Er ist zertifizierter Datenschutzbeauftragter und Justiziar des Berufsverbandes der niedergelassenen Kinderchirurgen Deutschlands. Seine Promotion schrieb er vor einigen Jahren über: „Recht und Gerechtigkeit im Pandemiefall – Bevorratung, Verteilung und Kosten knapper Arzneimittel im Falle eines Seuchenausbruchs“. Darin beschäftigt er sich mit der Frage, ob die deutsche Rechtsordnung auf Pandemien vorbereitet ist.

„Priorisierung muss öffentlich diskutiert werden“

Prof. Birnbacher über Triage, Verteilungskriterien und Intransparenz

Berlin (pag) – 

Durch Corona werden ethische Fragen plötzlich akut, etwa wenn Priorisierungsentscheidungen zu treffen sind. Der Ethiker Prof. Birnbacher sagt im Interview, dass sich Priorisierungen nicht im Namen der Wissenschaft oder der wissenschaftlichen Medizin begründen lassen, sondern immer nur unter Berufung auf ethische Grundsätze. Er kritisiert, dass hierzulande eine offene Diskussion darüber noch immer gescheut wird.

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Weite Teile der deutschen Bevölkerung dürften im Zuge der Pandemie das erste Mal mit Mangel und Priorisierung im Gesundheitswesen konfrontiert sein, wie es ansonsten eigentlich nur Personen erleben, die auf ein Spenderorgan warten. Was macht das mit einer Überflussgesellschaft? Glauben Sie beispielsweise, dass davon die Zahlungsbereitschaft für neue Arzneimittel beeinflusst wird?

Prof. Birnbacher: Das hängt unter anderem davon ab, für welche Erkrankungen die neuen Arzneimittel gedacht sind und wie weit man sich durch sie individuell bedroht fühlt. Solange die neuen Arzneimittel der Behandlung ausgesprochen seltener Erkrankungen oder zum Lebenserhalt um eine relativ kurze Frist am Lebensende dienen, wird die Zahlungsbereitschaft begrenzt bleiben. Bei einer höheren Wahrscheinlichkeit, selbst betroffen zu sein, ist die Bereitschaft deutlich höher. Interessanterweise scheinen sich ja gegenwärtig auch Gentechnik-Gegner wenig daran zu stören, dass die wirksamsten Corona-Impfstoffe nicht nur gentechnisch hergestellt werden, sondern ein unmittelbares Resultat der Genforschung sind.

Gegenwärtig müssen Priorisierungsentscheidungen getroffen werden, z.B. über Rangfolgen beim Impfen oder bei Operationen. Findet dabei aus ethischer Sicht eine transparente Güterabwägung statt, die nachvollziehbar kommuniziert wird? 

Prof. Birnbacher: 
Im Unterschied zu anderen Ländern wird eine offene Diskussion über Priorisierung in Deutschland immer noch gescheut. Die daraus folgende Intransparenz – sei es der Beschlüsse des Gemeinsamen Bundesausschusses, sei es der medizinischen Fachgesellschaften oder der gesetzlichen Versicherungen – ist einer Demokratie eigentlich nicht würdig. Priorisierungen lassen sich nicht im Namen der Wissenschaft oder der wissenschaftlichen Medizin begründen, sondern immer nur unter Berufung auf ethische Grundsätze. Da diese häufig kontrovers sind, müssen sie in einer Demokratie öffentlich diskutiert werden. Ich verbuche es als zumindest einen Schritt in die richtige Richtung, dass bei den für die eventuelle Triage bei der Behandlung schwerer Corona-Fälle unter Federführung der DIVI verfassten Richtlinien der einschlägigen medizinischen Fachgesellschaften unter anderem auch die Akademie für Ethik in der Medizin einbezogen worden ist, bei den Priorisierungsempfehlungen der Impfkommission des Robert Koch-Instituts die Leopoldina und der Deutsche Ethikrat. Für die Zukunft wäre allerdings eine gesetzliche Grundlage wünschenswert.

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Haben Sie den Eindruck, dass im Zuge der Pandemie der öffentliche Stellenwert von medizinethischen Erwägungen gestiegen ist? Der deutsche Ethikrat ist derzeit ja ziemlich präsent in den Nachrichten.

