Im Fokus

Wenn Interessen kollidieren

Über primäre und sekundäre Motive in der Medizin

Berlin (pag) – Lange Zeit waren Interessenkonflikte in der Medizin hierzulande unterbelichtet – kein Thema für die Fachöffentlichkeit, sondern eher für Exoten. Das scheint sich momentan zu ändern. Ein Überblick über grundsätzliche Debatten, wichtige Initiativen und weiße Flecken.

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Mit den verschiedenen Spielarten des Themas haben sich in den vergangenen Monaten mehrere Veranstaltungen auseinandergesetzt. Transparency International Deutschland informierte im Juli in der Berliner Ärztekammer über Interessenkonflikte und Leitlinien. Die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) diskutierte auf zwei Tagungen über ihre aktualisierten Empfehlungen zum Umgang mit Interessenkonflikten. Im Frühsommer publizierten darüber hinaus der Verband forschender Pharma-Unternehmen (vfa) und der Verein Freiwillige Selbstkontrolle für die Arzneimittelindustrie (FSA) zum zweiten Mal die Zahlungen der Industrie an Ärzte und andere Gesundheitsberufe. Erwähnenswert sind außerdem die kürzlich online gegangene „Null-Euro-Ärzte“-Datenbank von Correctiv sowie die im Mai erschienene Schwerpunktausgabe des JAMA-Magazins, die sich ausführlich mit „Conflicts of Interests“ (COI) beschäftigt.

Gesinnungswandel oder alles beim Alten?

„Das Thema ist sehr aktuell geworden, die Leute beschäftigen sich damit“, beobachtet Prof. Wolf-Dieter Ludwig, Vorsitzender der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ). Er hat 2011 gemeinsam mit Kollegen ein Buch über Interessenkonflikte publiziert. Seitdem hat sich einiges verändert. Der Experte spricht im Gespräch mit der Presseagentur Gesundheit sogar von einem Gesinnungswandel.

WAS IST EIN INTERESSENKONFLIKT? „Interessenkonflikte bezeichnen Gegebenheiten, die ein Risiko dafür schaffen, dass professionelles Urteilsvermögen, welches sich auf ein primäres Interesse bezieht, durch ein sekundäres Interesse unangemessen beeinflusst wird.“ 
Zitat aus den AWMF-Empfehlungen „zum Umgang mit Interessenkonflikten bei Aktivitäten medizinischer Fachgesellschaften“.
Eine umfangreiche Darstellung des Thema bietet „Interessenkonflikte in der Medizin – Hintergründe und Lösungsmöglichkeiten“, herausgegeben von Klaus Lieb, David Klemperer, Wolf-Dieter Ludwig.

Auch Prof. Claudia Spies, Ärztin an der Charité, erkennt Fortschritte, „immer mehr Kollegen sind sich bewusst, Interessen zu haben“, sagt sie (das vollständige Interview mit Prof. Spies können Sie ebenfalls in dieser Ausgabe lesen). Aber es gibt auch andere Stimmen: Prof. Christoph Stein, ebenfalls Arzt an der Charité, kritisiert auf der Transparency-Veranstaltung, dass es in der Ärzteschaft und an den medizinischen Fakultäten „kein Problembewusstsein“ gebe.

Jeder Arzt macht individuelle Erfahrungen, eine grundsätzliche Einschätzung fällt daher schwer. Möglich, dass das Thema in der Wissenschaft einen anderen Stellenwert hat als im Versorgungsalltag. Unstrittig dürfte dagegen mittlerweile sein, dass niemand ohne Interessenkonflikte ist, sie sind in der Medizin allgegenwärtig, heißt es etwa in dem von Ludwig und Kollegen herausgegebenen Buch. Auch das JAMA-Magazin hebt hervor: „Recognition that each Physician has COIs and that COIs and dishonesty are at different ends of the spectrum is the first step in an thoughtful conversation about how to protect professional judgment and integrity.“

Interessenkonflikt als Risikosituation

Unter einem Interessenkonflikt wird der Konflikt zwischen dem primären ärztlichen Interesse und den persönlichen (sekundären) Interessen des Arztes verstanden. Im Mittelpunkt des primären Interesses steht das Patientenwohl. Dieses ist allerdings sekundären Interessen ausgesetzt; sie können materieller Natur sein (Honorare, Firmenanteile etc.), es gibt aber auch eine nicht-materielle Komponente (Reputation, Karriere). Ein Interessenkonflikt wird als eine Risikosituation für ein verzerrtes Urteil verstanden, sprich der Konflikt besteht unabhängig davon, wie sich der Behandler letzten Endes entscheidet.

Transparenz allein reicht nicht

Manifestieren kann sich das Nebeneinander verschiedener Interessen auf den unterschiedlichsten Ebenen, es geht nicht nur um den Besuch des Pharma-Außendienstes in der Arztpraxis. Vor allem bei Leitlinienerstellung und Fortbildungsveranstaltungen sieht Prof. Ludwig noch eindeutigen Handlungsbedarf. Die inzwischen immer weiter verbreitete Praxis, die eigenen Interessenkonflikte offenzulegen, ist für ihn „absolut unzureichend“. Essentiell sei, die Bewertung der Konflikte durch andere. Ludwig ist überzeugt: „Ein Arzt kann nie selbst erkennen, ob er voreingenommen ist; das muss er anderen überlassen.“
Diesen Ansatz will die AWMF bei der Leitlinienerstellung implementieren. In ihren neuen Empfehlungen ist vorgesehen, dass die Autoren bereits bevor sie mit der Arbeit an der Leitlinie beginnen, ihre Interessen offenlegen und von anderen bewerten lassen. Wird ein Interessenkonflikt erkannt und als moderat eingestuft, darf die Person zwar mitberaten, aber nicht mit abstimmen. Bei gravierenden Konflikten wird der Betreffende auch von den Beratungen ausgeschlossen. Momentan befinden sich die Empfehlungen noch im Praxistest. Sie beschränken sich übrigens nicht auf Leitlinien, sondern regeln auch den Umgang mit Interessenkonflikten im Kontext von Studien und Kongressen.

