Im Fokus

Aufholjagd Medizinforschung

Pharmastrategie soll Reindustriealisierung vorantreiben

Berlin (pag) – Ein Thema hat in 2023 Karriere gemacht: die hiesige Gesundheitswirtschaft und -forschung. Der Industrie zufolge fällt Deutschland aufgrund bürokratischer Hürden immer weiter zurück. Die Politik hat diese Klagen lange ignoriert, doch die Folgen – nicht zuletzt für die medizinische Versorgung – lassen sich nicht länger ignorieren. Bundesgesundheitsminister Prof. Karl Lauterbach präsentiert deshalb eine Pharmastrategie und kündigt eine „Aufholjagd“ an.

Als im Februar vergangenen Jahres der Fortschrittsdialog „Gesunde Industriepolitik“ in Berlin startet, steht das Thema auf der politischen Agenda nicht besonders weit oben. Mehrere Pharmaunternehmen haben daher mit der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IGBCE) eine deutschlandweite Veranstaltungsreihe initiiert, um die Zusammenhänge zwischen gesunden industriepolitischen Rahmenbedingungen und medizinischer Versorgung darzustellen. Schirmherrin und SPD-Bundestagsabgeordnete Gabriele Katzmarek räumt bei der Auftaktveranstaltung ein, dass die industrielle Gesundheitswirtschaft oft unter den Tisch falle. Bei einer Stärkung des Wirtschaftszweigs solle man sich nicht in Klein-Klein-Debatten verlieren. Es gelte die großen Herausforderungen wie Fachkräftemangel, Digitalisierung und Versorgungssicherheit anzugehen.

Es wackelt

Michael Vassiliadis © pag, Fiolka

IGBCE-Vorsitzender Michael Vassiliadis sieht die Industriepolitik unter Druck: „Was uns 15, 20 Jahre erfolgreich gemacht hat, wackelt.“ Deutschland habe großes Potenzial für innovative Therapien und gute Versorgung bei Krankheiten, für Wertschöpfung, gute Arbeitsplätze. Für den Gewerkschaftschef ist die Gesundheitswirtschaft nicht Kostenfaktor und Problem, sondern ein Lieferant für Lösungen. Konkrete Zahlen nennt bei dem Termin Dr. Hagen Pfundner, Vorstand der Roche Pharma AG: Die Bruttowertschöpfung der Branche in 2021 beziffert er auf 165 Milliarden Euro. Die Reinvestitionsrate der industriellen Gesundheitswirtschaft betrage 16 Prozent – ein Wert, den kaum ein anderer Industriezweig erreiche. Pfundner zufolge haben die Arzneimittelhersteller „null Interesse“ daran, das Sozialsystem zu überfordern. Auf der anderen Seite führe eine Billig-Mentalität zu Engpässen. Und das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz (GKV-FinStG) mache es den Unternehmen schwer, Innovationen zu entwickeln.
Eben dieses Gesetz, das unter anderem die Regeln des AMNOG-Verfahrens verschärft, macht Bundeswirtschaftsminister Dr. Robert Habeck dafür mitverantwortlich, den Dialog mit der Pharmaindustrie zu Beginn verstolpert zu haben. Dieser habe angesichts des GKV-FinStG unter negativen Vorzeichen begonnen, so der Grünen-Politiker im Mai bei einer Veranstaltung des Verbands Forschender Arzneimittelhersteller. Dort präsentiert er sich als Gesundheitswirtschaftsminister und unterstreicht: „Ohne funktionierende Gesundheitswirtschaft wären wir nicht das Land, das wir sind.“

Die fette Ente

Der Minister spricht von einem strategischen Interesse an deutschen und europäischen Standorten, um nicht von Lieferketten und „wildgewordenen Diktatoren“ abhängig zu sein. Deutschland müsse daher dafür sorgen, dass ein großer Teil der strategischen Investitionen hierzulande passieren.

