Im Fokus

Die AMNOG-Dekade

Warnung vor populistischen Preisdebatten

Berlin (pag) – Dem zehnjährigen AMNOG-Jubiläum hat kürzlich der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) eine eigene Veranstaltung gewidmet. Dabei geht es auch um die Finanzierbarkeit neuer Therapien, vor populistischen Debatten warnt ein Experte.  

„Das AMNOG erfüllt seinen Zweck“, bringt der unparteiische G-BA-Vorsitzende Prof. Josef Hecken seine Bilanz zur AMNOG-Dekade pragmatisch auf den Punkt. Das Verfahren erziele verlässlich jährliche Einsparvolumina von über drei Milliarden Euro, für 2020 seien sogar 3,9 Milliarden prognostiziert. Auch die Qualität der eingereichten Dossiers habe sich kontinuierlich verbessert. „In kaum einem anderen Verfahren werden so viele klinische Daten der Öffentlichkeit vorgestellt und so Transparenz hergestellt“, lobt er. Transparenz sei neben der Kostendämpfung der zweite wichtige Zweck des AMNOG.

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Hecken will rückwirkenden Erstattungsbetrag

Um die Finanzierbarkeit innovativer und hochpreisiger Therapien auch zukünftig sicherzustellen und eine „offene Rationierung zu vermeiden“, schlägt Hecken eine bedeutsame Modifizierung des AMNOG vor: die Rückwirkung des Erstattungsbetrags zum Zeitpunkt der Nutzenbewertung durch den G-BA. Man sollte offen sein für eine Diskussion, ab wann der Erstattungsbetrag gilt, appelliert er. „Diejenigen, die darüber nicht nachdenken, denken stattdessen heimlich über die vierte Hürde nach, denn die bringt viel mehr“. Einen Vorstoß in Sachen rückwirkender Erstattungsbetrag hat zuletzt im vergangenen Jahr der AOK-Bundesverband unternommen.

Fehlbewertungen bei Arzneimitteln

Als „Zeitzeuge und Aufsicht“ zieht bei der Veranstaltung auch Thomas Müller, Abteilungsleiter im Bundesgesundheitsministerium und zuvor Abteilungsleiter im G-BA, Bilanz zum AMNOG. Er erinnert sich etwa an die allererste Bewertung des G-BA, über die eine Woche lang bis zu zehn Stunden täglich gebrütet wurde: der Wirkstoff Ticagrelor. „Aus meiner heutigen Sicht eine krasse Fehlbewertung“, räumt Müller ein. Auch die Entscheidung zu den Gliptinen hält er im Nachhinein für falsch, denn diese hätten einen „ganz erheblichen Fortschritt in der Therapie des Diabetes“ gebracht. In der Gesamtschau erkennt er allerdings kaum wesentliche Fehlentscheidungen und Abweichungen und stellt die nationale wie internationale Akzeptanz des Verfahrens hervor. Müller glaubt sogar, dass der AMNOG-Ansatz den des NICE global mittlerweile überflügelt habe.
Wie Hecken geht auch Müller auf das Thema Arzneimittelkosten und -ausgaben ein. Er warnt vor einer populistischen und moralischen Debatte; ansonsten seien Patienten mittelfristig die Leidtragenden. Es gehe darum, über das AMNOG die richtigen Anreize zu setzen. Gänzlich ausklammern will Müller die Ausgabendiskussion allerdings nicht. Spielraum sieht er offenbar bei den Kombinationstherapien. Außerdem hält er bei den second oder third best einer Indikation das Erstattungsniveau des Erstinventors für nicht unbedingt notwendig.

Was der medizinische Nutzen wert ist

Mit der Frage nach dem angemessenen Preis setzt sich auch die Schiedsstelle des Verfahrens auseinander. Bei Streitfällen zu Arzneimitteln ohne Zusatznutzen stehen meistens verfahrensrechtliche Streitereien im Mittelpunkt, meint ihr Vorsitzender Prof. Stefan Huster, Ruhr-Universität Bochum, im Gespräch mit der Presseagentur Gesundheit. Er ist verwundert, dass nach zehn Jahren AMNOG immer noch vielfältiger Klärungsbedarf besteht. Bei Arzneimitteln mit Zusatznutzen stellt die Monetarisierung des Zusatznutzens eine große Herausforderung dar. Auch europäische Preise bieten da nur wenig Orientierungshilfe, meint Huster, denn Hersteller und GKV-Spitzenverband präsentierten dazu häufig widersprüchliches Zahlenmaterial. Husters Vorgänger Prof. Jürgen Wasem hat während seiner Zeit als Schiedsstellenvorsitzender gesagt: „Ich wünsche mir stärkere Leitplanken, was die Zahlungsbereitschaft der Gesellschaft für den Zusatznutzen angeht.“ Ähnlich sieht es Huster. Auch er würde klare Kriterien dafür, was der medizinische Zusatznutzen wert ist, für sehr hilfreich erachten.

 

Prof. Josef Hecken vom G-BA © pag, Fiolka

Wie unabhängig ist der G-BA?
Der Gesundheitsökonom und Autor des AMNOG- Reports, Prof. Wolfgang Greiner, hakt bei der Veranstaltung nach: Das Gesundheitswesen werde in eine schwierige finanzielle Lage geraten – wie unabhängig kann der Gemeinsame Bundesausschuss in einer solchen Situation sein? G-BA-Chef Hecken stellt klar: „Wir müssen unabhängig von der finanziellen Situation faire, wissenschaftliche, evidenzbasierte Bewertungen abgeben.“ Die Bewertungen und Ergebnisse dürften nicht Dinge künstlich schlecht machen, die gut seien. Aber man müsse sich um konstruktive Ideen zu größeren Einspareffekten, die die Evidenz nicht berühren, bemühen. „Nur deshalb äußere ich mich zur Finanzierung“, betont der unparteiische Vorsitzende.

 

Thomas Müller, Abteilungsleiter im BMG © pag, Fiolka

„Es reicht nicht, dass einfach etwas da ist“
Mehrere Dossiers zum AMNOG liegen auf Müllers Schreibtisch, z.B. eine Überarbeitung der EU-Regulation zu Orphans und pädiatrischen Arzneimitteln – was direkt zu den Orphan-Privilegien im AMNOG-Prozess führt. Diese hält Müller für notwendig, aber im Interesse der Patienten müsse auch bei Orphan Drugs eine strenge Bewertung des Zusatznutzens erfolgen. „Es reicht nicht, dass einfach etwas da ist.“ Stichwort EU-HTA: „Wir schützen das, was wir in Deutschland mit dem G-BA haben, auf jeden Fall“, verspricht Müller. Die rote Linie sei, wenn Errungenschaften und Systemnutzen des hiesigen Verfahrens für eine etwas diffuse europäische Harmonisierung aufgegeben werden. Offen zeigt er sich jedoch für eine Harmonisierung von Teilschritten des HTA-Prozesses.