Prof. Birnbacher: 
In Krisensituationen, mit denen niemand gerechnet hat und in denen unter Zeitdruck schwerwiegende Entscheidungen getroffen werden müssen, werden ethische Fragen, die ansonsten in Seminaren mehr oder weniger hypothetisch diskutiert werden, auf einen Schlag akut. Das galt vor einigen Jahren – in kleinerem Maßstab – für die Frage der Verteilungskriterien für Lebertransplantate angesichts verschiedener Missbräuche, das gilt gegenwärtig – in größerem Maßstab – für die Frage der gerechten Verteilung von Intensivbetten und Impfstoffen und für die Frage eines möglichen Impfzwangs. Der Deutsche Ethikrat hat dabei wie viele andere Beratungskommissionen die nicht unwichtige Funktion, die Verantwortung für Entscheidungen dieser Größenordnung auf mehrere Schultern zu verteilen, auch wenn die letzte Verantwortung selbstverständlich bei den politischen Institutionen verbleibt.

Zur Person
Prof. Dieter Birnbacher, Leopoldina-Mitglied und Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben, ist Philosoph mit Schwerpunkt Ethik. Er war unter anderem Vorsitzender der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer. Birnbacher forscht unter anderem zu ethischen und anthropologischen Grundlagen- und Anwendungsproblemen der modernen Medizin: Organtransplantation, Reproduktionsmedizin, Sterbehilfe, Verteilungsgerechtigkeit im Gesundheitssystem, Stammzellforschung sowie Gentechnik.

Mangel im Gesundheitswesen

Die Pandemie zwingt zur offenen Priorisierung

Berlin (pag) – Corona verlangt Menschen überall auf der Welt ab, sich mit vorher zum Teil undenkbaren Umständen zu arrangieren. Für die meisten Deutschen dürfte dazu auch gehören: mit Mangel in einem Gesundheitswesen konfrontiert zu sein, das sich selbst stets als „das beste der Welt“ preist.

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Einen richtig dramatischen, bitteren Mangel kennen hierzulande bislang vor allem jene rund 9.000 Menschen, die auf der Warteliste für ein Spenderorgan stehen. Die Rationierung der Nieren, Herzen, Lungen etc. erfolgt nach etablierten Kriterien, die nicht hinterfragt werden. Erfreulich ist nebenbei bemerkt, dass hierzulande offenbar die Zahl der Organspender in 2020 trotz Pandemie stabil geblieben ist.
Das Thema Mangel schleicht sich darüber hinaus in dieser Legislatur zunehmend als Dauerzustand in Form von Liefer- bzw. Versorgungsengpässen von Arzneimitteln ein. Durch Corona gestörte Lieferketten verstärken die Problematik. Gegenmaßnahmen, deren Wirksamkeit sich noch beweisen muss, hat die große Koalition mit dem Fairer-Kassenwettbewerb-Gesetz ergriffen. Arznei als Mangelware hat es zwar in die eine oder andere Schlagzeile geschafft, verharrt aber in den Publikumsmedien weiter als Nischenthema.

Das Tabu-Wort: Triage

Bei Corona hingegen geht es von Anfang an um Knappheit: Zuerst wurde um Beatmungsgeräte gebangt. Derzeit wird die Kapazität an Intensivbetten ängstlich beobachtet, wobei die entscheidendere Frage uns zur nächsten Ressourcenknappheit führt: ausreichend Fachpersonal, um die Patienten adäquat zu versorgen. Der Begriff Triage wird dabei ängstlich vermieden. Dabei weisen Experten wie der Medizinrechtsanwalt Dr. Tobias Witte darauf hin, dass in manchen Krankenhäusern bereits „Triage-ähnliche Entscheidungen getroffen“ werden müssen – allerdings vermeide es die Geschäftsführung, das Wort „Triage“ in den Mund zu nehmen. Die im Frühjahr formulierten Empfehlungen von Fachgesellschaften für jene Ärzte, die im schlimmsten Fall darüber entscheiden müssen, welcher Patient eine Behandlung erhält und welcher nicht, reichen nach Ansicht des Juristen nicht aus. „Je genauer ausgestaltet und je stärker demokratisch fundiert hier also die Vorgaben werden – was nur über eine gesetzliche Grundlage geschehen kann –, desto stärker entlastet man auch die Ärzte“, argumentiert er im Interview.

