Im Gespräch

GKV macht Adipöse zu Bittstellern

Prof. Martina de Zwaan über die Ignoranz eines Gesundheitsproblems

Berlin (pag) – Medizinisch und sozialrechtlich ist Adipositas eine Krankheit. Gesundheitspolitisch findet sie aber nicht statt, meint Prof. Martina de Zwaan. Die Präsidentin der Deutschen Adipositasgesellschaft meint: „Der Reparaturbetrieb Medizin verdient gut am Status quo“. Die gesetzliche Krankenversicherung macht Übergewichtige zu Bittstellern und treibt sie in Selbstzahler-Leistungen (IGeL).

Prof. Martina de Zwaan ist Direktorin der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie an der Medizinischen Hochschule Hannover. Für die nächsten drei Jahre ist sie Präsidentin der Deutschen Adipositas-Gesellschaft. Sie hat sich für ihre Amtszeit auf die Fahnen geschrieben, auf eine flächendeckende Versorgung von Menschen mit Adipositas hinzuwirken. © MHH – Medizinische Hochschule Hannover

Eine lebensstilbedingte Adipositas ist ein multifaktorielles Krankheitsbild. Welche Behandlung erfahren Menschen, die zum Hausarzt gehen? Wie ist der Weg durch das System?

de Zwaan: Adipositas ist medizinisch und sozialrechtlich, aber nicht gesundheitspolitisch als Krankheit anerkannt. Es gibt keine GKV-Regelversorgung. Menschen mit Adipositas sind die ungeliebten Patienten in Hausarztpraxen – der Hausarzt kann nicht für sie tätig werden und nichts an ihnen verdienen: eine unendliche Quelle der Frustration für beide Seiten. Betroffene hören vom Hausarzt lediglich: „Sie müssen abnehmen.“ Dabei wird erwartet, dass sie sich quasi selbst therapieren.

Sind Ärzte selbst mit ihrem Latein am Ende?

de Zwaan: Hausärzte sind nicht dafür ausgebildet, Adipositas zu behandeln. Sie können die Diagnose stellen, eine Anamnese erheben und die Folgekrankheiten behandeln. Eine leitliniengerechte konservative Basistherapie umfasst Ernährungsberatung, Bewegungs- und Verhaltenstherapie und erfordert letztlich einen lebenslangen gesunden Lebensstil in einer übergewichtfördernden Umwelt. Hausärzte könnten bei entsprechender Indikation Patienten auch an adipositaschirurgische Zentren überweisen und die lebenslang notwendige Nachsorge übernehmen. Deren Finanzierung ist aber auch nicht geregelt. Die Kostenübernahme einer medizinisch indizierten adipositaschirurgischen Maßnahme ist eine Einzelfallentscheidung. Sie muss von Betroffenen oft eingeklagt werden; zudem werden selbst zu zahlende Vorleistungen erwartet. Insgesamt ist die Situation desolat.

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Wie können Betroffene sich Hilfe holen?

de Zwaan: Es gibt Adipositasambulanzen, ernährungsmedizinische Schwerpunktpraxen und qualitätsgesicherte Selbstzahlerprogramme. Über § 43 SGB V „Ergänzende Leistungen zur Rehabilitation“ haben die Krankenkassen die Möglichkeit, Leistungen zu bezuschussen – ohne Rechtsanspruch auf Kostenübernahme. Die adipositaschirurgischen Selbsthilfegruppen sind eine wichtige Anlaufstelle für Betroffene. Im konservativen Bereich gibt es kaum Selbsthilfegruppen. Leider kommt es immer noch vor, dass Krankenkassen Betroffene mit Präventionskursen therapieren wollen.

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Sie haben gerade eine Patientenleitlinie zur „S3-Leitlinie Prävention und Therapie der Adipositas“ herausgegeben. Darin wird ausdrücklich vor Abzocke wie Wundermittel etc. gewarnt. Sind fettleibige Menschen dafür besonders anfällig und warum?

de Zwaan: Der Leidensdruck drängt Betroffene in den „grauen Markt“, weil es keine medizinische Regelversorgung gibt.

Hat ein adipöser Mensch mit einem BMI von 40 oder 50 überhaupt eine Chance, durch Lebensveränderung normalgewichtig zu werden und zu bleiben?

de Zwaan: Ab BMI 40 oder 50 ist eine dauerhafte Gewichtsreduktion mit konservativer Therapie sehr unwahrscheinlich. Eine Wiedererlangung des Normalgewichts zu erwarten ist unrealistisch. Auch mit chirurgischen Maßnahmen können nur etwa zwei Drittel bis drei Viertel des Übergewichts reduziert werden. Auch wenn das Gewicht meistens wieder leicht ansteigt, sind auf lange Sicht chirurgische Maßnahmen am erfolgreichsten.

Die Begleiterkrankungen von Adipositas werden besser behandelt als die Krankheit selbst. Wie erklären Sie sich das?

de Zwaan: Der „Reparaturbetrieb Medizin“ verdient gut am Status Quo. Es gibt gesundheitspolitische Fehlanreize, z.B. verdienen Krankenkassen über den Morbi-RSA an Krankheit – Gesundheit herzustellen oder präventiv erfolgreich zu sein, wird nicht belohnt. Bekannt ist beispielsweise auch das Phänomen der Überinsulinisierung; dabei besteht mit früher Lebensstilintervention bei Diabetes Typ 2 – letztlich: eine Adipositastherapie in Studien – eine gute Chance auf zeitweilige Remission. Heute sind rund ein Fünftel der Bevölkerung von Adipositas betroffen; man befürchtet, durch Einführung einer Regelversorgung für Adipositas eine Kostenlawine loszutreten.

Dabei dürfte doch eher das Gegenteil der Fall sein, oder?

de Zwaan: Ja, der DAK-Versorgungsreport Adipositas aus 2016 belegt eindrucksvoll, dass mit höheren Kosteneinsparungen bei durch Adipositas bedingten Erkrankungen zu rechnen ist. Betroffenen wird diskriminierend suggeriert, sie seien selber schuld an ihrer Erkrankung; Patienten internalisieren diese Diskriminierung aus Scham. Diese verhindert derzeit noch eine Politisierung, das Erreichen einer kritischen Masse, die sich laut genug politisch wehrt und eine Regelversorgung einfordert. Patienten mit Lipödem waren da gerade sehr erfolgreich.