Warum die Notfallversorgung in Deutschland reformiert werden muss
Berlin (pag) – Die Notfallversorgung gilt inzwischen selbst als dringend behandlungsbedürftig. Doch Sektorengrenzen und Verteilungskämpfe erschweren eine Reform, deren Notwendigkeit niemand mehr abstreitet. Eine Bestandsaufnahme. Die Notfallversorgung in Deutschland ist kompliziert – sowohl was die Anbieter betrifft als auch die Inanspruchnahme und Lenkung der Patienten. Rettungsdienst, Notaufnahmen der Krankenhäuser und ärztlicher Bereitschaftsdient agieren eher neben- als miteinander, wobei letzterer bei weiten Teilen der Bevölkerung noch immer weitgehend unbekannt ist. Die jüngste Versichertenbefragung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) ergab etwa, dass der Bereitschaftsdienst nur knapp 30 Prozent der Befragten ein Begriff ist. Immer mehr Patienten suchen dagegen die Notaufnahmen der Kliniken auf, Experten beziffern die jährlichen Steigerungsraten der Fallzahlen auf bis zu acht Prozent. Überfüllte Notaufnahmen und lange Wartezeiten sind die Folge.
Gefühlte und echte Notfälle
Der Run auf die Notaufnahmen ist nicht allein durch den demografischen Wandel zu erklären. 50 Prozent der Patienten stuft sich selbst nicht als Notfall ein. Das hat eine aktuelle Befragung in Hamburg und Schleswig-Holstein, die PiNa-Nord-Studie, ergeben. Für die Inanspruchnahme der Notaufnahme gibt es der Erhebung zufolge vielfältige Gründe: „Da spielt die subjektive Dringlichkeit des Gesundheitsproblems eine Rolle, die wahrgenommene ambulante Versorgungssituation, individuelle Patientenpräferenzen, aber auch Gesundheitskompetenz und die psychische Belastung der Patienten“, fasst Prof. Martin Scherer vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf die Ergebnisse zusammen.
Auch eine allgemein verbreitete On-Demand-Erwartungshaltung der Bevölkerung könnte zur „Beliebtheit“ der Notaufnahmen beitragen. Wer permanent erreichbar ist und rund um die Uhr online shoppen kann, beansprucht möglicherweise auch zu jeder Uhrzeit das Komplettpaket: Zugang zu umfangreicher Diagnostik und zu Experten verschiedener Fachdisziplinen. Unproblematisch ist das nicht, denn auch die nicht dringlichen Fälle binden in der Notaufnahme Kapazitäten, die an anderer Stelle – womöglich bei den echten Notfällen – fehlen.
„Umerziehungsprogramm“ für Patienten?
Scherer plädiert daher dafür, die Kompetenz der Patienten zu steigern. „Wir müssen die Fähigkeit der Menschen verbessern, sich vor der Notaufnahme im Gesundheitswesen zu orientieren.“ Den ärztlichen Bereitschaftsdienst bekannter zu machen, scheint die logische Schlussfolgerung. Doch müssen wirklich die Patienten den Strukturen oder nicht eher die Strukturen den Patienten angepasst werden? SPD-Gesundheitspolitiker Prof. Karl Lauterbach etwa hält nichts davon, die Menschen davon abzuhalten, in die Notaufnahmen zu gehen. „Wir brauchen kein Umerziehungsprogramm, sondern mehr Wettbewerb im Gesundheitswesen“, sagt er in einem Interview.
KBV und Kassenärztliche Vereinigungen (KVen) bemühten sich am 11. Oktober, die Nummer des ärztlichen Bereitschaftsdienstes – 116117 – mit einem bundesweiten Aktionstag bekannter zu machen. Und in Hamburg beispielsweise geht die KV mit einem neuen umfangreichen Bereitschaftsdienst- und Service-Projekt, dem „Arztruf Hamburg“, in die Offensive.