Streit um CME-Zertifizierungen

Interessenkonflikte spielen auch bei der seit langem geführten Diskussion um pharmagesponserte CME-Fortbildungen für Ärzte eine Rolle. Diese sind Initiativen wie MEZIS (Mein Essen zahl ich selbst) ein Dorn im Auge. Sie warnen, dass dort die Medikamente der Sponsoren verzerrt dargestellt und die fortgebildeten Ärzte in ihrem Verschreibungsverhalten beeinflusst werden. Für die CME-Zertifizierung sind die Ärztekammern zuständig. Ihnen gegenüber müssen alle Akteure einer Fortbildungsveranstaltung – Veranstalter, wissenschaftliche Leitung und Referenten – ihre Interessen in Form einer Selbstauskunft offen legen. Diese Pflicht haben sie auch gegenüber den Teilnehmern, um die Ärzte zu befähigen, die Inhalte kritisch zu reflektieren. Der Hauptgeschäftsführer der Bundesärztekammer, Tobias Nowoczyn, stellt auf einer Veranstaltung der AWMF ausdrücklich klar: „Den zweiten Schritt, die Interessen zu bewerten – das machen wir im Kontext Fortbildung und Interessenkonflikte ausdrücklich nicht.“ Schließlich würden bei den Ärztekammern bis zu 400.000 Fortbildungen im Jahr zertifiziert „und ein Interessekonflikt gehört zur beruflichen Biografie fast aller möglichen Referenten“. Doch Nowoczyn räumt auch ein, dass es Fälle gebe, „wo wir durchaus mehr machen müssen“.

Who watches the Watcher?

Das Problembewusstsein scheint zuzunehmen, allerdings gibt es auch Bereiche, die bislang noch wenig im Fokus stehen. In der Schwerpunktausgabe von JAMA werden auch die wissenschaftlichen Journale selbst in den Blick genommen. In einem Artikel fragen die Autoren, ob beispielsweise ein Herausgeber, der ein Patent auf ein Gerät zur Bilderfassung hat, objektiv beurteilen könne, ob eine Studie über eine neue Technologie im Magazin veröffentlicht werden sollte, die direkt mit seiner Erfindung konkurriert. „Who watches the watchers?“, lautet die zutreffende Frage.
„Geht es denn immer nur ums Geld?“, könnte eine weitere berechtigte Frage lauten, denn bei der Diskussion um Interessenkonflikte stehen meist materielle Einflussfaktoren im Vordergrund. „Seid umschlungen, Millionen“, titelte etwa spiegel.de, als die Zahlungen der Industrie an Ärzte im vergangenen Jahr das erste Mal veröffentlicht wurden. Materielle Interessen sind eindeutig zu erfassen, mit immateriellen tut man sich deutlich schwerer. Dabei können sie – wie Reputation, Karriere und der Wunsch nach vielen, möglichst hochrangigen Publikationen oder die Zugehörigkeit zu einer Therapieschule – ebenso wirksam sein. Sie stellen für Ärzte eine wichtige Antriebsfeder dar, problematisch wird es allerdings, wenn sie dominant werden.

Institutionelle Interessenkonflikte contra 
Patientenwohl

Als zu dominant empfinden inzwischen viele Ärzte die ökonomischen Vorgaben bei der Versorgung ihrer Patienten. Mengenausweitung, Patientenselektion Patientenkarussel, Drehtüreffekt, lauten einige der Stichwörter, die meist unter dem Schlagwort Ökonomisierung subsumiert werden. Fest steht: Jedes Vergütungssystem schafft automatisch sekundäre Interessen, im Kontext von DRGs & Co. sprechen Experten von institutionellen Interessenkonflikten. Doch was, wenn die sekundären Interessen zu primären werden? Dr. Wolfgang Wodarg, Vorstand von Transparency International Deutschland, ist überzeugt, dass sich mit der Transformation des Gesundheitswesens zum Gesundheitsmarkt das primäre Interesse verändert hat. Davor warnt er auf der Veranstaltung in der Berliner Ärztekammer im Juli. Mit dieser Auffassung steht er nicht allein, die Ökonomisierung der Medizin wird inzwischen von vielen Ärztevertretern genau deshalb heftig kritisiert.

Fazit Unsere Recherche zeigt, wie vielschichtig das Thema Interessenkonflikte ist. Vor mehreren Jahren haben Ludwig und seine Kollegen die Hoffnung formuliert, mit ihrem Buch das Thema aus der „Schmuddelecke“ zu holen und einer sachlichen und kritischen Diskussion zuzuführen. Diese hat an einigen Stellen bereits begonnen, dennoch hat der Appel nichts an Aktualität eingebüßt.