Im Gespräch

„DMP sind Teil der Trägheit des Systems“

Prof. Lutz Hager zur umfassenden Reformbedürftigkeit der Programme

Berlin (pag) – Man habe zugelassen, dass die DMP Staub ansetzen, sagt Prof. Lutz
Hager, Vorstandsvorsitzender des Bundesverbandes Managed Care (BMC), kürzlich.
Als der Verband das Impulspapier DMP 2.0 vorstellt, lässt Hager keinen Zweifel daran, dass er für frischen Wind bei den strukturierten Behandlungsprogrammen sorgen will. Wie das funktionieren soll, erzählt der Politologe im Interview.

Sie kritisieren die DMPs als festgefahren. Wer oder was ist der größte Bremsklotz?

Hager: Zunächst von der positiven Seite: Disease-Management-Programme sind zu einem wichtigen Baustein in der Versorgung von Menschen mit chronischen Erkrankungen geworden und erreichten 2022 über 7,2 Millionen Menschen mit chronischen Erkrankungen.

Aber?

Hager: Die Einschreibezahlen sind aufgrund fehlender Anreize in den letzten Jahren im Durchschnitt nur geringfügig gestiegen – bei steigender Prävalenz der Erkrankungen. Viele neuere Erkenntnisse zu den Chancen von Selbstmanagement sind nicht eingeschlossen und die Prozesse sind für alle Beteiligten umständlich. Zudem kommen die neu beschlossenen DMP nicht in der Versorgung an, da – bis auf wenige Ausnahmen – regionale Vertragsabschlüsse dazu fehlen. Die DMP sind Teil der Trägheit des Systems – dabei ist die Vermeidung und Versorgung von chronischen Erkrankungen entscheidend für die Zukunftsfähigkeit unseres Gesundheitssystems.

Prof. Lutz Hager wurde im April 2022 zum Vorstandsvorsitzenden des Bundesverbands Managed Care (BMC) gewählt. Der Politologe ist seit 2021 Professor für Management im Gesundheitswesen an der SRH Fernhochschule – The Mobile University, Riedlingen. Zuvor war er unter anderem Geschäftsführer der IKK Südwest und arbeitete als Unternehmensberater bei McKinsey & Company. © pag, Fiolka

Der BMC hat eine Reihe von Reformvorschlägen präsentiert. Wo ist der Innovationsbedarf besonders groß?  

Hager: Bei den Vorschlägen, die wir formuliert haben, konzentrieren wir uns auf drei Bereiche: Zum einen ist es für den Erfolg der Programme unabdingbar, dass Patientinnen und Patienten aktiver in die Behandlung einbezogen und in ihrem Selbstmanagement unterstützt werden. Dafür braucht es Anreize für mehr Eigenverantwortung und Patientenbeteiligung. Digitale Tools wie DiGA (Digitale Gesundheitsanwendungen, Anm. d. Red.), die Integration von PROMs und PREMs in den Versorgungsprozess sowie daran gekoppelte Feedbackschleifen können hierfür einen wichtigen Beitrag leisten. Darüber hinaus müssen die Prozesse rund um die Behandlung, Beratung und Betreuung optimiert werden. Die Einbindung digitaler Möglichkeiten wie beispielsweise ein kontinuierliches Symptommonitoring, eine Anbindung an die elektronische Patientenakte sowie Einrichtung eines nationalen DMP-Registers zu Forschungszwecken sind hierbei wichtige Schritte. Und nicht zuletzt müssen die Rahmenbedingungen vereinfacht und um zusätzliche Anreize für eine qualitätsorientierte Versorgung erweitert werden. Insbesondere sollten DMP-Verträge auf Bundesebene geschlossen und Maßnahmen zur Evaluation und Qualitätssicherung kassenartübergreifend und bundesweit vereinheitlicht werden.  

Lohnt sich eine Modernisierung der DMP überhaupt noch oder ist der Ansatz mittlerweile nicht mehr zeitgemäß?