Wer fühlt sich benachteiligt?

Neben den Krankenhäusern, die mit ihren Ressourcen teilweise gefährlich nah am Limit sind, sorgt derzeit insbesondere der Mangel an Impfstoff für täglich neue Schlagzeilen. Lässt man das politische Schwarze-Peter-Spiel beiseite, so bleibt im Kern die Notwendigkeit und Herausforderung, eine Rangfolge festzulegen – zu priorisieren. Im Unterschied zur Organspende sind davon allerdings nicht einige Tausend Patienten, sondern alle Menschen betroffen. Der Mangel ist für alle spürbar. Eine transparente Priorisierungskultur in der Gesundheitsversorgung gibt es hierzulande nicht, stattdessen das politische Glaubensbekenntnis, dass alles für alle reicht. Jetzt reicht der Impfstoff jedoch definitiv erst einmal nicht.

Was die konkrete Priorisierung betrifft, fühlen sich derzeit vor allem zwei Gruppen benachteiligt: die niedergelassenen Ärzte sowie Behinderte. Inklusionsaktivist Raul Krauthausen kritisiert etwa, dass Behinderte oder chronisch Kranke, die nicht in einer Einrichtung, sondern zu Hause leben, vergessen worden seien. Als riskant kritisiert etwa der Präsident der Bundesärztekammer, Dr. Klaus Reinhardt, dass Niedergelassene in der Impfverordnung nicht mit der höchsten Priorität eingestuft worden sind. Ähnliches monieren etwa die ambulanten Operateure.

 

Von links: Inklusionsaktivist Raul Krauthausen, © Stefan Müller, CC BY 2.0, Dr. Klaus Reinhardt, Präsident der Bundesärztekammer und Rechtswissenschaftler Prof. Thorsten Kingreen © pag


Zuteilung von Lebenschancen

Mehrere Juristen haben dagegen mit der Verordnung an sich Probleme. Ihre Kritik lautet: Die durch eine Verordnung festgelegte Corona-Impfpriorisierung hätte eigentlich ein Gesetz sein müssen. Medizinrechtsanwalt Witte, der zu „Recht und Gerechtigkeit im Pandemiefall“ promoviert hat, vermisst eine parlamentarische Debatte über die Zuteilung und die Verabschiedung eines Bundesgesetzes zur Impfkampagne und Impfstoffzuteilung. Ähnlich klingt es kürzlich bei einer öffentlichen Anhörung im Gesundheitsausschuss des Bundestages. Dort stellt der Rechtswissenschaftler Prof. Thorsten Kingreen, Universität Regensburg, klar: Die grundsätzliche Frage nach einer Impfpriorisierung sei Aufgabe des Gesetzgebers, denn „es geht um die Zuteilung von Lebenschancen. In den nächsten Monaten werden Menschen nur deshalb sterben, weil für sie noch kein Impfstoff zur Verfügung stand“. Juristin Dr. Andrea Kießling, Ruhr-Universität Bochum, hält die Verordnung aus dem BMG für verfassungswidrig. „Das führt dazu, dass Einzelne natürlich klagen können“, sagt sie bei der Anhörung. Prof. Anna Leisner-Egensperger, ebenfalls Rechtswissenschaftlerin, vertritt dagegen eine andere Auffassung. Der Bundestag müsse regeln, dass priorisiert wird, welche Ziele eine Priorisierung zu verfolgen hat und die möglichen Priorisierungskriterien. „Dann muss die Aufstellung weiterer Priorisierungskriterien, einschließlich deren Rangfolge, verfassungsrechtlich zwingend an den Bundesgesundheitsminister delegiert werden.“ Allerdings vermisst die Professorin von der Friedrich-Schiller-Universität Jena eine eindeutige Rechtsgrundlage.

