Im Fokus

„Disruption bis ins Fundament“

Zur Zukunftsfähigkeit unseres Gesundheitswesens

Berlin (pag) – Eigentlich sollen auf der Veranstaltung Healing Architecture 4.0 der TU Berlin die Auswirkungen der Digitalisierung auf das Krankenhaus der Zukunft ergründet werden. Tatsächlich geht es aber um mehr, um die Zukunftsfähigkeit des Gesundheitswesens insgesamt. Warum für Architekten das Modell Hausarzt ausgedient hat.

„Disruption bis ins Fundament.“ So prägnant beschreibt Prof. Erwin Böttinger vom Hasso-Plattner-Institut in Potsdam die von ihm erwarteten Auswirkungen der Digitalisierung auf das Gesundheitswesen. Er prophezeit: „Der Wandel wird fundamental sein.“ Bei der Gestaltung von Gesundheitsräumen der Zukunft empfiehlt der Spezialist der personalisierten Medizin dynamisch und mobil zu denken. Warum das notwendig ist, stellt er in seinem Vortrag dar, in dem er von rasanten Fortschritten in Schlüsseltechnologien berichtet. Beispiel Genomsequenzierung: „Für fast 3.000 Erkrankungen monogenetischer Art können wir eine molekulare Diagnose erstellen – aufgrund der Erkenntnisse der genomischen Revolution“, sagt der Mediziner. Es seien mittlerweile viel mehr Medikamente auf dem Markt, bei denen man anhand der molekularen Analyse die richtige Therapie für den Patienten identifizieren könne. Ein Resultat der enorm rasanten Entwicklung von Technologien und deren Einführung in die klinische Anwendung, hebt Böttinger hervor.

„Die Mensch-Maschine-Beziehung wird immer enger“, sagt Architekturprofessorin Christine Nickl-Weller voraus. © Damian, Fotolia.com

Bessere Medizin praktizieren

Wie die klinische Anwendung funktionieren kann, beschreibt er anhand eines von ihm in den USA entwickelten digitalen Assistenzsystems für Ärzte. Grundlage dessen ist eine für Patienten einheitliche digitale Gesundheitsakte und ein System, dass mit dieser in Echtzeit kommuniziert. Damit wird die Möglichkeit geschaffen, best-standard-of-care Information, genomische Angaben und Leitlinien zum Zeitpunkt der Entscheidungsfindung zwischen Arzt und Patient einfließen zu lassen. „Wenn eine Verordnung im elektronischen System eingegeben wird, kommt in Millisekunden die Rückmeldung, dass das Medikament auf Basis der genetischen Patientendaten nicht wirken wird, und eine Empfehlung für ein anderes Medikament“, erläutert Böttinger. 70 Prozent der Hinweise bei Arzneimittelverordnungen seien von den behandelnden Ärzten angenommen worden. Für Böttinger ein Beispiel, wie digitale Lösungen für mehr Effizient und Qualität sorgen und es Ärzten ermöglichen, „bessere Medizin praktizieren zu können“.

90 Prozent Digitalisierung

Digitale Lösungen ermöglichen es Ärzten, eine bessere Medizin zu praktizieren, ist Prof. Erwin Böttinger überzeugt. © HPI, Kay Herschelmann

Böttinger stellt außerdem klar, dass klinisch generierte Informationen nur ein kleiner Teil der gesundheitsrelevanten Informationen der Zukunft seien und verweist auf die rasanten Entwicklungen in der Sensorik und Nanotechnologie. „Digitalisierung heißt nicht, dass wir die Dokumentation klinischer Prozesse digitalisieren, sondern dass wir eine ganz neue Art von Informationen mitberücksichtigen, die kontinuierlich und in Echtzeit eingeführt werden.“
In den USA habe man durch öffentliche Förderung die Einführung von digitalen Gesundheitsakten konsequent vorangetrieben – in den Praxen und in den Klinken. Böttinger spricht von 90 Prozent Digitalisierung und warnt davor, hierzulande den Anschluss zu verlieren. „Wir müssen die Entwicklung jetzt konsequent aufgreifen und umsetzen, auch am Standort Deutschland und in Europa“, appelliert er.

