Public Health in Deutschland – es ist kompliziert
Berlin (pag) – Der beste Katalysator für eine erfolgreich umgesetzte Health-in-all-Policies-Strategie ist offenbar eine bedrohliche Krise – ob Fukushima oder der Ausbruch der Aids-Epidemie. Diese Erkenntnis legt eine Expertendiskussion auf dem zweiten Zukunftsforum „Public Health in Deutschland“ nahe.
Das absolute Erschrecken, der „schwarze Hintergrund“, schaffe Handlungsbereitschaft für intersektorale Zusammenarbeit, erläutert Public-Health-Veteran Prof. Rolf Rosenbrock auf der Veranstaltung. Ähnlich klingt es bei dem Bundestagsabgeordneten Rudolf Henke (CDU), der zwar sagt, dass sich die Barrieren zwischen den verschiedenen Ressorts durchbrechen ließen, aber ohne politischen Handlungsdruck tue man sich damit sehr schwer. „Die Politik widmet ihre Aufmerksamkeit den Themen diskontinuierlich“, erklärt er, sprich das Problem bleibt bei den politischen Entscheidern nur für begrenzte Zeit auf dem Radar. Gefragt nach einem Positivbeispiel für eine intersektorale Gesundheitsstrategie (siehe Infokasten „Überall Gesundheit“) nennt Henke die Energiewende – eine Konsequenz der Nuklearkatastrophe von Fukushima, welche die gesundheitlichen Gefahren der Atomenergie vor Augen führte. Rosenbrock verweist auf die Aids-Epidemie: Die Krankheit, in den 1980er Jahren zum Beispiel vom „Spiegel“ als Homosexuellen-Seuche bezeichnet, habe in vielen Bereichen, wie etwa in der Bildungs- und Drogenpolitik, einen Paradigmenwechsel bewirkt.
„Wir müssen mehr Lobby sein“
„Wege zu Health in all Policies“ lautet das Thema der Podiumsdiskussion, bei der es darum geht, wie sich Public-Health-Anliegen stärker ins öffentliche Bewusstsein rücken lassen. Das gelingt offenbar, wenn der Gesundheitsaspekt an ein weiteres Thema gekoppelt ist. Als Beispiele nennen die Experten Ebola und Sicherheit sowie Mitarbeitergesundheit und Unternehmensprofit bei der betrieblichen Gesundheitsförderung.
Damit lasse sich die Schlagkraft erhöhen, argumentiert Rosenbrock, der insgesamt bei der deutschen Public-Health-Szene die Durchsetzungsfähigkeit vermisst. „Wir müssen auf dem Marktplatz der Meinungen noch viel hörbarer werden, wir müssen noch viel mehr Lobby sein“, appelliert er.
Die Community führt seit Jahrzehnten im Vergleich zu anderen Ländern eher ein Mauerblümchen-Dasein. Allerdings ist in jüngster Zeit einiges in Bewegung gekommen. Das liegt möglicherweise auch an einer 2015 veröffentlichten Leopoldina-Stellungnahme zu „Public Health in Deutschland“, die den Finger in die Wunden legt. Die Arbeitsgruppe mit ihrem Sprecher Prof. Detlev Ganten konstatiert unter anderem: „Die akademischen Strukturen in Deutschland zur Forschung und Lehre im Bereich Public Health sind zersplittert. Trotz kontinuierlicher Anstrengungen und Fortschritte entsprechen sie nicht immer nationalen Anforderungen und internationalen Standards.“
Identitätsfindung statt Abgrenzung
Die Veröffentlichung dürfte bei den Betroffenen für Aufruhr gesorgt haben. Als Reaktion erscheint, ein gutes Jahr später im September 2016, das White Paper „Public Health – Mehr Gesundheit für alle“. Die Autoren, zu denen unter anderem der Präsident des Robert Koch-Instituts (RKI) Prof. Lothar H. Wieler zählt, beschreiben darin Erfolge sowie aktuelle Herausforderungen. Sie verlangen zudem politische Impulse zur Stärkung von Public Health.
Überall Gesundheit
Health in all Policies (Gesundheit in allen Politikfeldern) zielt darauf ab, alle politischen Bereiche aktiv in Themen einzubinden, die für Gesundheit und Wohlbefinden der Bevölkerung relevant sind. Das bedeutet, auch Stadtplanung, Bildungs- und Sozialpolitik sowie Umweltpolitik tragen zu dieser intersektoralen Gesundheitspolitik bei. Der Bericht einer kalifornischen Task Force für Health in all Policies identifiziert etwa 34 Empfehlungen, die von Grünflächen bis hin zu bezahlbarem gesunden Essen und einem sicheren Wohnumfeld reichen.
