Im Fokus

Das Primat der Evidenz

Eine neue Richtschnur gesundheitspolitischen Handelns?

Berlin (pag) – Bei seinem Amtsantritt im Bundesgesundheitsministerium legt Prof. Karl Lauterbach die Richtschnur seines ministeriellen Handelns unmissverständlich offen. „Die Gesundheitspolitik kann aus meiner Sicht nur erfolgreich sein, wenn sie sich an der evidenzbasierten Medizin orientiert“, lauten seine programmatischen Worte.

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Lauterbachs Verortung wird von vielen begrüßt. Dazu zählen dürfte die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften. Vor der Bundestagswahl hat sie in einem Positionspapier gefordert, dass sich die gesamte Gesundheitspolitik stärker als bisher an der evidenzbasierten Medizin orientieren müsse. Und das Deutsche Netzwerk Evidenzbasierte Medizin hat einige Wochen vor der Staffelübergabe im Ministerium fünf Forderungen an eine evidenzbasierte Gesundheitspolitik formuliert.

Neue Forschungskultur

Die EbM-Expertinnen und Experten verstehen evidenzbasierte Gesundheitspolitik dem Forderungspapier zufolge als Daseinsfürsorge anstatt Kommerzialisierung. Handlungsbedarf sehen sie auch bei der Aus-, Fort- und Weiterbildung. Eine weitere Forderung lautet: „Gesundheitsforschung fokussieren und Forschungskultur reformieren für ein ständig besser und evidenzbasierter werdendes Gesundheitssystem.“ Deutschland sei schwach darin, große und wichtige Fragen in der Gesundheitsversorgung durch gute Studien rasch zu beantworten, heißt es zur Begründung. Trotz vieler Initiativen habe auch die Forschung zu Corona-Themen „erhebliche Lücken“ offenbart. Das Netzwerk schlägt ein Zentrum zur Neuorganisation und Finanzierung klinischer Forschung vor. Am wichtigsten aber werde eine neue Forschungskultur bei Patienten, Forschenden, medizinischem Personal und Forschungsförderern sein. „Forschungsaktivitäten und das Mitwirken daran müssen zur normalen Routine werden auf dem Weg hin zu einem ständig besser und evidenzbasierter werdenden Gesundheitssystem.“

„Nicht in Stein gemeißelt“

Kritisch zu fragen ist aber auch, wie viel Evidenz bereits jetzt im Gesundheitswesen steckt – und konkret im GKV-Leistungskatalog. Forderungen nach dessen kritischer Sichtung und des konsequenten Ausschlusses von nicht evidenzbasierten Leistungen gibt es schon länger. Über die Aufnahme neuer Leistungen in den Katalog entscheidet der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA). „Wenn wir die Patientenversorgung zeitgemäß fortentwickeln wollen, dann müssen wir Entscheidungen treffen, auch wenn die Evidenz nicht in Stein gemeißelt ist“, sagt dessen unparteiischer Vorsitzender, Prof. Josef Hecken. Der Preis für diesen großen Entscheidungsspielraum: Das Gremium müsse immer wieder prüfen, ob neue medizinische Erkenntnisse es nötig machen, Entscheidungen aufzuheben oder zu ändern, betont Hecken auf einem Rechtssymposium des Ausschusses vor einiger Zeit.

Systemische Unwuchten

Im Rahmen des AMNOG-Verfahrens – wenn der Zusatznutzen neuer Arzneimittel in Relation zum bisherigen Therapiestandard bewertet wird – geschieht dies etwa mittels Beschlüssen, die der G-BA befristet. Auch kann der Hersteller aufgrund neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse eine erneute Nutzenbewertung beantragen. Dies ist erst kürzlich bei einer Therapie des Knochenmarkkrebses geschehen. Der Hersteller nahm den dritten Datenschnitt einer Studie zum Anlass, um eine erneute Bewertung zu beantragen. Das Ergebnis: Das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) sieht nun anstelle eines Anhaltspunktes für einen geringen Zusatznutzen einen Anhaltspunkt für einen beträchtlichen Zusatznutzen.

