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Nicht lieferbar

Arzneimittel werden knapp – die Politik muss gegensteuern

Berlin (pag) – Wenn Arzneimittel nicht lieferbar sind, sogar Versorgungsengpässe drohen, wird das Vertrauen der Bürger in ihr Gesundheitssystem erschüttert. Die Politik will das Problem angehen – eine komplexe Herausforderung, nicht zuletzt, weil es um internationale Ressourcenallokation geht.

In den vergangenen Wochen haben Ärzte und Apotheker erneut vor Lieferschwierigkeiten bei Arzneimitteln gewarnt, die zunehmend die Patientenversorgung bedrohen. Dr. Ellen Lundershausen, Vizepräsidentin der Bundesärztekammer, fordert die Politik auf, konsequent gegen solche Engpässe vorzugehen. Tatsächlich tut sich etwas: In einem Positionspapier skizzieren Gesundheitspolitiker der Unionsfraktion Lösungsvorschläge.

Wie funktioniert eine nationale Arzneimittelreserve?

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Einer der Vorschläge lautet, eine nationale Arzneimittelreserve an verschiedenen Stellen der Verteilkette aufzubauen. Damit ist keine statische Einlagerung in zentralen Depots gemeint. Geprüft werden soll eine Verlängerung der Vorhaltepflicht. Die verpflichtende Vorratshaltung würde jene Arzneimittel betreffen, die versorgungsrelevant sind und bei denen ein Lieferengpass droht. Für die stationäre Versorgung soll geprüft werden, ob bei diesen Medikamenten die Vorratshaltung in der Krankenhausapotheke von zwei auf vier Wochen verlängert werden kann. Ambulanter Sektor: Angeregt wird eine Verlängerung der Vorratshaltung beim Großhandel und beim Hersteller im vergleichbaren Zeitraum. Lundershausen plädiert dafür, dass Ärzteschaft und Politik gemeinsam mit Kostenträgern und Pharmaunternehmen festlegen sollten, welche Medikamente in welchem Umfang vorgehalten werden müssen. Sie sagt: „Es wäre doch eine Schildbürgerei sondergleichen, wenn Deutschland die Impfpflicht einführt, während gleichzeitig die dafür notwendigen Impfstoffe fehlen“.

Rabattverträge regional zentralisieren

Weitere Vorschläge aus dem Papier der Union: „Die bereits für Krankenhausapotheken bestehende Meldepflicht muss auf versorgungsrelevante Medikamente für die ambulante Versorgung ausgedehnt werden.“ Rabattverträge sollten außerdem nur ausgeschrieben werden, wenn mindestens drei Anbieter und zwei Wirkstoffhersteller vorhanden sind. „Um die Vielfalt und damit eine weitere Unabhängigkeit zu gewährleisten, sollte die Vergabe grundsätzlich auf mindestens zwei unterschiedliche Anbieter verteilt werden“, heißt es weiter. Außerdem wird eine stärkere regionale Zentralisierung des Rabattvertragssystems ins Spiel gebracht – soweit dies vergaberechtlich zulässig ist. Als Vorbild werden die Rabattverträge bei der parenteralen Zubereitung genannt.

Mehr Transparenz über deutsche Marktsituation

Die Unionspolitiker mahnen auch mehr Transparenz an: insbesondere, was den Export von Arzneimitteln betrifft, die eigentlich zur Versorgung der Patienten in Deutschland zur Verfügung stehen sollten, jedoch aufgrund der globalen Marktsituation in andere Länder exportiert werden. Hierzu soll das Bundesgesundheitsministerium eine wissenschaftliche Studie in Auftrag geben. Als ultima ratio wird sogar eine Exportbeschränkung im Falle bestehender Lieferengpässe genannt. Last but not least soll die Bundesregierung die pharmazeutische Produktion in der EU zu einem Schwerpunkt der deutschen Ratspräsidentschaft 2020 machen. Nationale Alleingänge helfen nicht, um die Versorgung der Patienten sicherzustellen, findet auch Dr. Oliver Funken. Der Vorsitzende des Hausärzteverbandes Nordrhein macht sich für Regelungen auf EU-Ebene stark, um Produktionsstätten wieder nach Europa zu holen. Eine europäische Lösung hätte viele Vorteile: kontinuierliche Qualitätskontrollen, verkürzte Lieferwege, mehr Arbeitsplätze. Funken: „Auch, wenn hierdurch die Preise steigen, sollte es uns die Sicherung der Versorgung wert sein.“

