Im Fokus

Richtungspapier mit Reformideen

Experten plädieren für längere Praxisöffnungszeiten und weniger DRGs

Berlin (pag) – Stärkung des ambulanten Sektors, Neuaufstellung des Öffentlichen Gesundheitsdienstes (ÖGD), heilkundliche Kompetenzen für Pflegefachkräfte, effiziente und effektive Datennutzung und eine Krankenhausstrukturreform – in einem „Richtungspapier“ geben Experten aus dem Gesundheitswesen, ausgehend von den Lehren aus der Corona-Pandemie, Reformempfehlungen.

Welche Lehren sind aus der Corona-Pandemie zu ziehen, welche Reformen müssen dringend angegangen werden? Damit setzen sich Experten in einem Richtungspapier auseinander. © iStock.com, asbe

 

Bei den Autoren handelt es sich um die Krankenhausexperten Prof. Boris Augurzky (RWI – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung) und Prof. Reinhard Busse (Technische Universität Berlin), Prof. Ferdinand Gerlach, den Vorsitzenden des Sachverständigenrats (SVR) Gesundheit, und die Gesundheits- und Pflegewissenschaftlerin Prof. Gabriele Meyer (Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg). Das Papier wurde im Auftrag des Barmer Instituts für Gesundheitssystemforschung (bifg), der Bertelsmann Stiftung und der Robert Bosch Stiftung angefertigt.

Barmer-Vorstandsvorsitzender Prof. Christoph Straub hält bei der Vorstellung der Empfehlungen fest, dass sich der ambulante Sektor in der ersten Welle der Corona-Pandemie bewährt habe. Es gelte, dieses System weiter zu stärken. Videobehandlungen und die Krankschreibung per Telefon sollten „zumindest in geeigneten Fällen als Teil der Routineversorgung dauerhaft verstetigt werden“, heißt es im Papier. Dem versucht in Teilen das Bundesgesundheitsministerium nachzukommen. Im geplanten Digitale-Versorgung-und-Pflege-Modernisierungs-Gesetz ist eine Ausweitung der Videobehandlungen auf bis zu 30 Prozent pro Quartal vorgesehen.

Zentralisierung: stationär und ambulant

Auch ein Home-Telemonitoring von besonderen Patientengruppen könnte zunehmend in das Aufgabengebiet der Vertragsärzte fallen. Dazu „sollten schnellstmöglich entsprechende infrastrukturelle und Abrechnungsvoraus-setzungen geschaffen werden“, so die Autoren. Nach Busses Auffassung „muss der ambulante Sektor in Zentren übergehen“. Das gehe auch mit längeren Öffnungszeiten einher. Busse denkt dabei an zwölf Stunden.

Die Autoren machen sich außerdem für eine stärkere Verzahnung und Überwindung der Sektoren stark. Die Fallpauschalen dürften nicht mehr das Maß aller Dinge sein. Augurzky schlägt stattdessen regionale Gesundheitsbudgets und Vorhaltefinanzierungen vor, die das DRG-System ergänzen sollen. Notwendig seien aber eine Zentralisierung und Spezialisierung der Kliniklandschaft. „Auch in ,normalen‘ Zeiten ist es wichtig, dass nur die Krankenhäuser Patient:innen behandeln, die über die entsprechende technische Ausstattung und personelle Expertise verfügen. Für gute Behandlungsergebnisse ist nicht die Nähe, sondern die Ausstattung der Krankenhausstandorte ausschlaggebend“, schreiben die Autoren.

 

Von links: Prof. G. Meyer, Prof. R. Busse, Prof. C. Straub, Eva Quadbeck (Moderatorin), Prof. B. Augurzky und Prof. F. Gerlach © pag, Fiolka

ÖGD – quo vadis?

Dass die Politik den ÖGD mit dem „Pakt für den öffentlichen Gesundheitsdienst“ fördern will, begrüßt Gerlach. Im Papier wird empfohlen, dass sich der Öffentliche Gesundheitsdienst auch anderen akademischen Disziplinen wie etwa den Sozialwissenschaften öffnen müsse. Außerdem fehle ihm derzeit eine wissenschaftliche Basis – Gerlach hält fest, dass es keine Fachgesellschaft gibt – sowie keine Koordination auf Landes- oder Bundesebene. „Eine Stärkung des ÖGD trägt […] dazu bei, dass auch mittel- bis langfristig Fragen der öffentlichen Gesundheit als Querschnittsthemen in andere Bereiche getragen werden und das Prinzip ,Health in all Policies‘ gestärkt wird“, heißt es im Richtungspapier.

Für die heilkundliche Übertragung gewisser Aufgaben auf Pflegeberufe in der Primärversorgung macht sich Meyer stark. Besonders in ländlichen Regionen, in denen die ambulante Versorgung quasi nicht mehr vorhanden ist. Der Gesetzgeber habe bereits vorgelegt. „Wir müssen einfach die Modelle mit Leben füllen“, fordert Meyer. „Wenn eine Pflegefachkraft, die eine Expertise in der Wundversorgung hat, heute noch den Facharzt bitten muss, ein Rezept auszufüllen, und ihm sagt, was dort draufzustehen hat, dann ist das eine Sollbruchstelle, die wir jetzt unbedingt überwinden müssen.“
All diese Visionen lassen sich nach Meinung der Autoren mit Nutzung der digitalen Möglichkeiten besser verwirklichen. Straub wünscht sich, dass Ressourcen und Kapazitäten dadurch gemonitort werden können. Als Beispiel nennt er das Register der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI). Zudem sei die Datengenerierung immens wichtig für die Versorgungsforschung.

Das Thema Datensicherheit und Datenschutz spricht Gerlach an. Beides hätte in Deutschland „einen wesentlich höheren Stellenwert als der Nutzen“. Es sei fahrlässig und ethisch bedenklich, wenn man Daten missbrauche. Aber es sei genauso fahrlässig und ethisch bedenklich, wenn man vorhandene Daten nicht bestmöglich nutze. Seine Devise: „Daten teilen heißt besser heilen.“


Kritik der Klinikfunktionäre

Das Papier löst beim Verband der Leitenden Krankenhausärzte Deutschlands und beim Verband der Krankenhausdirektoren Deutschlands Kritik aus. Beide sehen in dem Richtungspapier „eine Fortsetzung der immer neuen Versuche, die flächendeckende Krankenhausversorgung in Deutschland nachhaltig zu beschädigen und die Klinikversorgung auf wenige Großkrankenhäuser zu konzentrieren. Das haben andere Länder in Europa getan und sind damit deutlich schlechter durch die erste Pandemiewelle gekommen als Deutschland“.