Adipositas-Patienten und das Systemversagen der GKV
Berlin (pag) – Der Umgang mit Adipositas-Patienten offenbart die Grenzen des Solidarsystems der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Während die Weltgesundheitsorganisation (WHO) Fettsucht als Krankheit anerkennt, schiebt man sie im deutschen Versorgungssystem in den Lifestyle-Bereich ab. Die Folge: Patienten werden auf der Suche nach wirksamen Therapien zum Bittsteller, während das System an den teuren Folgeerkrankungen herumdoktert.
Für die WHO ist Adipositas eine der größten Public-Health-Herausforderungen unserer Zeit. Die Erkrankung habe bereits epidemische Ausmaße erreicht: Weltweit sterben mindestens 2,8 Millionen Menschen jährlich an den Folgen von Übergewicht und Fettsucht. Schätzungen zufolge sind in der Europäischen Region der WHO 23 Prozent aller Frauen und 20 Prozent aller Männer adipös. Übergewicht und Adipositas sind erhebliche Risikofaktoren für eine Reihe chronischer Krankheiten wie Diabetes, kardiovaskuläre Erkrankungen und Krebs. Der Trend zur Fettleibigkeit macht auch vor Deutschland nicht Halt. Das belegen verschiedene Auswertungen des Robert Koch-Instituts, Mikrozensus-Daten und Versorgungsreports von Krankenkassen wie der Barmer oder der DAK. Die Krankheit ist leicht zu diagnostizieren, eine simple Waage reicht. Ab einem Body Mass Index (BMI) von 30 kg/m² gelten übergewichtige Personen als behandlungsbedürftig. Aber werden sie auch behandelt? Und wie? Tatsächlich lässt sie die Solidargemeinschaft der gesetzlichen Krankenversicherung vielfach im Stich.
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„Odyssee durch die Institutionen“
Viele Krankenkassen und ihre medizinischen Expertenprüfdienste wie MDK und MDS gehen noch immer vom Dogma des regulierbaren Energieausschusses aus. Damit verweisen sie therapeutische Maßnahmen in die Eigenverantwortung der Versicherten. Die Konsequenz: Eine stadiengerechte Adipositas-Behandlung findet in der GKV nicht statt.
Fakt ist: Fettsucht ist nicht notwendigerweise ein unabwendbares Schicksal, es gibt wirksame Behandlungen. Eine leitliniengerechte konservative Basistherapie umfasst sowohl Ernährungsberatung als auch Bewegungs- und Verhaltenstherapie. Eine solche multimodale Therapie bietet beispielsweise Prof. Thomas Kurscheid in seiner privatärztlichen Praxisgemeinschaft in Köln an. Langzeitdaten von über 10.000 Patienten zeigen, dass die Betroffenen drei Jahre nach Abschluss des Programms noch immer durchschnittlich 7,5 Kilo leichter sind, berichtet er. „Man muss bedenken, dass sie ohne Programm in den drei Jahren eher 15 bis 20 Kilo schwerer als ihr Ausgangsgewicht geworden wären.“ Patienten, die in Kurscheids Praxis kommen, haben bereits viele Versuche übernommen, ihr Gewicht zu reduzieren. Meistens sind sie wiederholt gescheitert oder rückfällig geworden. „Diese Patienten sind verzweifelt und haben eine Odyssee durch die Institutionen und diverse Anbieter hinter sich“, hat der Spezialist beobachtet.
Die Grenzen der konservativen Therapie
Der Mediziner behandelt seine Patienten privatärztlich: Das Programm Optifast 52 läuft über 52 Wochen und wird zwar mittlerweile von fast 100 Kassen erstattet – aber nur auf Kulanz. Damit bleibt das grundsätzliche Problem, dass multimodale Therapien nicht im Leistungskatalog verankert sind, bestehen. „Eine strukturierte Behandlung findet in der Regelversorgung derzeit nicht statt“, räumt auch Bernd Lemke von der AOK Plus ein. Die Kasse bietet ihren Versicherten ab einem BMI von 35 exklusive und strukturierte Versorgungsprogramme in ausgewählten Kliniken in Sachsen und Thüringen an.
Zu einem ungeschönten Blick auf das Adipositas-Problem gehört aber auch die Tatsache, dass die konservative Therapie irgendwann an Grenzen stößt. „Ab einem BMI von 40 oder 50 ist eine dauerhafte Gewichtsreduktion mit konservativer Therapie sehr unwahrscheinlich“, sagt Prof. Martina de Zwaan, Präsidentin der Deutschen Adipositas Gesellschaft. Auf lange Sicht seien chirurgische Maßnahmen am erfolgreichsten. Das Problem: Die Kostenübernahme sei eine Einzelfallentscheidung und müsse oft von den Betroffenen eingeklagt werden, kritisiert die Expertin (Lesen Sie hierzu das Interview mit Prof. de Zwaan). Wenig verwunderlich ist es da, dass die OP-Zahlen hierzulande weitaus niedriger sind als in vielen anderen Ländern. „Wir sind absolutes Schlusslicht in Europa und weltweit“, sagt ein Chirurg, der anonym bleiben möchte, in einem Zeit-Interview. Er klagt an, dass hierzulande nur 0,2 Prozent aller Patienten operiert werden, bei denen die OP vom Gewicht her medizinisch sinnvoll wäre. Die Antragsverfahren würden von den Kassen systematisch in die Länge gezogen.
