Nachgefragt bei Prof. Mazda Adli, Psychiater
Was macht diese Krise mit einer ohnehin schon ängstlicher werdenden Gesellschaft?
Prof. Mazda Adli: Wir merken im Moment alle, dass wir ängstlicher und unsicherer werden. Der Grund dafür ist, dass unser Leben, unsere üblichen Routinen in kürzester Zeit komplett auf den Kopf gestellt worden sind – und das flächendeckend. Wir haben es gleichzeitig mit einer Risikosituation zu tun, die für den Einzelnen nach wie vor sehr schwer bezifferbar bleibt. Ein unsichtbares Virus zu verstehen, ist sehr schwierig und die epidemiologischen Zahlen richtig zu deuten, ist auch sehr schwierig. Dann ist das Thema im Moment unglaublich präsent. Es gibt kaum noch ein anderes Thema als Corona, wenn man die Nachrichten schaut. Und diese Mischung facht zusätzlich noch Angst an, sodass man das Gefühl hat, hilflos einer unkontrollierbaren Situation ausgeliefert zu sein – was man ja eigentlich nicht ist. Aus einer psychologischen Perspektive betrachtet führt das dann zur Verunsicherung und bei vielen Menschen zu starken Ängsten und bei einigen gar zu irrationalen Ängsten. Das erleben wir im Moment. Jetzt fragen Sie ja nach einer ohnehin schon ängstlicher werdenden Gesellschaft.
Genau.
Adli: Wir sind in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten insgesamt ängstlicher geworden und haben spürbar mehr Sicherheits- und Absicherungsbedürfnis entwickelt. Das merkt man daran, dass unsere Autos immer größer werden und damit auch die Knautschzonen, Kinder werden vor der Schule abgesetzt und so weiter. Der Trend ging auch schon vor Corona hin zu etwas mehr Ängstlichkeit. Dort, wo mehr Sicherheitsbedürfnis besteht, ist auch gleichzeitig das Kontrollbedürfnis groß – also, dass die Dinge um einen herum in kontrollierter Weise ablaufen. Und das ist in Pandemiezeiten, in denen wir gerade leben, überhaupt nicht der Fall. Gefühlt geht das bei einigen bis hin zum Kontrollverlust.
Inwiefern sind Psychiater und Psychotherapeuten jetzt in besonderer Weise gefragt. Oder schlägt ihre Stunde erst nach der Krise?
Adli: Nein. Ich kann berichten, dass schon jetzt der Bedarf an Hilfe steigt. Wir erleben es in meiner Klinik: Menschen mit psychischer Vorerkrankung, die lange Jahre stabil waren, dekompensieren jetzt plötzlich, weil sie mit der neuen Situation ganz schlecht klarkommen, die Isolation zu Hause schwer zu ertragen ist. Wir erleben aber auch, dass Menschen ohne jedwede psychische Vorerkrankung den Bedarf an psychotherapeutischer Hilfe anmelden. Wir müssen im Moment mehr für Kriseninterventionen tun. Ich rechne mit einer weiteren deutlichen Zunahme des psychiatrischen Hilfebedarfs in den nächsten Wochen.
Kann unser Gesundheitswesen das überhaupt noch packen? Schon vor der Krise gab es keine ausreichenden Kapazitäten für psychiatrische Behandlungen und Psychotherapien.
Adli: Ich denke, wir werden noch größere Engpässe erleben, viele Menschen sind jetzt schon schwer psychisch belastet. Wie das werden soll, müssen andere beantworten. Die Bedarfsplanung orientiert sich an krisenfreien Zeiten. Und da sind kaum Reserven vorgesehen. Das erleben wir in dramatischem Ausmaß ja gerade in der Notfallmedizin. Das wird nicht die letzte große Krise sein. Wir müssen uns besser darauf vorbereiten. Wir lernen gerade, wie wichtig Gesundheit ist. Wenn die Gesundheit infrage steht, dann steht die Wirtschaft still, die Kultur und alles andere.
Zur Person:
Der Psychiater und Stressforscher Prof. Mazda Adli ist Chefarzt der Fliedner Klinik Berlin. Er leitet außerdem an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Charité den Forschungsbereich „Affektive Störungen“. Dazu gehören: stressassoziierte Symptome, die Depression und die manisch-depressive Erkrankung.