Dr. Robert Habeck © pag, Fiolka

Umso mehr kränkt es Habeck nach eigener Aussage intellektuell, dass heimische Firmen auf einmal im Ausland investieren, „weil wir zu viele Datenschützerinnen und Datenschützer haben“. Der Datenschutz an sich sei nicht das Problem, aber der Umstand, dass es in jedem Bundesland eine eigene Regelung dazu gibt, betont Habeck. Er stellt schlankere und schnellere Verfahren in Aussicht, „denn jetzt wird die Ente fett“.

Das Ziel: Reindustrialisierung

In den folgenden Wochen und Monaten kursieren in Fachkreisen verschiedene Entwürfe einer Pharmastrategie der Bundesregierung. Am 1. Dezember, schließlich stellt Lauterbach die 14-seitige Pharmastrategie 7.0 der Presse vor. Einen Tag zuvor hat im Kanzleramt ein Pharmagipfel stattgefunden. Darüber verliert der Gesundheitsminister zwar keine Worte, aber mit Blick auf den Pharmastandort Deutschland konstatiert er, dass man an Konkurrenzfähigkeit verloren habe. Wie schon bei den Digitalgesetzen bemüht er das Bild einer „Aufholjagd“ und kündigt an: „Die Hausaufgaben müssen gemacht werden.“
Eine zentrale Rolle in der Strategie, die wenige Wochen später vom Kabinett verabschiedet wird, spielt das geplante Medizinforschungsgesetz. Dabei geht es um zweierlei, so Lauterbach: „Dort, wo geforscht wird, findet nachher auch die Produktion statt.“ Das geplante Gesetz soll daher nicht nur die Voraussetzungen für die Forschung, sondern auch für die pharmazeutische Produktion verbessern. Letzteres sei ein energiearmer, aber auch innovationsreicher Bereich, führt der Minister aus, der eine „Reindustrialisierung“ vorantreiben will.

Prof. Karl Lauterbach © pag, Fiolka

Das Gesetz adressiert als zentrales Problem die langwierigen und teuren Genehmigungsverfahren für klinische Studien/Prüfungen. Bei der Zahl der Studien pro Kopf ist Deutschland zurückgefallen. Hierzulande werde zwar viel Grundlagenforschung betrieben, daraus resultierten aber wenig Patente und noch weniger Produktion, betont Lauterbach. Mit Großbritannien sei man bei der Grundlagenforschung gleichauf, im Königreich gingen daraus jedoch zehnmal mehr Patente und zwanzigmal so viele Produktionsansiedlungen hervor. „Dieses Problem wollen wir ganz konkret angehen.“

Mehr Tempo

Das geplante Medizinforschungsgesetz sieht unter anderem eine koordinierende Rolle des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) für klinische Studien vor. Das BfArM soll künftig die Koordinierung und das Verfahrensmanagement für Zulassungsverfahren und Anträge zu klinischen Prüfungen für alle Arzneimittel, ausgenommen Impfstoffe und Blutprodukte, übernehmen. Das Institut wird zentraler Ansprechpartner für die pharmazeutischen Unternehmen, ist verantwortlich für administrative Prozesse und koordiniert die Verfahren Ethikvotum, Strahlenschutzprüfung, die Schnittstelle zum Forschungsdatenzentrum und weitere Prozesse. Lauterbach erwartet von dieser Reform eine „dramatische Beschleunigung“ der Verfahren. Der seit Ende Januar vorliegende Referentenentwurf sieht außerdem vertrauliche Erstattungsbeträge vor – die Kassen sind davon erwartbar nicht begeistert.
Im Rahmen der Strategie sollen noch weitere Gesetze auf den Weg gebracht werden. Spannend ist in dieser Hinsicht insbesondere das Kapitel sieben der Strategie „GKV-Finanzstabilität; hier: Arzneimittelversorgung“. Dort wird eine erneute Evaluation der AMNOG-Reform, dieses Mal von externer Seite, angekündigt. Auch soll die Finanzierung der GKV künftig ohne weitere Erhöhungen der Herstellerabschläge sichergestellt werden.