Im Fokus

Schlagzeilen und Missverständnisse zur Organspende

Die Widerspruchslösung löst keine Strukturprobleme

Berlin (pag) – Trauriger Rekord und Weckruf zugleich: 2017 wurde hierzulande der niedrigste Stand von Organspenden seit 20 Jahren erreicht. Die Parole „Weiter so“ gilt nicht mehr, umfassende Reformen sind überfällig. Seit aber Bundesgesundheitsminister Jens Spahn die Debatte zur Widerspruchslösung angestoßen hat, ist in der Öffentlichkeit der Eindruck entstanden, dass mit deren Einführung alle Probleme gelöst seien. Das stimmt nicht.

© iStock.com, THEPALMER
© iStock.com, THEPALMER

Die Vielschichtigkeit des Problems zeigt sich am Beispiel Spanien. Das Land ist bei der Zahl der gespendeten Organen Spitzenreiter. Das liegt jedoch nicht nur, wie es fälschlicherweise oft kolportiert wird, an der dort praktizierten Widerspruchslösung. Die sei bereits Ende der 1970er Jahre eingeführt worden, habe jedoch nicht automatisch zu vielen Spenden geführt, stellt Dr. Solveig Hansen klar. Angestiegen seien die Zahlen erst infolge einer 1989 angegangenen, Organisationsreform, so die Wissenschaftlerin der Universitätsmedizin Göttingen, die Einstellungen zur Organspende erforscht.

Organspende – die klinikinternen Hürden

Dass es mit der Widerspruchslösung allein nicht getan ist, weiß auch Prof. Paolo Fornara. Der Urologe ist Direktor des Nierentransplantationszentrums des Landes Sachsen-Anhalt. Er ist davon überzeugt, dass ein ganzes Maßnahmenpakt nötig sei, um hierzulande eine positive Trendwende einzuleiten. Der Arzt schildert den aufwendigen, mehrere Tage andauernden Prozess, der in den Kliniken stattfindet, sobald ein Organspender identifiziert wird: Viele Personen und verschiedene Fachdisziplinen sind involviert, zahlreiche Untersuchungen – unter Umständen sogar Computertomografien um Tumorerkrankungen auszuschließen – müssen gemacht und in Ablaufpläne untergebracht werden; Operationsräume und Intensivbetten werden blockiert. All das geschieht vor dem Hintergrund eines zum Teil erheblichen Personalmangels und enormer Arbeitsverdichtung. Und: Vergütet wird nur die reine Organentnahme. „Das führt dazu, dass die Kliniken die zusätzliche Belastung nicht gerade enthusiastisch mittragen“, sagt Fornara. Diesen zurückhaltenden Enthusiasmus illustrieren folgende Zahlen, die er nennt: 43 Prozent der Uniklinika realisierten weniger als sechs Organspenden pro Jahr. Der gesamte Prozess der Organspende müsse aufwandsgerecht und gestaffelt entschädigt werden, fordert er.

Verkümmerte Bereitschaft bei Ärzten?

Erst kürzlich hat der Verband der Krankenhausdirektoren Deutschlands betont, dass die Organspende für Kliniken nicht nur ein ethisches, sondern auch ein wirtschaftliches Thema sei. Gerade kleinere Häuser hätten oft nicht die personellen und finanziellen Kapazitäten, aktiver zu werden.

„Wir haben zu lange auf dieses charitative, selbstlose Konzept der Organspende gesetzt und nicht verstanden, dass in unserer technologisierten Welt auch charitative Dinge strukturiert werden müssen“, betont Fornara. Seine Aussage ist auch vor dem Hintergrund zu verstehen, dass sich Ärzte eine verkümmerte Bereitschaft, nach Organspendern zu suchen, vorwerfen lassen müssen. So formuliert es der Ärztliche Direktor der Charité, Prof. Ulrich Frei, jüngst bei einer Veranstaltung in Berlin.

© iStock.com, Capuski
© iStock.com, Capuski

Strukturreformen sind nicht sexy

Immerhin geht die Politik jetzt viele Probleme rund um die Organspende in den Kliniken an. Mit dem geplanten „Gesetz für bessere Zusammenarbeit und bessere Strukturen bei der Organspende“ (GZSO) will der Gesundheitsminister das Prozedere der Organgewinnung neu organisieren und sicher finanzieren. Die Rolle der Transplantationsbeauftragten soll deutlich gestärkt werden, Entnahmekrankenhäuser werden künftig für den gesamten Prozessablauf einer Organspende besser vergütet. Vorgesehen ist auch ein Berichtssystem zur Qualitätssicherung bei Spendererkennung und -meldung.

