Im Fokus

Aufholjagd Digitalisierung

Von Black Boxes, notwendigem Vertrauen und neuen Rollen

Berlin (pag) – Die Digitalisierung des Gesundheitswesens ist ein Megathema dieser Legislatur. Zwei Gesetze hat der Bundestag dazu kürzlich verabschiedet und damit, so betonen viele Politiker, eine wichtige Aufholjagd eingeleitet. Auch die Beschäftigung damit, wie Künstliche Intelligenz (KI) die Medizin und Versorgung verändert, wird immer konkreter. Es ist höchste Zeit.

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Fast alle Abgeordnete, die im Bundestagsplenum vor das Mikrofon treten, sind sich einig: Eine umfassende Digitalisierung des Gesundheitswesens ist überfällig. Von Aufholjagden, Neu- und Durchstarten sowie einer neuen Ära ist die Rede, als kürzlich das Digital-Gesetz und das Gesundheitsdatennutzungsgesetz beraten werden. Der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesgesundheitsministerium, Prof. Edgar Franke (SPD), unterstreicht, dass Forschung, Innovationen und medizinische Versorgung im 21. Jahrhundert ohne eine effektive Gesundheitsdatennutzung kaum mehr möglich seien. Um sich besser gegen Volkskrankheiten wie Krebs, Demenz oder Diabetes zu wappnen, seien Forschung und Gesundheitsdaten nötig. Mit Blick auf den Fachkräftemangel hebt der Politiker hervor, dass die Digitalisierung zwar keine Fachkräfte ersetzen, ihnen aber sehr wohl die Arbeit erleichtern könne. Mit beiden Gesetzen werde die nützliche Digitalisierung im Alltag und die gemeinwohlorientierte Wiederverwendung von Gesundheitsdaten kombiniert – das werde die Versorgung in Deutschland enorm steigern. Franke appelliert: „Es ist überfällig, dass wir in Bezug auf Datennutzung und in Bezug auf Digitalisierung mit diesen Gesetzen eine Aufholjagd beginnen.“

„15 Jahre hinterher“

Wie weit Deutschland beim Digitalrennen zurückliegt, beziffert Dr. Janosch Dahmen (Grüne) ganz konkret: „Wir laufen den Entwicklungen im Schritt 15 Jahre in Europa hinterher.“ Er ist davon überzeugt, dass die Ampel Deutschland mit den beiden Digitalisierungsgesetzen zurück auf die Überholspur bringen werde. Deutschland starte zwar spät, aber dafür wiederhole man keine Fehler, die andere gemacht haben.

Prof. Ferdinand Gerlach © pag, Fiolka

Seine Fraktionskollegin Linda Heitmann hebt – ebenso wie der Unionspolitiker Dr. Georg Kippels – das Vertrauen von Patienten und Versicherten als wesentlichen Erfolgsfaktor für eine erfolgreiche Implementierung der elektronischen Patientenakte (ePA) hervor. Dieses Thema wird in den Anhörungen des Gesundheitsausschusses aufgegriffen – zum Beispiel vom ehemaligen Sachverständigenratsvorsitzenden Prof. Ferdinand Gerlach. Er verbindet mit der ePA neuen Typs, die im Januar 2025 an den Start gehen soll, deutliche Fortschritte bei der Transparenz und der Zugriffskontrolle von Daten. Sie ermögliche, dass Missbrauch überhaupt erst erkannt und verfolgt werden kann. „In Verbindung mit härteren Strafen haben wir das, was international als ‚trust by design‘ bezeichnet wird.“
Außerdem setzt sich Gerlach für eine Aufklärungskampagne ein, die zum einen erklärt, wofür die ePA überhaupt benötigt werde – warum ist zum Beispiel ein Medikationsplan sinnvoll? Zum anderen sollte auch über die Risiken der Nicht-Nutzung aufgeklärt werden: Was bedeutet es, wenn ich die ePA ablehne, Inhalte verschatte oder sogar lösche? Von der Möglichkeit, Daten aus der ePA zu löschen, rät Gerlach dringend ab, das sei unverantwortlich und könnte für Patienten sehr gefährlich sein. Löschungen führten zu einer unvollständigen ePA, damit sei die Integrität und Zuverlässigkeit der Patientenakte zerstört.