Diese juristischen Fragen scheinen lösbar zu sein – „einfach die Rechtsverordnung des Ministeriums nehmen, sie als Gesetzentwurf einbringen und das Problem ist in wenigen Tagen gelöst“, lautet beispielsweise Kingreens pragmatischer Vorschlag. Ungleich schwieriger ist derzeit abzuschätzen, wie die kollektive Mangelerfahrung der Bürger die Wahrnehmung des Gesundheitssystems langfristig beeinflussen wird. Dabei handelt es sich um ein System, das für Außenstehende schwer zu durchschauen ist und in dem implizite Priorisierungsfragen nur hinter verschlossenen Türen diskutiert werden. Möglich, dass das nicht länger hingenommen wird und kritische Nachfragen zunehmen. Die in den kommenden Jahren notwendig werdenden Einsparungen dürften eine solche Entwicklung begünstigen.

Triage: Viele offene Fragen
Der Gesundheitsausschuss des Bundestages hat sich Mitte Dezember mit Triage befasst. Die Vorsitzende des Deutschen Ethikrates, Prof. Alena Buyx, warnt insbesondere vor Ex-post-Triage, bei der eine laufende Behandlung zugunsten eines neuen Patienten mit besserer Prognose abgebrochen wird. Dies sei ethisch eine „ungeheuerliche Tragik“. Dr. Wiebke Pühler von der Bundesärztekammer weist darauf hin, dass die Prioritätensetzung während der Behandlung von Patienten immer Bestandteil ärztlicher Entscheidungen sei. Ärzte müssten Prioritäten setzen und könnten das auch. Sie mahnt, in der Pandemie sollten wegen einer möglichen Unterversorgung nicht nur die Intensivmedizin und Covid-19-Patienten in den Blick genommen werden, sondern alle medizinischen Bereiche – auch die ambulanten. Prof. Uwe Janssens von der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin hebt mit Blick auf Triage-Entscheidungen die Rechtsunsicherheit für Ärzte hervor, diese sei „unerträglich“. Auch der Jurist Stephan Rixen, ebenfalls Mitglied im Deutschen Ethikrat, kritisiert viele ungeklärte Fragen bezüglich der Triage. Er appelliert, die Diskriminierung bestimmter Patientengruppen müsse unbedingt ausgeschlossen werden.

Plötzlich Rationierung

Das Gesundheitswesen bereitet sich auf harte Entscheidungen vor

Mangelerfahrungen sind im deutschen Gesundheitswesen bisher die Ausnahme. Rationierung, die Zuteilung nur beschränkt vorhandener Güter, erfahren bisher vor allem jene Menschen, die auf der Warteliste für ein neues Herz oder eine neue Niere stehen. Jetzt ist die gesamte Bevölkerung mit einer drohenden Unterversorgung konfrontiert.

Die bangen Fragen, die alle umtreiben: Werden die Intensivbetten ausreichen? Haben wir genügend Beatmungsgeräte? Und wie steht es mit den Ärztinnen und Ärzten sowie den Pflegekräften – können sie die steigenden Patientenzahlen bewältigen? Mit Blick auf die Bilder und Berichte aus Italien geht es außerdem um eine Frage, die bisher ein Tabu darstellt: Wer wird behandelt und wer nicht? Wer muss sterben?

Priorisierung nach Alter oder Erfolgsaussicht?

In Italien ist es das Alter, das in dieser Krisensituation den Ausschlag gibt, ob ein Patient aufgegeben wird oder nicht. Für Ärzte stellt eine solche Entscheidung – zumal wenn sie ohne Unterstützung oder Richtschnur getroffen werden muss – eine unvorstellbare Belastung dar. Deshalb hat der Deutsche Ethikrat in seiner jüngst veröffentlichten Ad-hoc-Empfehlung ausdrücklich davor gewarnt, den einzelnen Ärzten die Verantwortung aufzubürden, in Situationen katastrophaler Knappheit über Leben und Tod zu entscheiden. Mehrere Fachgesellschaften haben sich inzwischen auf eine gemeinsame klinisch-ethische Empfehlung geeinigt: Die Priorisierung solle sich am Kriterium der klinischen Erfolgsaussicht orientieren, sagen die Experten. Vorrangig werden dann diejenigen Patienten notfall- oder intensivmedizinisch behandelt, die dadurch eine höhere Überlebenswahrscheinlichkeit haben.

