Im Gespräch

„… bloß nicht das Wort Triage in den Mund nehmen“

Dr. Tobias Witte zu gerechter Ressourcenallokation


Berlin (pag) – Wie steht es mit der Gerechtigkeit im Pandemiefall? Der Medizinrechtsanwalt Dr. Tobias Witte hat vor acht Jahren zu „Recht und Gerechtigkeit im Pandemiefall“ promoviert. Aktuell sieht er einigen Verbesserungsbedarf. Er vermisst beispielsweise eine parlamentarische Debatte über die Zuteilung und die Verabschiedung eines Bundesgesetzes zur Impfkampagne und Impfstoffzuteilung.

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Sie haben sich vor acht Jahren in Ihrer Dissertation mit „Recht und Gerechtigkeit im Pandemiefall“ beschäftigt. Wie gerecht geht es zu in der aktuellen Pandemie, insbesondere bezogen auf die Ressourcenallokation im Gesundheitswesen?

Dr. Tobias Witte: Gerechtigkeit ist natürlich ein sehr abstrakter Begriff mit vielen Facetten. Rechtsphilosophisch wird die Gleichheit nicht selten als Kern der Gerechtigkeit bezeichnet. Wenn wir die gleiche Behandlung von Umständen, die im Wesentlichen gleich sind, als Gleichheit definieren, dann ist zumindest wahrzunehmen, dass diese Form gerechter Verteilung von den beteiligten Akteuren im Gesundheitswesen angestrebt und vielfach auch erzielt wird.

Aber?

Dr. Tobias Witte: Bei knappen Ressourcen ist dies natürlich nicht immer möglich. Ich weiß aus meiner Arbeit als Fachanwalt für Medizinrecht, der eine Vielzahl an Ärzten berät, dass in manchen Krankenhäusern bereits Triage-ähnliche Entscheidungen getroffen werden müssen und dass die Geschäftsführung vorgibt, dabei bloß nicht das Wort „Triage“ in den Mund zu nehmen. Es stellt sich also die Frage, wann eine Zuteilung knapper Güter wie beispielsweise Intensivbetten gerecht ist – und dazu muss man Ziele und Kriterien bilden, die unserer Rechtsordnung standhalten. Die Maximierung der Überlebendenzahl ist ein solches zulässiges Ziel. Was viele jedoch als ungerecht empfinden, ist die gleichzeitige Intransparenz der Entscheidungen. Dies zeigt das obige Beispiel. Auch, wenn Ärzte und Pfleger bei Allokationsentscheidungen bestrebt sind, gerecht zu agieren, entstehen Ungerechtigkeitsempfindungen, da häufig nicht klar kommuniziert wird – und werden kann –, warum eine bestimmte Zuordnung erfolgt und eine andere nicht.

Mit steigenden Fallzahlen steigt die Sorge vor Triage-Entscheidungen in den Kliniken. Sind die deutschen Krankenhäuser mit den klinisch-ethischen Empfehlungen von Fachgesellschaften darauf ausreichend und rechtssicher vorbereitet?

Dr. Tobias Witte: Gerade auch die Intensivmediziner sind, dies ist meine Überzeugung, hierzulande fachlich exzellent aufgestellt, sodass bei Entscheidungen darüber, wie eine Triage zu erfolgen hat, die medizinischen Aspekte lege artis erfolgen werden. Triage kann im Notfall ja nur jemand anwenden, der die Kriterien – zumeist die Dringlichkeit und Erfolgsaussicht der Behandlung – fachlich anwenden kann. Aber es gibt eben nicht nur medizinische Vorgaben, sondern auch ethische und rechtliche. Aber es gibt kein Gesetz.

Inwiefern stellt das ein Problem dar?


Dr. Tobias Witte: Die Empfehlungen von Fachgesellschaften sind unverbindlich und im Übrigen auch stellenweise widersprüchlich. Ein Pneumologe aus Hamburg mag, auch auf Grundlage der Vorgaben seines Verbands, völlig anders entscheiden als ein Anästhesist aus München, der andere Empfehlungen las. Dies kann vor dem Hintergrund der anzustrebenden Gleichbehandlung nicht sein; rechtssicher ist das nicht. Je genauer ausgestaltet und je stärker demokratisch fundiert hier also die Vorgaben werden – was nur über eine gesetzliche Grundlage geschehen kann –, desto stärker entlastet man auch die Ärzte. Deren ohnehin schwerer Job in der Pandemie wird einfacher, wenn sie verlässliche Regeln haben, die auch einer späteren gerichtlichen Überprüfung des ärztlichen Handelns standhalten.

Sie haben sich mit der verfassungskonformen Verteilung lebensnotwendiger Impfstoffe im Hinblick auf die Priorisierung von Bevölkerungsgruppen und die Kostentragung auseinandergesetzt. Ist das gegenwärtige Vorgehen bezogen auf Priorisierung und Kosten verfassungskonform? Wo sehen Sie ggf. Nachholbedarf?

Dr. Tobias Witte: Die von der STIKO aufgestellten Kriterien für die Priorisierung der zu impfenden Gruppen sind sicherlich medizinisch und ethisch zulässig und, gerade auch vor dem Hintergrund der konkreten epidemiologischen Anforderungen des Sars-CoV-2-Virus, sinnvoll. Es sind jedoch nur Empfehlungen, die sodann rechtlich ihren Niederschlag in der Impfverordnung des Gesundheitsministeriums gefunden haben. Ein Parlamentsgesetz ist das nicht. Daher erachten viele Rechtswissenschaftler, unter anderem auch ehemalige Verfassungsrichter, die aktuelle Verteilungsregelung für nicht verfassungskonform. 




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Dr. Tobias Witte: 
Dies ist auch meine Ansicht: Was fehlt, ist eine parlamentarische Debatte über die Zuteilung und die Verabschiedung eines Bundesgesetzes zur Impfkampagne und Impfstoffzuteilung. Diese Impfkampagne wird das Leben jedes einzelnen Menschen in Deutschland auf die eine oder andere Weise beeinflussen. Das ist wesentlich – und wesentliche Entscheidungen, so auch eine Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts, muss der Gesetzgeber treffen. Als Ergebnis einer demokratischen, also parlamentarischen Entscheidungsfindung. Dies ist hier nicht geschehen. Dies muss nachgeholt werden, was im Übrigen auch die Impfakzeptanz in der Bevölkerung erhöhen könnte.

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Zur Person
Dr. Tobias Witte arbeitet als Fachanwalt für Medizinrecht bei der Kanzlei für Wirtschaft und Medizin. Er ist zertifizierter Datenschutzbeauftragter und Justiziar des Berufsverbandes der niedergelassenen Kinderchirurgen Deutschlands. Seine Promotion schrieb er vor einigen Jahren über: „Recht und Gerechtigkeit im Pandemiefall – Bevorratung, Verteilung und Kosten knapper Arzneimittel im Falle eines Seuchenausbruchs“. Darin beschäftigt er sich mit der Frage, ob die deutsche Rechtsordnung auf Pandemien vorbereitet ist.