Wie erfolgreich solche Aktionen sind, muss abgewartet werden. Fest steht: Die KVen sind in der Pflicht, weil sie den Sicherstellungsauftrag für die ambulante Notfallversorgung, sprich den Bereitschaftsdienst, haben. Nach Ansicht der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG) nehmen sie diesen aber nur ungenügend wahr. Stattdessen seien die Kliniken die unterfinanzierten Lückenbüßer für die Bereitschaftsdienste, lautet deren Argumentation.
Die DKG kritisiert beispielsweise die in diesem Jahr in Kraft getretene Abklärungspauschale. Diese wird für Patienten in Notaufnahmen abgerechnet, die keinen Notfall darstellen und deshalb an die reguläre vertragsärztliche Versorgung verwiesen werden können. Als zeitlicher Aufwand werden zwei Minuten veranschlagt, die Höhe der Pauschale beträgt tagsüber 4,74 Euro. Für die DKG nur ein weiteres Beispiel für die finanzielle Benachteiligung der Kliniken. Mit Verweis auf ein Gutachten zur ambulanten Notfallversorgung im Krankenhaus von der Management Consult Kestermann GmbH rechnet Hauptgeschäftsführer Georg Baum bereits im Februar 2015 vor: „Mehr als zehn Millionen ambulante Notfälle mit einem Fehlbetrag von 88 Euro pro Fall führen zu einer Milliarde Euro nicht gedeckter Kosten“.
Verteilungskämpfe an der Grenze zwischen ambulant und stationär
Bei der Notfallversorgung geht es somit nicht nur um optimierungsbedürftige Strukturen, sondern auch um knallharte Verteilungskämpfe an der Grenze zwischen ambulant und stationär. Die Schützengräben sind tief. Das zeigt sich auch am Beispiel Portalpraxen. Der Gesetzgeber schreibt sie als erste zentrale Anlaufstelle für Patienten ins 2016 in Kraft getretene Krankenhausstrukturgesetz, um die Organisation eines gemeinsamen Notdienstes zu ermöglichen. Viele KVen empfinden das aber als Affront. Inzwischen haben sich die Wogen geglättet und an vielen Klinikstandorten gibt es solche Einrichtungen bereits. Bundesweite Zahlen liegen allerdings nicht vor.
Modernisierte Bereitschaftsdienste und Portalpraxen sind zweifelsohne sinnvolle Initiativen. Damit sie aber in der Versorgungsrealität nachhaltige Wirkung zeigen können, müssen sie weitergedacht und in ein Gesamt-konzept eingebettet werden. Eine umfassende Reform-strategie muss auch die „Kette finanzieller Fehlanreize“ in der Notfallversorgung beseitigen, die Prof. Marion Haubitz vom Klinikum Fulda anprangert: Da Rettungs-wagen in der Regel kein Geld für Leertransporte erhielten, brächten diese mehr Patienten in die Rettungsstellen. Dort stiegen zudem die stationären Aufnahmen, weil sie finanziell attraktiver seien als ambulante Behandlungen, erläutert die Medizinerin auf einer Veranstaltung des Sachverständigenrates (SVR) zur Begutachten der Entwicklung im Gesundheitswesen, dessen Mitglied sie ist. Mit Blick auf die Überlastung und Unzufriedenheit des Personals sowie die steigenden Kosten mahnt sie unverblümt: „Hier muss etwas geschehen, so kann es nicht weitergehen.“
Die Vorschläge des Sachverständigenrates
Das Ziel des Sachverständigenrates ist eine Notfallversorgung, die „bürgernäher, bedarfsgerechter, qualitativ besser und kosteneffektiver“ als bisher ist. Ein umfassendes Konzept hat er im September vorgestellt. Eine zentrale Rolle spielen darin voll integrierte regionale Leitstellen. Sie sollen über eine bundeseinheitliche Rufnummer erreichbar sein und je nach Patientenanliegen die beste Versorgungsoption wählen. Die telefonische Beratung übernehmen erfahrene Pflegekräfte, Ärzte können bei Bedarf zum Gespräch dazu geschaltet werden. Über die Leitstellen kann eine direkte Terminvergabe in Praxen niedergelassener Ärzte erfolgen, die spezielle Notfall-Slots vorhalten sollen, oder in den nach den Vorstellungen des Rates neu zu schaffenden integrierten Notfallzentren (INZ). Auch Hausbesuche des ärztlichen Bereitschaftsdienstes und Rettungseinsätze werden dort koordiniert.