Verteilungsgerechtigkeit im Fokus

Nicht nur in der Intensivmedizin stehen Priorisierungsentscheidungen an. Auch die Verteilung eines hoffentlich in absehbarer Zeit zur Verfügung stehenden Impfstoffes wirft Verteilungsfragen auf. Offensichtlich ist, dass Ärzte und Pflegende zuerst geimpft werden sollen. Bei der exakten Definition der Risikogruppen und deren Rangfolge dürfte es schon schwieriger werden. Und ein Wettrennen der verschiedenen Staaten auf den Impfstoff muss vermieden werden. Die Donald-Trump-Maxime „America First“ darf nicht gelten. Auch Lotterien sind keine Lösung. Ganz grundsätzlich geht es darum, wie weit eine Gesellschaft bereit ist zu gehen, um die Zahl der Covid-19-Toten möglichst gering zu halten. „Nur wenig sind wir auf die Frage vorbereitet, welche Obergrenzen für monetäre, soziale und gesundheitliche Kosten wir bereit sind zu akzeptieren“, merkt der Medizinethiker Prof. Daniel Strech an.
Wir sollten diese Frage ernst nehmen.

 

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Dr. Michael de Ridder: „Das Leben eines 20-Jährigen ist nicht wertvoller als das eines 60-Jährigen“

Nachgefragt bei Dr. Michael de Ridder, Rettungsmediziner

 

Berlin (pag) – Sind Ärzte auf Triage-Entscheidungen vorbereitet, wollen wir von Dr. Michael de Ridder wissen, der viele Jahre eine Rettungsstelle in Berlin-Kreuzberg geleitet hat. Er stellt klar: Jede Behandlungsentscheidung hat sich am Bedarf des einzelnen Patienten zu orientieren. Dass in Italien der 70-jährige beatmungspflichtige Corona-Patient wegen seiner geringeren Lebenserwartung gegenüber dem 30-jährigen per se den Kürzeren zieht, ist für ihn unethisch und nicht vertretbar.

Sind Ärzte auf Triage-Entscheidungen vorbereitet?

Dr. Michael de Ridder: Triage-Entscheidungen zu treffen erfordert erfahrene Fachärzte, das heißt Internisten und Chirurgen mit breiter rettungsmedizinischer und intensivmedizinischer Ausbildung und Praxis; auch Pflegekräfte sind unbedingt hinzuzuziehen – nur so können rasch medizinisch und ethisch vertretbare Behandlungsentscheidungen getroffen werden. Transparenz gegenüber Patienten, Angehörigen und eventuell juristischen Vertretern ist zudem unabdingbar. Wir dürfen davon ausgehen, dass an deutschen Krankenhäusern kompetente Notfallmediziner in ausreichender Zahl vorhanden sind.

Wie bewerten Sie die aktuellen klinisch-ethischen Empfehlungen diverser deutscher intensiv- und notfallmedizinischer Fachgesellschaften zur Zuteilung von Ressourcen?

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de Ridder: Denen schließe ich mich weitestgehend an. Grundsätzlich gilt: Jede Behandlungsentscheidung hat sich am Bedarf des einzelnen Patienten zu orientieren, das heißt, ihr ist eine medizinische und individualethische Beurteilung des Krankheitszustandes des Patienten zugrunde zu legen. Mit anderen Worten: Zwei Menschenleben sind nicht wertvoller als ein einzelnes, und das Leben eines 20-Jährigen ist nicht wertvoller als das eines 60-Jährigen.

Dieses Prinzip wird in Italien offenbar nicht verfolgt.

de Ridder: Die italienischen Fachgesellschaften haben Empfehlungen herausgegeben, die bei Nichtvorhandensein ausreichender intensivmedizinischer Ressourcen als Kriterium nicht die individuelle medizinische Behandlungsbedürftigkeit zugrunde legen, sondern das Kriterium der Maximierung der Jahre geretteten Lebens. Das bedeutet: Der 70-jährige beatmungspflichtige Corona-Patient zieht wegen seiner geringeren Lebenserwartung gegenüber dem 30-jährigen per se den Kürzeren! Dieses Vorgehen halte ich für unethisch und damit nicht vertretbar.