Hager: Im Gegenteil: Wir haben einen enormen Erkenntnisfortschritt darüber gewonnen, wie Lebensstilinterventionen und ein strukturiertes Selbstmanagement Menschen dazu befähigt, mit ihrer chronischen Krankheit umzugehen und ihre Alltagsroutinen an ihre spezifische Krankheitssituation anzupassen. Im telemedizinischen Lebensstil-Interventions-Programm TeLIPro konnte beispielsweise nachgewiesen werden, wie Menschen mit Diabetes mellitus Typ 2 durch telemedizinische Betreuung und Coaching eine signifikante Reduktion des HbA1c, Gewichtsreduktion sowie eine Verbesserung der kardiovaskulären Risikofaktoren erreichten. Bei einem Teil der Patientinnen und Patienten führte die Teilnahme an dem Programm sogar zu einer Diabetesremission.

Dennoch nimmt der Anteil von Menschen mit chronischen Erkrankungen weiter zu.

Hager: Das stimmt. Schätzungsweise 40 Prozent der Bevölkerung haben zwischenzeitlich eine oder mehrere chronische Erkrankungen. Und die Krankheitslast steigt, sogar in früheren Lebensjahren. Laut einer Studie der Medizinischen Hochschule Hannover hat sich der Anteil adipöser Menschen im Alter zwischen 25 und 55 Jahren im Zeitraum von 2004 bis 2020 fast verdoppelt. Das ist besorgniserregend, da Adipositas weitere Erkrankungen wie Diabetes oder Bluthochdruck begünstigt und uns daher vor zukünftige Versorgungsherausforderungen stellt. Dabei ist das soziale Gefälle besonders erschreckend: Besonders benachteiligte Bevölkerungsgruppen sind betroffen und diese Gruppen werden auch in der Gesundheitsversorgung nicht ausreichend berücksichtigt. Gerade diese Menschen profitieren daher am meisten von einer strukturieren Behandlung, die zudem „niedrigschwellig“, also attraktiv und erreichbar sein muss.

Was muss konkret passieren?  

Hager: Hier müssen wir im Gesundheitswesen eine „Extra-Meile“ gehen und eine Neuausrichtung der DMP ebnet diesen Weg dorthin. Dazu gehören im Übrigen auch klarere und stärkere Anreize oder sogar Verpflichtungen zur Teilnahme für alle Beteiligten. In dieser Ausrichtung sind DMP ein Kernelement eines solidarischen Gesundheitssystems.

Wie muss das Versorgungsystem aufgestellt sein, damit eine gute Versorgung chronisch kranker Patienten zukünftig sichergestellt ist?

Hager: Unsere Gesundheitsversorgung ist noch immer nicht ausreichend auf die Anforderungen einer Gesellschaft des längeren Lebens eingestellt. Chronische Erkrankungen sind eng mit Lebensstil und Alter verbunden und begleiten Menschen Jahre und Jahrzehnte. Unser Gesundheitssystem ist aber ereignisbezogen und reaktiv – dann, wenn eine Erkrankung eskaliert. Wir brauchen daher neue Versorgungskonzepte, die proaktiv auf Patientinnen und Patienten zugehen und ihr soziales Umfeld einbeziehen. Gesunderhaltung rückt in die Mitte der Gesellschaft – und verbindet Menschen; Gesundheit betrifft uns alle. Wir sollten viel mehr pädagogisch denken – gerade dort, wo wir Menschen heute nicht erreichen. Zudem muss die Versorgung multiprofessionell und einrichtungsübergreifend ineinandergreifen. Solche Netzwerke sollten nicht nur klassische Akteure der Gesundheitsversorgung und Pflege einbeziehen, sondern auch den Bereich der Sozialversorgung und des Quartiersmanagements. Und zu guter Letzt müssen wir frühe Risikofaktoren ernst nehmen und von dort systematisch in passende Angebote überleiten.