Experten begrüßen einhellig dieses Vorhaben, das immens wichtig ist, um den Negativtrend bei der Organspende zu stoppen – doch für Tageszeitungen und Talkshows sind solche Reformen nicht sexy. Jenseits der Fachkreise gibt es dazu kaum Widerhall. In die Schlagzeilen schafft es der Minister mit diesem Thema erst, als er die Debatte zur Widerspruchslösung eröffnet. Viele Politiker bis hin zur Kanzlerin positionieren sich dazu. Die Debatte an sich ist begrüßenswert, doch problematisch ist daran, dass der ausschließliche Fokus auf die Widerspruchslösung nicht nur strukturelle Probleme überlagert, sondern auch tiefgreifende Missverständnisse und Schwierigkeiten beim Umgang mit dem Thema.

„Reine Sachinformation ist nicht alles“

Da wäre beispielsweise der Zielkonflikt bei der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA). Diese soll zwar neutral informieren, Ziel der Ausklärungskampagnen ist jedoch, die Zahl der Spender zu erhöhen. Außerdem wird gemeinhin davon ausgegangen, dass die Entscheidung gegen eine Organspende auf Informationsdefiziten beruht oder auf Misstrauen angesichts der Skandale in den vergangenen Jahren zurückzuführen ist. Die Wissenschaftlerin Solveig Hansen hat mit ihren Kolleginnen die in der Bevölkerung verbreiteten Einstellungen zur Organspende näher untersucht und Bürger, die diese ablehnen, interviewt. Heraus kam, dass vor allem tieferliegende kulturelle Vorstellungen von Tod und Körperlichkeit, insbesondere von körperlicher Unversehrtheit, eine wesentliche Rolle spielen. Dieser sehr persönliche und emotionale Aspekt sollte in der Kommunikation berücksichtigt werden, fordert Hansen. „Reine Sachinformation ist nicht alles.“

Tabus müssen aufgearbeitet werden

Ein weiteres Ergebnis der Göttinger Arbeitsgruppe ist, dass die Einstellung zum Hirntod einen nicht zu unterschätzenden Einflussfaktor bei fehlender Spendenbereitschaft darstellt. Die irreversible Hirnschädigung ist übrigens, wie die Wissenschaftlerin anmerkt, nicht nur für Angehörige, sondern auch das Klinikpersonal eine große Belastung, verbunden mit starken Emotionen. Ob es für jene im streng durchgetakteten Klinikalltag genügend Raum gibt, ist fraglich. Das klingt in einer Mitteilung der Deutschen Krankenhausgesellschaft an, in der es heißt: „Wir müssen auch der psychologischen Belastung der Menschen gerecht werden, die an diesem Prozess beteiligt sind.“ Hansen ist überzeugt, dass darüber noch zu wenig gesprochen wird. Ein Tabu, das dringend aufzuarbeiten sei.

Festzuhalten bleibt, dass eine breite gesellschaftliche Debatte notwendig ist, die auch vor unangenehmen Fragen keinen Halt macht. Ausschließlich über die Widerspruchslösung zu diskutieren, kratzt bei diesem Thema lediglich an der Oberfläche.

 

Alternativen zur Organspende?
Die Nachfrage nach gespendeten Organen wird vermutlich immer größer bleiben als das Angebot, selbst wenn die Zahl der potenziellen Spender wieder steigen sollte. Der Verband der Krankenhausdirektoren verlangt daher intensives Nachdenken über Lösungen, die Alternativen zu Organspenden darstellen. Diese Forschung müsste gefördert und finanziert werden. Als Themen werden biologische Herzschrittmacher, Herzklappen, Knorpelzell- und Hautzellersatz, Diabetes und sogar die Möglichkeit eines nachwachsenden Herzens genannt. Auch die Deutsche Krankenhausgesellschaft mahnt eine offene und ehrliche Informationskampagne an, bei der schwierige ethische Fragen nicht ausgegrenzt werden dürften: „Dazu gehören auch Debatten über alternative Verfahren wie beispielsweise die Erzeugung von Organen aus Stammzellen.“