Sie haben in der Vergangenheit nicht mit Kritik am Medizinbetrieb gespart. Wird dieser dem Stresstest durch Corona standhalten?    

de Ridder: Auch wenn unser Gesundheitssystem – gemessen an den Kriterien Leistungsfähigkeit und Verteilungsgerechtigkeit – als das beste der Welt gelten darf, wird es diesen Stresstest nur bestehen können, wenn zugleich die unserer Gesellschaft jetzt empfohlenen und verordneten Präventionsmaßnahmen strikt befolgt werden. Die so oft zitierten Begriffe „Solidargesellschaft“ und „Solidarisches Gesundheitssystem“, die im internationalen Vergleich so oft zur Charakterisierung unserer Gesellschaft herangezogen werden, müssen sich nun beweisen, sollen sie nicht zu einer Worthülse verkommen.

Wie sieht es mit den materiellen Ressourcen aus?

de Ridder: Wir verfügen aktuell über 28.000 Intensivbetten und 25.000 Beatmungsplätze und sind damit bestens aufgestellt. Das Nadelöhr bei der derzeitigen intensivmedizinischen Versorgung stellen indes die 4.800 fehlenden Intensivschwestern und -pfleger dar! Wichtig ist dabei: Höchste Priorität bei allen dem Infektionsschutz geltenden Maßnahmen muss den Pflegekräften sowie den Ärzten und Ärztinnen gelten, denn sie sind unsere derzeit wichtigste Ressource. Ohne ihre Arbeitsfähigkeit wird unsere Krankenversorgung zusammenbrechen.

Sind Sie optimistisch, dass die Verantwortlichen in Politik und System aus dieser Krise die richtigen Lehren ziehen werden?

de Ridder: Optimismus? Zu früh. Hoffnung? Ja. In diesen Corona-Zeiten ist oft von „Systemrelevanz“ die Rede und davon, was oder wer systemrelevant ist. Dass auch Kranken- und Altenpflegekräfte sowie Supermarktkassierer und -kassiererinnen tatsächlich systemrelevant sind, sollte nun allen, insbesondere Politikern, klar geworden sein. Selbiges immer aufs Neue rhetorisch zu benennen, ja, wie kürzlich im Bundestag und auf den Balkonen der Großstädte mit Beifall zu würdigen, ist eine schöne Geste – nicht mehr und nicht weniger. Anerkennung muss von Dauer sein und muss sich auch materiell widerspiegeln: Also hoffe ich kurzfristig auf ein kräftiges Gehalts- bzw. Lohnplus für diese Berufsgruppen. Über die Medizin hinaus birgt Corona für mich eine weitere Aufforderung.

Welche?

de Ridder: Über die Priorisierung persönlicher und gesellschaftliche Werte und Desiderate, Komponenten von dem, was wir Lebenszufriedenheit nennen, neu nachzudenken: zur Besinnung kommen und im Interesse aller nach einer neuen, besseren Ordnung suchen – Triage eben. Eine gewaltige Herausforderung. Corona kann vielleicht zu einem Impulsgeber werden; sie anzunehmen und nach neuen Antworten auf vermeintlich alte Fragen zu suchen wäre schon ein großer Gewinn, und die Corona-Erfahrung wäre, wenn das Virus irgendwann seine Macht verloren haben sollte, nicht folgenlos verpufft.

Archivaufnahme: Übung einer großen Katastrophenlage in Wiesbaden, Oktober 2014. Die dargestellten Opfer sind Freiwillige. © iStock.com, ollo