Zu viele Black Boxes

Dr. Klaus Reinhardt © pag, Fiolka

Eine bessere Kommunikation zur ePA und dem Teilen von Gesundheitsdaten mahnt auch Patientenvertreterin Birgit Bauer bei einer Tagung der Technologie- und Methodenplattform für die vernetzte medizinische Forschung (TMF) an, die Ende 2023 unter dem Motto „Neustart digitale Gesundheit“ steht. Bauer ist MS-Patientin und hat die Initiative „Data saves lifes“ gegründet. Sie findet, dass dem Informationsbedarf von Patienten und der Bevölkerung bisher nicht gerecht wurde. „Es gibt viele Black Boxes, die nicht geöffnet wurden.“
Bauer ist außerdem davon überzeugt, dass viele Bürger und Patienten offen dafür wären, ihre Gesundheitsdaten zu teilen, wenn man „sie mitnimmt“. Sie plädiert für durchaus kleinteilige Erklärungen, diese könnten einen Prozess des Umdenkens auslösen und weniger empfänglich für Totschlagargumente machen. In der Pflicht sieht die Patientin sowohl Krankenkassen, Ärzte als auch die Bundesregierung. Wichtig ist ihr ein gemeinschaftlicher Kommunikationsansatz, sie warnt dafür, nur innerhalb der „eigenen Silos“ zu agieren.
Der Bogen, den die TMF auf ihrer Tagung zur digitalen Gesundheit spannt, ist weit: von der ePA, dem e-Rezept und der Telematikinfrastruktur, über Medizinische Informationsobjekte, kurz MIO, bis hin zur Künstlichen Intelligenz. Über letzteres diskutiert die Vorsitzende des Ethikrats, Prof. Alena Buyx, mit weiteren Experten. Sie hebt unter anderem hervor, dass Ärztinnen und Ärzte beim KI-Einsatz stets in der Letztverantwortung bleiben müssten (lesen Sie hierzu das Interview „Das therapeutische Gesamtgeschehen ist nicht abzugeben“).

Ärztliche Kunst und KI

Die Brisanz des Themas KI hat auch die Bundesärztekammer (BÄK) erkannt. Sie hat diesem kürzlich eine eigene Veranstaltung gewidmet. Dass ärztliche Kunst und künstliche Intelligenz keine Gegensätze darstellen – „ganz im Gegenteil“ – ist BÄK-Präsident Dr. Klaus Reinhardt ein wichtiges Anliegen. Angesichts der zahlreichen Einsatzorte, an denen KI in Zukunft genutzt werden kann, ist er davon überzeugt, dass diese technologische Entwicklung das Potenzial habe, die Versorgungsablaufe in unserem Gesundheitswesen zu verändern. KI könnte zu einer neuen Arbeitsteilung zwischen den Professionen führen und sie werde möglicherweise etablierte Rollen der Beteiligten wie Kostenträger, Ärzteschaft und Patienten infrage stellen.
Reinhardt erwartet außerdem, dass mit der KI gänzlich neue Akteure wie globale IT-Unternehmen in das Versorgungsgeschehen eingreifen. Nicht zuletzt deshalb mahnt er, die ethischen Dimensionen dieser Entwicklung nicht aus dem Blick verlieren. „Die Nutzung von KI-Technologien erfordert eine sorgfältige Abwägung insbesondere von Datenschutz und Sicherheit und auch Verantwortlichkeit.“ Sichergestellt werden müsse, dass der Schutz der Privatsphäre und der Patientendaten stets gewährleistet ist. Nach Reinhardts Auffassung ist außerdem wesentlich, dass die den automatisierten KI-Systemen zugrundeliegenden Entscheidungsalgorithmen transparent und erkennbar sind und – auch ethisch – bewertet werden können. Abschließend appelliert er: „Die Anwendung von KI-Systemen darf nicht die individuelle menschliche ärztliche Zuwendung beeinträchtigen.“
Für die Bundesärztekammer bildet die Veranstaltung den Startpunkt für eine langfristige und tiefgreifende Auseinandersetzung mit Chancen und Risiken der Anwendung von KI in der Medizin. Das Ziel ist anspruchsvoll: klare Leitplanken für den verantwortungsvollen Umgang mit KI in der Patientenversorgung zu entwickeln.