Doch Hilfe kann nicht nur von außen kommen, auch die zahlreichen Akteure der Szene selbst sind gefragt. Identitätsfindung statt Abgrenzung, Netzwerken statt Zersplittern, große Themen anstelle deren Atomisierung – diese Parolen nennt Dr. Bärbel-Maria Kurth in ihrem Vortrag auf dem Zukunftsforum. „Wir sind dabei, ein gemeinsames Selbstverständnis zu schaffen“, sagt die RKI-Abteilungsleiterin. Allen Beteiligten ist bewusst, welche Herausforderungen angesichts der äußerst heterogenen Community – vom Gesundheitsamt Marzahn bis zum akademischen Public-Health-Lehrstuhl – damit verbunden sind. Zur Vernetzung der Szene soll das im Dezember 2017 zum zweiten Mal veranstaltete Symposium des Zukunftsforums beitragen. Mittlerweile koordiniert eine fast 30-köpfigen Steuerungsgruppe die Aktivitäten des Forums. Eine am RKI angesiedelte Geschäftsstelle unterstützt sie dabei.
Es gibt noch weitere Indizien dafür, dass sich hierzulande langsam etwas bewegt: Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) etwa schreibt zur Stärkung der Public-Health-Forschung die Förderung von Forschergruppen aus. Und bereits 2016 hat die Gesundheitsministerkonferenz einen Beschluss zur Stärkung des öffentlichen Gesundheitsdienstes gefasst.
Globale Krisen in Altona
Aktuell ist zu beobachten, dass Global Health in den Fokus der „Public Healther“ rückt, auch das Zukunftsforum widmet sich diesem Thema ausführlich. Dass sich im Zeitalter der Globalisierung Public Health nicht mehr ausschließlich innerhalb der eigenen Staatsgrenzen betreiben lässt, liegt auf der Hand. Dr. Johannes Nießen, Leiter des Gesundheitsamts Hamburg-Altona, liefert in seinem Vortrag praktische Beispiele für die nationalen Auswirkungen internationaler Gesundheitsepidemien. Mit Blick auf Ebola, Schweinegrippe, aber auch die Flüchtlingskrise betont er: „Öffentliche Gesundheitsdienste bewältigen lokale und globale Gesundheitskrisen.“ Claudia Stein von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) bringt es auf die Formel: „Global Health ist Public Health world wide.“
Global Health at home
Es dürfte vor allem die Ebola-Krise gewesen sein, die der Bundesregierung und insbesondere dem Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) das Thema nahegebracht hat. Immer wieder war in den vergangenen Monaten die Rede davon, dass sich Deutschland anschicke, auf diesem Feld eine Führungsrolle zu übernehmen. Nicht ohne Grund hat Gröhe im Jahr 2017 sechs Fachleute in ein internationales Beratergremium zur globalen Gesundheitspolitik berufen. Seitens der WHO reagiert man mit Erleichterung auf Deutschlands Ambitionen – was vor allem dem Rückzug der USA geschuldet ist. „Wir atmen auf“, sagt Claudia Stein auf dem Zukunftsforum. Stein ist beim WHO-Regionalbüro Europa Leiterin der Abteilung Information, Evidenz, Forschung und Innovation.
Stichwort Public Health
„Public Health ist die öffentliche Sorge um die Gesundheit aller“, definiert das Zukunftsforum. Deutschlands Rückstand bei Public Health wird oft historisch begründet, als Konsequenz der Pervertierung der Bewegungen der sozialen Medizin und der sozialen Hygiene durch die nationalsozialistische Rassenhygiene. Prof. Oliver Razum und Dr. M. Luisa Vázquez sehen einen weiteren Grund für die deutsche Schwäche: strukturelle Grenzen, die sich aus der mangelnden Verzahnung zwischen der gesetzlichen Krankenversicherung und Public Health ergeben. Hier sehen sie politischen Handlungsbedarf.
Doch wie überzeugend kann Deutschland eine solche Führungsrolle verkörpern, wenn die eigenen Hausaufgaben bei Public Health noch längst nicht erledigt sind? Experten mahnen beispielsweise eine engere Verzahnung mit der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) an. Einen solch ganzheitlichen Ansatz unterstütze Deutschland schließlich auch bei seiner globalen Gesundheitsstrategie, argumentieren Prof. Oliver Razum, Universität Bielefeld, und die spanische Wissenschaftlerin Dr. M. Luisa Vázquez. In einem Editorial für das Fachjournal International Journal of Public Health fragen sie: „Germany is promoting holistic health system strengthening as part of its global health strategy – so why not also at home?“ (Als Teil seiner globalen Gesundheitsstrategie fördert Deutschland die gesamtheitliche Stärkung des Gesundheitssystems – warum also nicht auch zuhause?)
Ja, warum wohl nicht? Wer die Scharmützel zwischen dem GKV-Spitzenverband und der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung in der Prävention beobachtet, bekommt eine Ahnung davon, dass für solch eine Mission ein extrem langer politischer Atem erforderlich ist.