Ersteinschätzung, Triage und das Manchester-Triage-System
Strukturierte Triage-Instrumente werden außer im Katastrophenfall auch in der regulären Medizin in Notaufnahmen eingesetzt, hier auch als Ersteinschätzung bezeichnet. Obwohl die Ersteinschätzung eigentlich als Spezialfall der Triage angesehen werden könnte, unterscheidet sie sich von ihr in einem wesentlichen Punkt: Im außerklinischen Bereich gilt es, die lokal oder temporal limitiert verfügbaren Ressourcen möglichst effizient einzusetzen, d. h. das Ziel möglichst vieler Überlebender zu erreichen. Im klinischen Bereich ist die Grundannahme aber, dass ausreichende Ressourcen zur Verfügung stehen, um alle Patienten optimal zu behandeln. Dadurch gibt es keinen Konflikt zwischen individuellem und Gesamtnutzen. In deutschsprachigen Notaufnahmen hat sich das Manchester-Triage-System durchgesetzt, das symptombasierte, schnelle, verlässliche und reproduzierbare Entscheidungen nach einem Punktesystem ermöglicht. Durch die strukturierte Vorgehensweise ist zu erwarten, dass schwer erkrankte Notfallpatienten zeitnah erkannt werden und umgehend die notwendige Diagnostik und Therapie erhalten.

Zur Person
Dr. Michael de Ridder war viele Jahre im ärztlichen Beruf tätig. Zuletzt arbeitete er als Chefarzt der Rettungsstelle eines Berliner Krankenhauses und als Geschäftsführer des von ihm mitbegründeten Vivantes Hospiz. Als Vorsitzender einer Stiftung für Palliativmedizin befasst er sich seit vielen Jahren kritisch mit dem Fortschritt in der Medizin, ein von ihm veröffentlichtes Buch trägt den Titel „Welche Medizin wollen wir?“

„Das ist doch kein Leben!“

Mangel und Rationierung bei Palliative Care in der Geriatrie

Berlin (pag) – Eine ungleiche Verteilung von Kompetenzen und Versorgung bei Palliative Care – zugunsten von Jüngeren, Krebserkrankten, Schmerzpatienten und sozio-ökonomisch Höhergestellten – kritisiert Prof. Ralf Jox, Universität München und Lausanne. „Ältere Menschen, Menschen mit chronischen, neurologischen, psychiatrischen Erkrankungen haben weniger Zugang“, sagt der Mediziner auf einer Veranstaltung in Berlin.

„Das ist doch kein Leben! Warum Palliative Geriatrie nicht nur im Sterben hilft“ lautet der Titel der Tagung, die das Kompetenzzentrum Palliative Geriatrie des Unionhilfswerkes im Oktober veranstaltet. Dort hebt Jox hervor, dass die palliativen und geriatrischen Defizite insbesondere in der ambulanten Versorgung – je nach Region – nach wie vor deutlich seien. Als Herausforderungen nennt der Experte: Alte Patienten sind oft multimorbid und leiden an komplexen Symptomen. Die Häufigkeit der Symptome ist Studien zufolge am Lebensende bei Menschen mit chronischen Lungen- und Herzerkrankungen oder mit Demenz nicht unbedingt geringer als bei Krebspatienten. Komplexe psycho-soziale Situationen treten auch im Alter auf, häufig wegen Vereinsamung. Und: In der palliativen Geriatrie sind Menschen öfter nicht mehr urteils- und einwilligungsfähig. Jox fordert daher: „Es braucht diese spezialisierte Palliative Care auch bei Alten.“ Außerdem macht er sich für das Konzept der gesundheitlichen Versorgungsplanung stark (Advanced Care Planing). Dabei geht es darum, die Präferenzen und Wünsche der Betroffenen – wie und wo sie sterben möchten, wie sie davor leben – in der Versorgungswirklichkeit umzusetzen. Vorgesehen ist dafür zu Beginn ein professionell unterstützter Gesprächsprozess mit Patienten und Angehörigen. Darauf basierend werden Dokumente der Vorausplanung wie Patientenverfügungen erstellt, „und zwar so formuliert, dass sie komplett tragfähig sind“, hebt Jox hervor. Als dritte Säule sind für die lokale und regionale Umsetzung die Schulung derjenigen vorgesehen, „die später Entscheidungen zu treffen haben“, wie es Jox ausdrückt. Gemeint sind damit der Rettungsdienst sowie Ärzte im Krankenhaus und im Pflegeheim. Sie sollen unter anderem lernen, wie sie solche Dokumente finden und damit umgehen.