Ebenfalls eine zentrale Rolle im Reformkonzept spielen die INZ, die Bereitschaftsdienstpraxis und Notaufnahme unter einem Dach vereinigen. Wichtig ist dem Rat dort das Ein-Tresen-Prinzip: Alle Patienten gehen durch den gleichen Eingang und werden an der identischen Stelle ersteingeschätzt. Obgleich in einer Klinik verortet, haben die INZ sektorenübergreifenden Charakter und sollen dort als eigenständige organisatorisch-wirtschaftliche Einheit angesiedelt werden. Als Träger können KVen und Kliniken gemeinsam agieren. Um unangemessene Anreize zur stationären Aufnahme zu vermeiden, sollten die INZ jedoch von den KVen allein betrieben werden. Nicht jedes Krankenhaus soll ein solches INZ beherbergen, der Rat schlägt eine Ausschreibung durch die Länder vor. Die Finanzierung habe durch einen extra-budgetären, aus ambulanten und stationären Budgets bereinigten, separaten Finanzierungstopf für sektorenübergreifende Notfallversorgung zu erfolgen.
Realistischer Optimismus?
Der SVR denkt die Notfallversorgung mit den INZ als sektorenübergreifende Versorgungsform zum Teil völlig neu, greift dabei aber auch auf Ideen aus anderen Gutachten (siehe Infokasten) beziehungsweise regionale Initiativen und Beispiele aus dem Ausland zurück. „Dass es mehr Koordination und Zusammenarbeit zwischen den Beteiligten geben muss, mehr Steuerung, Triage und qualifizierte Ersteinschätzung, dazu gibt es kaum Widerspruch“, sagt der Ratsvorsitzender Prof. Ferdinand M. Gerlach im Interview. Seinen öffentlich verkündeten Optimismus, dass eine Reform der Notfallversorgung „gelingen kann und wird“, kann man teilen oder nicht. Doch dass es ein Thema in der neuen Legislatur sein muss, ist unbestritten – zu lange schon liegen die Dinge im Argen. Vielleicht ist die Zeit endlich reif dafür, nicht nur die eine oder andere Stellschraube vorsichtig neu zu justieren, sondern den Bereich umfassend neu zu gestalten.
DENKANSTÖSSE ZUR NOTFALLVERSORGUNG
- September 2017: „Integrative Notfallversorgung aus ärztlicher Sicht“, Konzeptpapier von KBV und Marburger Bund
- September 2017: „Zehn-Punkte-Programm für eine bessere Notfallversorgung“, Autorenpapier von Harald Terpe u.a., Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen
- September 2017: „Instrumente und Methoden zur Ersteinschätzung von Notfallpatienten – Bestandsaufnahme und Konzeptentwicklung für die kassenärztliche Notfallversorgung“, erstellt von aQua-Institut im Auftrag des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung in Deutschland (Zi)
- September 2016: „Ambulante Notfallversorgung – Analyse und Handlungsempfehlungen“, erstellt vom aQua-Institut im Auftrag des Verbands der Ersatzkassen
- Juli 2016: „Ambulantes Potential in der stationären Notfallversorgung“ Projektphase II, erstellt vom IGES Institut im Auftrag des Zi
- Mai 2015: Mehrere Notfallmediziner veröffentlichen ein „Positionspapier für eine Reform der medizinischen Notfallversorgung in deutschen Notaufnahmen“.
- März 2015: „Ambulantes Potential in der stationären Notfallversorgung“ Projektphase I,erstellt vom IGES Institut im Auftrag des Zi
- Februar 2015: „Gutachten zur ambulanten Notfallversorgung im Krankenhaus – Fallkostenkalkulation und Strukturanalyse“, erstellt von der Management Consult Kestermann GmbH (MCK) in Kooperation mit der Deutschen Gesellschaft interdisziplinäre Notfall- und Akutmedizin (DGINA)