In Kürze

Evidenz- oder Kostengrenze für medizinischen Fortschritt?

Berlin (pag) – Am Beispiel des metastasierten Brustkrebses deklinieren Experten kürzlich auf einer Tagung von IGES und Novartis den Umgang mit Innovationen und Probleme der frühen Nutzenbewertung durch. Über Evidenzgrenzen, Unsicherheit und die Deutungshoheit.

Mehr Patientinnen sollten in zertifizierten Zentren behandelt werden. Dafür macht sich Christoph J. Rupprecht von der AOK Rheinland/Hamburg stark. Solche spezialisierten Zentren böten die beste Voraussetzung für die Einführung von Innovationen, denn Rupprecht will einen „qualitätsgesicherten“ und keinen „willkürlichen Fortschritt“. Mit Prof. Stephan Schmitz, Vorsitzender des Bundesverbands der Niedergelassenen Hämatologen und Onkologen in Deutschland, ist der Kassenvertreter insofern auf einer Linie, als dass sich auch der Arzt für einen strukturierten Erkenntnisgewinn nach der Zulassung ausspricht – „aber ohne Rationierung“, wie Schmitz betont. Allerdings rede man bereits seit vielen Jahren über das Thema, passiert sei fast nichts. Er kritisiert auch, dass die frühe Nutzenbewertung missbraucht werde, um den Stand des medizinischen Wissens zu definieren. Die Berichte des AMNOG-Verfahrens seien zwar hilfreich, aber nicht die endgültige Meinung. Es müsse den medizinischen Fachgesellschaften überlassen werden, den aktuellen Wissensstand festzulegen, ansonsten drohe eine „Medizin nach Kassenlage“, warnt der Onkologe.

„Kannibalisierung von Indikationen“

Demgegenüber betont Thomas Müller, Abteilungsleiter Arzneimittel beim Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA), dass hierzulande keine Rationierung aus Kostengründen stattfinde. Allerdings werde eine strenge Nutzenbewertung praktiziert – also eine Evidenz- anstelle einer Kostengrenze. Die Onkologie beschreibt Müller als sehr dynamisches Feld, bei dem sehr viel Geld im System sei. Als Nebenwirkung dessen sieht er eine „Kannibalisierung von Indikationen“.
Der G-BA-Vertreter weist darauf hin, dass das Gesundheitssystem stark an einer Explosion der Einstiegspreise neuer Arzneimittel – ausdrücklich nicht der Ausgaben insgesamt – knabbere: „Die Onkologie ist da sehr präsent.“ Müller mahnt daher Rationalität in der Preisfindung an.
Ein weiteres Thema auf der Tagung ist der Stellenwert des Endpunktes Progressionsfreies Überleben (Progression Free Survival, PFS) – auch im G-BA gibt es Müller zufolge darüber kontroverse Diskussionen. Letztlich gehe es um die Unsicherheit, wie man ein Surrogat werte, meint er. „Und die Akzeptanz von Unsicherheit ist in einem solidarischen System nicht sehr ausgeprägt.“ Holger Bless, Bereichsleiter HTA & Value Strategy bei IGES, weist indes darauf hin, dass Deutschland als einziges Land mit einer HTA-Behörde PFS als patientenrelevanten Outcome-Parameter explizit ablehne. Die Brisanz bestehe insbesondere darin, dass das Urteil „kein Zusatznutzen“ erhebliche Auswirkungen auf die Versorgung haben könne, erläutert er mit Blick auf die seit 2011 nutzenbewerteten Antidiabetika. Fast die Hälfte davon seien nicht mehr im deutschen Markt verfügbar. „Mit zunehmender Einführung von Erstlinien-Onkologika könnten sich ähnliche Auswirkungen auf die Versorgung ergeben“, warnt er.

 

Wo liegen die Grenzen des medizinischen Fortschritts: Was ist für die Solidargemeinschaft noch bezahlbar – und was nicht? © iStock, Mark Kostich