 

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PALLIATIVE GERIATRIE – WAS IST DAS?
Palliative Geriatrie beschreibt einen interdiszi-plinär angelegten Betreuungsansatz für hochbetagte, von Demenz betroffene und/oder sterbende Menschen, der sowohl kurative als auch palliative Maßnahmen vereint. 2004 starteten das „Kompetenzzentrum Palliative Geriatrie“, ein Projekt der Unionhilfswerk Senioren-Einrichtungen gemein-nützige GmbH. Die Fachgesellschaft Palliative Geriatrie (FGPG) ist eine Organisation von Altenpflegern, Wissenschaftlern, Ärzten, Hospizen und Palliative Care Fachkräften sowie Ehrenamtlichen. Sie wurde 2015 gegründet.

Alltag und Genießen für Sterbende

Auf der Tagung werden auch Unterschiede beim Umgang mit dem Sterben zwischen Deutschland, Österreich und der Schweiz erörtert. Dr. Roland Kunz von der universitären Klinik für Akutgeriatrie im Stadtspital Waid, beobachtet etwa mit Sorge, dass sich in der Schweiz die Debatte, welches Leben lebenswert sei und welches nicht, stark auf Leistung fokussiere. „Wir müssen uns auf das individuelle Ziel unserer Patienten konzentrieren“, verlangt er. Prof. Katherina Heimerl aus Wien berichtet von einer parlamentarischen Enquete-Kommission, die sich 2015 mit dem Thema „Leben und Sterben in Würde“ befasst hat. „Im Diskurs fehlte die Sicht der Betroffenen“, kritisiert sie. Aus einer Befragung von Menschen, die mit dem Sterben unmittelbar konfrontiert sind, hebt sie drei Botschaften hervor: Erstens gebe es auch für sterbende Menschen und die sie begleitenden Personen einen Alltag. Zweitens gehe es auch am Lebensende darum, das Leben zu genießen. Und drittens seien für die Betroffenen nicht so sehr die Sterbeorte wie Hospiz oder Pflegeheim von Bedeutung, sondern die Sterbewelten. Damit gemeint sei nicht der organisatorische, sondern der soziale Zusammenhang.

Sterbehilfe unter Bedingungen des Mangels

Aus deutscher Perspektive stellt Dirk Müller, Leiter Hospiz und palliative Geriatrie im Unionhilfswerk, das Thema Sterbehilfe in den Mittelpunkt. Aus seiner Erfahrung fragten die meisten Menschen im Hospiz nicht nach Sterbehilfe. Anders sehe es oft in Pflegeheimen und Krankenhäusern aus, wo es viele Menschen aufgrund der dortigen Bedingungen als würdevoller empfänden, wenn ein Sterben ermöglicht werde. „Wir stehen vor der großen Misere der Rahmenbedingungen“, sagt der Altenpfleger. Seine These lautet: Schlechte Rahmenbedingungen, schlecht behandeltes Personal, nicht kompetente Mitarbeiter oder Mitarbeiter, die ihre Kompetenzen nicht einbringen können, führten dazu, dass Sterbehilfe praktiziert werde. Der Gesetzgeber solle daher überlegen, „wie wir zu Bedingungen kommen, die ein gutes Leben und Sterben möglich machen“. Unter Bedingungen des Mangels über Sterbehilfe zu diskutieren hält Müller für schwierig – „und unter denen arbeiten wir hier“.

 

RATIONIERUNG BEI DEN BESONDERS VERLETZLICHEN
Obwohl die Alten in unserer Gesellschaft ein wichtiger Faktor seien, gibt es Jox zufolge noch immer eine „Abwertung des Alten“. Ältere Menschen sind dem Mediziner zufolge aufgrund ihrer altersbedingten funktionellen Einschränkungen, der oft chronischen Multimorbidität, zunehmend löchrig werdenden sozialen Netzen und der Inkongruenz mit gesellschaftlichen Imperativen wie Mobilität, Technologie und Leistung eine vulnerable Bevölkerungsgruppe. Damit sieht Jox folgende Risiken im Gesundheitswesen verbunden: mangelnde Aufklärung, Unterbehandlung und Vernachlässigung, implizite und explizite Altersrationierung, Überbehandlung sowie ungerechtfertigte Zwangsbehandlung.