Hausärzte und Apotheker berichten von Problemen

Der Hausarzt berichtet, dass mittlerweile selbst gängige Präparate kurzfristig nicht lieferbar seien. „Lieferengpässe treten bei Routineverordnungen hochfrequent auf“ – bei hochpreisigen, patentgeschützten Arzneimitteln hingegen derzeit noch selten. 229 Humanarzneimittel führt das BfArM gegenwärtig mit einem Lieferengpass (Stand Mitte September).

Auch bei den Apothekern gewinnen Lieferengpässe an Bedeutung. Als eines der größten Ärgernisse im Berufsalltag bezeichnen sie mittlerweile 91,2 Prozent der selbstständigen Apotheker. Im Jahr 2016 hatten sich nur 35,5 Prozent der Inhaber darüber geärgert. Sechs von zehn Apothekern (62,2 Prozent) geben an, dass sie und ihre Beschäftigten mehr als zehn Prozent ihrer Arbeitszeit dafür aufwenden, um bei Lieferengpässen gemeinsam mit Ärzten, Großhändlern und Patienten nach Versorgungslösungen zu suchen. Das sind Ergebnisse des Apothekenklima-Index 2019, einer repräsentativen Meinungsumfrage von Marpinion im Auftrag der ABDA.

Deren Vizepräsident Mathias Arnold untermauert die erfragten Angaben zum Zeitaufwand mit Verordnungszahlen des Deutschen Arzneiprüfungsinstituts: Demnach hat sich die Anzahl der Rabattarzneimittel, die aufgrund eines Lieferengpasses ausgetauscht werden mussten, bei gesetzlich Krankenversicherten von fünf Millionen Packungen im Jahr 2016 auf 9,3 Millionen Stück im Jahr 2018 fast verdoppelt. Betroffen ist jedes 50. Rabattarzneimittel (9,3 von 450 Millionen Packungen im Jahr 2018). Im Jahr 2018 haben die Top-10-Wirkstoffe mit 4,7 Millionen Arzneimitteln fast die Hälfte der 9,3 Millionen Lieferengpässe ausgemacht. Hochdosiertes, rezeptpflichtiges Ibuprofen belegt mit 1,6 Millionen Packungen den ersten Platz auf der Liste. Mit fünf Wirkstoffen unter den Top 10 sind die Blutdrucksenker Valsartan, Ramipril und Bisoprolol sowie deren Kombinationen mit Diuretika (harntreibende Mittel) ebenfalls weit oben.

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Arzneimittel nicht lieferbar? Gemeinsam mit Ärzten, Großhändlern und Patienten suchen Apotheker nach Versorgungslösungen. © iStock.com, LumiNola

Nur Symptommanagement oder auch mehr?

Die Zahlen zeigen, dass das Problem nicht ausgesessen werden kann, es gewinnt zunehmend an Brisanz. Tatsächlich hat die Politik in der Vergangenheit bereits mehrfach reagiert. Stichwortartig genannt seien der Jour fixe des BfArM, die Beendigung der Ausschreibung für Grippeimpfstoffe und der Wechsel zu einem europäischen Referenzpreissystem. Bei der Ausschreibung von Rabattverträgen wurde nachjustiert sowie eine Melderegelung an Krankenhäuser eingeführt.

Doch das alles reicht nicht, denn mittlerweile ist offensichtlich – und das wird auch im Papier der Union eingeräumt – dass eine nachhaltige Verbesserung der Liefersituation zusätzliche Maßnahmen erfordert. So sinnvoll Reserven und Co. sein mögen, letztlich wird damit Symptommanagement betrieben. Die wahre Herausforderung besteht darin, eine weitere Abwanderung insbesondere der Wirkstoffproduktion zu verhindern oder wie es im Papier heißt „bestenfalls Produktionen nach Europa zurück zu verlagern.“ Ob und welche Impulse dafür die deutsche Ratspräsidentschaft im kommenden Jahr zu setzen vermag, wird spannend.