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Digitalen Wandel gestalten

Digitalisierung – erlauben, was nutzt?

Berlin (pag) – Welchen Grad an Digitalisierung benötigt unser Gesundheitswesen? Und wie viel vertragen die Patienten überhaupt? Diese und weitere Fragen debattieren Experten Ende 2021 bei einer weiteren Diskussionsrunde der Veranstaltungsreihe „Aufbruch in eine neue Dynamik“.

Mit einer gehörigen Portion Zuversicht blickt Stefan Höcherl, Leiter der Abteilung Strategie und Europa bei der gematik, auf das Jahr 2022. Und das trotz der lautstarken, nicht abebbenden Kritik an Digital-Anwendungen wie der elektronischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung oder dem E-Rezept. Mit Blick auf die zurückliegende Legislatur resümiert Höcherl: „Wir haben eine fundamental neue Ausgangslage geschaffen.“ Ab dem kommenden Jahr hätten sowohl Ärzte als auch Patienten viele Vorteile durch die neuen digitalen Anwendungen. „Das E-Rezept wird etablierter Standard sein Mitte nächsten Jahres, genauso wie die elektronische Patientenakte“, sagt er. Letztere werde mit dem Impfpass oder dem Mutterschutzpass zudem erste Mehrwertanwendungen für die Patienten bieten. Angesichts dieser Neuerungen, die auch das Zusammenwirken von Arzt und Patient mitunter neu regeln, prognostiziert Höcherl „mehr kulturelle Herausforderungen als technologische“. Die gematik wolle die Nutzerinnen und Nutzer bei deren Bewältigung unterstützen. Mit der Schaffung der Telematikinfrastruktur 2.0 würden die Komplexität gesenkt und zugleich die Nutzerfreundlichkeit und der praktische Nutzen der digitalen Infrastruktur gesteigert, kündigt der gematik-Vertreter an. Diese optimistische Prognose hat sich zumindest zu Jahresbeginn noch nicht bewahrheitet. Einige Wochen nach der Diskussionsrunde steht fest: Der flächendeckende Start des E-Rezeptes wird verschoben. Querelen zwischen Vertragsärzteschaft und gematik in Sachen Digitalisierung sind längst nicht ausgestanden.

Erschreckend wenig Gesundheitskompetenz

Zurück zur Diskussionsrunde am Jahresende: Prof. Peter Langkafel, Direktor der School of Digital Health an der XU Exponential University in Potsdam, hält viele der bestehenden digitalen Anwendungen für zu komplex.

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Beispiel Notfalldatensatz: Dieser könne mittlerweile zwar offiziell auf die elektronische Gesundheitskarte geschrieben werden. Doch schon auf dem Weg dahin stießen Leistungserbringer auf hohe Hürden. Allein die Beantragung des benötigten elektronischen Heilberufsausweises sei „unglaublich kompliziert“ und nehme in der Regel mehrere Wochen in Anspruch, so Langkafel.

Er rückt die digitale Gesundheitskompetenz der Bevölkerung stärker in den Fokus. „Suchen, finden, verstehen, beurteilen und anwenden – das ist es, was Gesundheitskompetenz ausmacht“, erläutert der Experte. Doch genau daran hapere es noch allzu oft, insbesondere im Digital-Kontext. So zeige etwa der zweite Health Literacy Survey aus diesem Jahr, „dass drei von vier Personen in Deutschland diese digitale Gesundheitskompetenz gar nicht besitzen“, so Langkafel. In den vergangenen Jahren sei diese Kompetenz sogar gesunken. Ein besorgniserregender Trend, denn: „Diese geringe Gesundheitskompetenz hat zahlreiche, zum Teil massive negative Folgen.“ So würden etwa manche Menschen infolge von Internetrecherchen auf eigene Faust ihre Medikation absetzen oder verändern. Zusätzlich gehe mit niedrigerer Gesundheitskompetenz eine häufigere Nutzung von Notfalldiensten einher. Entwicklern neuer Digital-Anwendungen rät Langkafel deshalb dazu, ihre Anwendungen mehr an ihren potenziellen Nutzerinnen und Nutzern auszurichten. „Kompetenz und Akzeptanz entstehen durch positive Nutzererfahrungen, und die müssen wir in den Vordergrund stellen.“

Gemeinsame Standards sind der Grundstein

Damit Digitalisierung und Daten tatsächlich von Nutzen für Versorgung und Forschung sein können, braucht es allerdings mehr als nur eine verbesserte Nutzerfreundlichkeit der Anwendungen, erläutert Sylvia Thun, Professorin für Digitale Medizin und Interoperabilität am Berlin Institute of Health an der Charité. Benötigt würden vor allem einheitliche IT-Standards. Wie groß der Bedarf in der Medizin ist, erläutert sie anhand eines anschaulichen Beispiels: „Es gibt allein sieben Möglichkeiten, ein Geburtsdatum zu schreiben.“ Das erschwert das Zusammenführen und die Auswertung von Daten erheblich oder verhindert sie gleich ganz.

Im Zuge der Pandemie-Bekämpfung habe es jedoch Fortschritte gegeben, etwa in Form des „Einheitlichen Datensatzes Covid-19“. Dieser berücksichtigt unter anderem Vitalwerte und Symptome und basiert auf international kompatiblen Standards. Der Grundgedanke dahinter: „Es ist wichtig, dass wir immer den secondary use im Auge behalten“, so Thun. Meint: Bei der Erhebung von Daten sollte immer schon deren Weiterverarbeitung zu Public-Health- oder Forschungszwecken mitgedacht werden. Dafür ist die Verwendung international gebräuchlicher Standards unumgänglich.

Verhindern allein reicht nicht aus

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Nicht fehlen darf bei der Diskussion das Dauer-Streitthema Datenschutz. „Wir haben uns in den vergangenen zwei, drei Jahrzehnten – eigentlich seit 1973 mit der Erfindung des ersten Datenschutzgesetzes in Hessen – zu Spezialisten des Datenschutzes entwickelt“, bemerkt Innovationsberater Prof. Christian Dierks von Dierks+Company. Was dagegen noch immer fehle, sei ein Datennutzungsgesetz, wie es etwa der Sachverständigenrat Gesundheit angeregt habe. Ein solches Gesetz hält Dierks für dringend geboten. „Denn es reicht nicht aus, zu verhindern, dass die Daten in die falschen Hände gelangen. Wir müssen auch dafür sorgen, dass sie von den richtigen Händen genutzt werden.“

Kritisch blickt der Mediziner und Jurist auf die Ausgestaltung der Anfang 2021 eingeführten elektronischen Patientenakte. Sie funktioniert bislang nach dem sogenannten Opt-in-Verfahren. Wer sie nutzen will, muss sich also aktiv dafür entscheiden. Andernfalls wird keine Akte angelegt. Dabei wäre auch das umgekehrte Prinzip denkbar. Für Dierks ist klar: Eine nach dem Opt-out-Verfahren organisierte ePA hätte „einen sehr viel größeren gesamtgesellschaftlichen Nutzen und auch einen Nutzen für den Einzelnen“. Das sehen offenbar auch die Ampel-Fraktionen so. Im Koalitionsvertrag kündigen sie eine Umstellung auf Opt-out an.