„Die Mensch-Maschine-Beziehung wird immer enger“

Damit schließt der Mediziner nahtlos an die Ausführungen von Gastgeberin Prof. Christine Nickl-Weller an, die ganz grundsätzlich fragt: „Lassen wir uns vom Fortschritt antreiben oder treiben wir ihn selbst an?“ Im Gesundheitswesen, führt die Architekturprofessorin aus, werden die vernetzen Prozesse um den Faktor Mensch erweitert. Dessen Daten seien die Währung unserer postindustriellen Zeit. Sie würden gesammelt, analysiert und weitergegeben; dadurch würden die Geräte, die man damit füttere, immer informierter. „Die Mensch-Maschine-Beziehung wird immer enger“, sagt Nickl-Weller. Der Pflegeroboter etwa sei schon heute kein Zukunftsszenario mehr – „er ist greifbare Realität geworden“. Sie sagt voraus, dass sich durch die engere Mensch-Maschinen-Beziehung der Raum der Gesundheitsversorgung verändern werde. „Müssen unsere infrastrukturellen Netzwerke nicht kleinteiliger, flexibler und vor allem besser vernetzt werden?“

Umdenken in Healing Modulen

Ihr Mann, Prof. Hans Nickl von Nickl & Partner Architekten, präsentiert auf der Veranstaltung eine Vision von hochspezialisierten Funktionsmodulen im Krankenhausbau, die in eine patienten- und mitarbeitergerechte Krankenhauswelt zu integrieren seien. Bei sogenannten „Healing Modulen“ besteht die Kernzelle aus den Elementen OP-Zentrum/Interventionszentrum, Notfall/Diagnostik/Therapie, Mutter-Kind-Zentrum sowie Tagespflege. Als assoziierte Einrichtungen sind etwa Geriatrie, Reha, Übergangspflege und Gesundheitseinrichtungen denkbar. „Diese Module kann ich dann beliebig zusammensetzen – je nach Bedarf und Größenordnung“, erläutert der Architekt. Ein Vorteil: Sie seien leichter zu anzupassen, wenn neue Technologien integriert werden. Die Gebäudetechnik beispielsweise ändere sich alle 15 Jahre, Nickl geht aber davon aus, dass sich die Intervalle inzwischen halbiert haben.
Anwendung findet dieser Ansatz demnächst in Indonesien, wo sogenannte Pocket Kliniken die medizinische Versorgung auf den zahllosen Inseln sicherstellen sollen. Dabei handelt es sich um kleine Einheiten, die als Grundmodul die Bereiche OP, Entbindung und Labor umfassen, erläutert Nickl. Die Pocket Kliniken sind mit den nächst größeren Klinikeinheiten, den Pocket Hospitals, und diese wiederum mit den General Hospitals digital vernetzt.

Paradiesisches Krankenhaus, inklusive Palmen Schmetterlingen und Papagei, skizziert von Architekt Hans Nickl © Nickl & Partner Architekten AG

DAS SMARTPHONE NAVIGIERT DURCH DIE THERAPIEPFADE

So schildert Hans Nickl die Situation in einer großen Klinik in Shanghai: In der Eingangshalle stehen 20 Terminals, bei denen die Patienten per Smartphone „einchecken“. Auf dem Handy erscheint der Therapiepfad: der zuständige Arzt mit Bild, die Stationen, die aufzusuchen sind, empfohlene Medikamente inklusive Preise. Die Arzneimittel können später direkt in der Krankenhausapotheke abgeholt werden, bezahlt wird ebenfalls per Smartphone.

Sind Hausärzte im digitalen Zeitalter nicht mehr zumutbar?

Ein weiteres Beispiel für effektive digitale Vernetzung hat Architekt Nickl in einer großen Klinik in Shanghai erlebt, wo die Patienten mittels Smartphone „einchecken“ und durch ihre Therapiepfade navigiert werden (siehe Infokasten). Somit erscheint es nur konsequent, dass der Technologiekonzern Apple angekündigt hat, ein eigenes Kliniknetzwerk aufzubauen – zunächst nur für die eigenen Angestellten. Dafür hat das Unternehmen die Tochterfirma AC Wellness gegründet. Diese verspricht eine einzigartige „concierge-like healthcare experience“.
Da schlägt die Disruption bereits voll ins Fundament durch, während hierzulande ein Streit um Konnektoren die Gemüter erhitzt. Bis in diese Niederungen verfolgt Nickl vermutlich nicht das Gerangel um die elektronische Gesundheitskarte. Dennoch ist er sich sicher, dass der Hausarzt ausgedient hat. Er sei nie da, nicht vernetzt, man müsse warten – kurzum: „das kann ich im digitalen Zeitalter keinem mehr zumuten“. Ähnlich schonungslos fällt sein Urteil zu neuen Klinikbauten aus: „Ich behaupte, dass die Häuser, die jetzt geplant und gebaut werden, bereits veraltet sind.“