Behandlung beginnt, wenn es schon zu spät ist
Was solche Hürden für die Betroffenen bedeuten, weiß Michael Wirtz aus eigener Erfahrung. Er selbst brachte vor seiner Operation 160 Kilo auf die Waage. Wirtz ist Vorstandsmitglied der AdipositasHilfe Deutschland und berät andere Betroffene. Er erinnert sich an den Fall einer Frau, die wegen ihres hohen Blutdrucks bereits Arbeitsverbot hatte. Dennoch hat der MDK die Operation nicht befürwortet, die Patientin konnte sich die Operation nicht leisten. „Die Klinik hat es dann auf die eigene Kappe genommen“, erzählt Wirtz.
Im vergangenen Jahr hat er eine Petition für eine bedarfsgerechte Adipositasversorgung gestartet. Er moniert, dass die Adipositasbehandlung immer erst beginne, wenn es bereits zu spät ist. „Was uns ärgert, ist, dass Betroffene die konservative Behandlung vor einer Operation meist selbst zahlen müssen.“ Die teuren Folgeerkrankungen werden dagegen alle übernommen. „Dann zahlt die Kasse den chirurgischen Eingriff und danach kümmert sich wieder niemand um die Nachbehandlung“, berichtet der Selbsthilfevertreter.
Diese eklatante Unterversorgung hat die DAK bereits vor einigen Jahren in einem Versorgungsreport konstatiert. Kassenchef Andreas Storm räumte kürzlich auf einer Diskussionsveranstaltung ein: „Wir wissen eigentlich, was wir machen müssten, aber es ist nicht im Katalog der Regelleistungen der Kassen enthalten.“ Zu einem ähnlichen Urteil ist der Autor des „Weißbuch Adipositas“ gekommen, das vor einigen Jahren erschienen ist. „Wir sehen bei Adipositas Behandlungsdefizite entlang der gesamten Versorgungskette“, sagt Holger Bleß. Das nennt man Systemversagen. Dieser Befund ist immer noch aktuell.
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Reparaturbetrieb läuft auf Hochtouren
Während die Grunderkrankung nach wie vor eher dem Lifestyle-Bereich zugeordnet wird, läuft der Reparaturbetrieb bei den Folgeerkrankungen auf Hochtouren. Das Weißbuch führt vor Augen, wie vor allem die Begleit- und Folgekrankheiten von Adipositas die Behandlungskosten in die Höhe schießen lassen: So gehen der Analyse zufolge zwei Drittel der direkten Behandlungskosten auf die Therapie einer hinzugekommenen Diabeteserkrankung, einer koronaren Herzkrankheit oder eines Bluthochdruck und 13 Prozent auf die Versorgung des Übergewichts zurück. Studien, die das Weißbuch unter die Lupe nimmt, nennen unter Berücksichtigung der Therapiekosten für Begleiterkrankungen und aller anderen verbundenen Ausgaben jährliche Gesamtkosten in Deutschland von bis zu 30 Milliarden Euro – viel Geld, das man sparen könnte, wenn es ganzheitliche und langfristige Therapieangebote gäbe.
Schuld und Ignoranz
Der ganzen Misere liegt zugrunde, dass Adipositas hierzulande als chronische Erkrankung nicht anerkannt ist. Deshalb sind die Patienten vielfach auf den Good Will ihrer Kasse angewiesen. Dabei hat die WHO bereits 2000 – also vor 19 Jahren – festgestellt, dass Fettsucht eine chronische Erkrankung ist. Die Politik hat diese Feststellung bisher nicht berücksichtigt. Vielleicht, weil Adipositas immer noch stark als „Schuld“ des Patienten begriffen wird. Andere Faktoren, ob genetischer oder psychischer Natur, werden dabei ignoriert. Ignoriert wird auch, dass die Schuldfrage bei der Behandlung von Diabetes, Lungenkrebs oder eines Skiunfalls nicht gestellt wird.
Die Petition des Selbsthilfeaktivisten Michael Wirtz hat noch nicht viel bewegt. Nur knapp 7.000 Unterschriften sind zusammengekommen. Das seien nicht viele, wenn man bedenkt, dass fast jeder vierte Bundesbürger betroffen ist und allein 16 Millionen an Adipositas erkrankt sind, meint Wirtz. Selbststigmatisierung sei auch ein Grund für die geringe Resonanz. Er will trotzdem am Ball bleiben. „Ich habe den Eindruck, in der Politik kommt die Unterversorgung langsam an“, sagt er vorsichtig optimistisch.
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