Ein großes Gefälle nimmt Dr. Monika Lelgemann zwischen der Bewertung von Arzneimitteln und von nichtmedikamentösen Leistungen wahr. Bei neuen Untersuchungs- und Behandlungsmethoden sei die Evidenz „zu oft unzureichend“, so Lelgemann, die wie Hecken ein unparteiisches Mitglied des G-BA ist. Auch der Leiter des IQWiG, Prof. Jürgen Windeler, macht auf die Unterschiede in der rechtlichen Regulierung zwischen Arzneimitteln und nicht-medikamentösen Interventionen aufmerksam (lesen Sie dazu Seite XX).

Wettbewerb schlägt Evidenz

Das ist nicht die einzige Unwucht im System. Eine andere ist die Homöopathie. Hier stellt sich noch eindringlicher die Frage, ob in Sachen Evidenz im Versorgungsystem bisweilen mit zweierlei Maß gemessen wird. Die Krankenkassen, die einerseits beständig eine Verschärfung des AMNOG-Verfahrens fordern, finanzieren als Satzungsleitung Globuli, für deren Wirkung es keinerlei belastbare Belege gibt. Dazu muss man wissen, dass die Kassen mit der Homöopathie vor allem die freiwillig Versicherten adressieren, also die Gutverdiener. Mit anderen Worten diejenigen, die jede Kasse gerne zu ihren Versicherten zählen möchte. Streicht man diese Leistung – das wäre eine Aufgabe des Gesetzgebers –, dann beraubt man die Kassen um ein wichtiges Marketing-Instrument im Wettbewerb. Wie heikel dieses Thema ist, zeigt nicht zuletzt der Umstand, dass keine der von uns angefragten Krankenkassen oder deren Verbände bereit war, sich in dieser Angelegenheit öffentlich zu äußern.
Wird der neue Gesundheitsminister seine Evidenz-Agenda auch auf solch unerquickliche Streitpunkte ausweiten?

Was ist mit der Zuwendung?

Wie vielschichtig das Thema ist, zeigt eine Initiative des Deutschen Evangelischen Krankenhausverbandes (DEKV). Dieser verlangt einen Zuwendungsindex für die stationäre Patientenversorgung. Dieser solle in die Qualitätsmessung der Krankenhausversorgung eingeführt und in den Qualitätsberichten veröffentlicht werden. Nur so werde es gelingen, die Zeit zu finanzieren, die die Mitarbeitenden brauchen, um sich den kranken Menschen zuzuwenden. „Durch die Technisierung in der Medizin wird diese Zeit nicht anerkannt, nur was evidenzbasiert ist, findet Anerkennung und wird finanziert“, sagt der DEKV-Vorsitzende Christoph Radbruch. Um dies zu ändern will der Verband die professionelle Zuwendung im Krankenhaus so beschreiben, dass sie zu den evidenzbasierten Qualitätskriterien passt. Nach den Vorstellungen des Verbandes soll das Institut für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen einen solchen Zuwendungsindex entwickeln.

Das Datenproblem

Das kann dauern. Doch insbesondere beim Thema Datennutzung und Evidenz kann das Gesundheitswesen nicht einfach gemächlich weitertrotten. Prof. Christof von Kalle, Onkologe und Mitglied des Sachverständigenrats Gesundheit, betont gegenüber Gerechte Gesundheit mit Verweis auf die Pandemie, dass wissenschaftliche Daten aus Grundlagenforschung, translationaler und klinischer Forschung die einzige Chance seien, große Herausforderungen an das Gesundheitssystem „wirksam, human, sozial und wirtschaftlich“ zu bewältigen. Er bemängelt das Fehlen einer nachhaltig geförderten Infrastruktur für randomisierte klinische Studien und eine systematische digitale Gesundheitsdatenerfassung. „Dies hat unserer Bevölkerung geschadet.“
Eine evidenzorientierte Gesundheitspolitik muss sich dieser Herausforderung schnellstens stellen.

 

Strittige Evidenz bei Orphans
Für Orphan Drugs sollen die gleichen Regeln bei der Nutzenbewertung gelten wie für alle anderen Arzneimittel, fordert jüngst das IQWiG. Es befürchtet, dass die derzeitigen, weniger strengen Bewertungsmaßstäbe für Arzneimittel gegen seltene Leiden irreführende Signale in die Versorgungspraxis senden. Der fiktive Zusatznutzen – bei Orphans gilt dieser als automatisch belegt – verhindere, dass zwischen Orphan Drugs mit und ohne echten Fortschritt unterschieden werden kann.