Warum eine Debatte über die Zahlungsbereitschaft für Fortschritt Tabu ist
Berlin (pag) – Die Frage, wie viel medizinischer Fortschritt kosten darf, ist noch immer unbeantwortet. Die Politik und die Akteure des Gesundheitswesens tun alles dafür, damit es auch so bleibt, denn eine gesellschaftliche Debatte ist nicht erwünscht, um das böse Wort Rationierung zu vermeiden. Nach offizieller Lesart hat sich die Frage für Arzneimittel mit dem AMNOG-Verfahren erübrigt. Doch es bleiben Zweifel.
Gerne werden hierzulande die Unterschiede zum englischen Gesundheitssystem betont, vielleicht auch, um sich wohlig schauern zu können. In England gibt es nämlich feste Kostengrenzen. Das hält der unparteiische Vorsitzende des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA), Prof. Josef Hecken, für „absolut unethisch“, wie er auf einer Tagung Ende November betont.
Einige Wochen zuvor äußert sich der Leiter der G-BA-Abteilung Arzneimittel zum gleichen Thema. Thomas Müller hebt auf einer Brustkrebs-Veranstaltung hervor, dass es hierzulande zwar eine Evidenz-, aber keine Kostengrenze gebe. Damit spielt er auf das AMNOG-Verfahren an, im Zuge dessen der G-BA den Zusatznutzen neuer Arzneimittel im Vergleich zum bisherigen Therapiestandard bewertet, was wiederum die Grundlage für die anschließenden Preisverhandlungen zwischen Hersteller und GKV-Spitzenverband darstellt. Einigen sich die beiden nicht, entscheidet eine Schiedsstelle.
Erfolgsmodell oder pseudowissenschaftliche Preisregulierung?
Das Verfahren gilt in der Politik über Parteigrenzen hinweg als Erfolgsmodell, ähnlich sieht es bei den Akteuren des Gesundheitswesens aus – die Pharmaindustrie einmal ausgenommen. Das System ist allgemein anerkannt, lediglich um technische Modifikationen wird gelegentlich gerungen. Über dieses Fine-Tuning, wie es der G-BA-Chef nennt, ist die entscheidende Grundsatzfrage allerdings aus dem Blick geraten, nämlich die nach der gesellschaftlichen Zahlungsbereitschaft für den Zusatznutzen. Nur wenige kritisieren das so offen wie der Chefarzt der Klinik für Neurologie am St. Joseph-Krankenhaus Berlin-Weißensee, Prof. Thomas Müller (nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen G-BA-Vertreter). Auf einer Tagung der Deutschen Gesellschaft für experimentelle und klinische Neurotherapeutika prangert er im Dezember das AMNOG-Verfahren als „pseudowissenschaftliche Preisregulierung“ an. Damit werde ein funktionierender, objektiver Entscheidungsprozess vorgegaukelt, der die gesamtgesellschaftliche Diskussion behindere.
Eine gesellschaftliche Debatte zur Zahlungsbereitschaft vermisst auch der Gesundheitsökonom Prof. Jürgen Wasem, der Vorsitzender der AMNOG-Schiedsstelle ist. Die Entscheidung eines Pharmaunternehmens, sein Medikament vom deutschen Markt zu nehmen, wird maßgeblich durch den Spruch der Schiedsstelle beeinflusst. Damit entscheidet Wasem indirekt darüber, ob ein Arzneimittel für Patienten auf dem hiesigen Markt verfügbar ist. Der Experte fragt sich selbst, ob er dafür überhaupt ausreichend legitimiert ist (lesen Sie dazu das Interview mit Prof. Wasem in dieser Ausgabe). Er wünscht sich daher stärkere Leitplanken, was die Zahlungsbereitschaft der Gesellschaft für Zusatznutzen angeht.
Der schwarze Fleck auf der weißen Weste
Die Politik hat allerdings kein Interesse an einer solchen Diskussion, weil damit, so Wasem, implizit die Rationierungsdebatte angesprochen werde. „Sie (die Politik, Anmerkung der Redaktion) vertritt die Position, dass der deutsche Versicherte alles medizinisch Notwendige erhält. Eine implizite Rationierungsdebatte, bei der die gesellschaftliche Zahlungsbereitschaft ausgelotet würde, wäre ein schwarzer Fleck auf dieser weißen Weste.“
Diese Einschätzung teilt die Journalistin Heike Haarhoff in ihrem in der taz erschienenen Artikel „Zu Tode gerechnet“. Darin beschreibt sie eindrücklich, was ein so genannter Opt-out, die Rücknahme eines bereits auf dem Markt befindlichen Medikaments, für einen schwerkranken Krebspatienten bedeutet. Haarhoff geht in ihrem Text mit einem politischen System ins Gericht „das eine Kostenexplosion im Arzneimittelbereich ebenso fürchtet wie eine ehrliche Debatte darüber, wie viel ein paar Monate zusätzliches Leben der Solidargemeinschaft wert sein sollen – auf die Gefahr hin, möglicherweise zu dem Schluss zu gelangen, dass nicht mehr alles für alle finanzierbar ist“. Sie kritisiert außerdem eine implizite Rationierung hierzulande: „über ein in sich widersprüchliches Versorgungssystem, das Medikamente erst zulässt, aber anschließend nicht bezahlt“.
Alle haben Recht und der Patient den Schaden
Das Problem der vom Markt genommenen Arzneimittel – einer Übersicht des GKV-Spitzenverbands zufolge sind das inzwischen mehr als zehn Präparate (Stand Januar 2017) – ist für Haarhoff ein gesundheitspolitischer Tabubruch. Man könnte die Opt-outs auch als Systemversagen bezeichnen, das die Grenzen des AMNOG-Verfahrens aufzeigt. Im Fall des temporären Opt-outs des Lungenkrebsmedikaments Osimertinib (Handelsname: Tagrisso) kritisierte die Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie, dass zwar alle am Verfahren Beteiligten innerhalb ihrer eigenen Regeln Recht, den Schaden aber die betroffenen Krebspatienten hätten.
Was bekommt die Öffentlichkeit davon mit? Derzeit vermutlich herzlich wenig. Wenn die Publikumspresse den medizinischen Fortschritt und dessen Kosten aufgreift, dann geschieht das meist unter dem Label „Mondpreise“. Eine Ausnahme stellt, neben dem Haarhoff-Artikel in der taz, ein Bericht in der Bild-Zeitung dar. Unter der Überschrift „Wer hilft Epilepsie-Mädchen Martha (10)?“ heißt es dort: „Weil sich Kassen und Hersteller streiten, gibt es kein Medikament.“ Sollte jedoch die Zahl der Opt-outs stetig zunehmen, dann dürfte es nur noch eine Frage der Zeit sein, bis die Marktrücknahmen auf mehr öffentliche Resonanz stoßen. Der Schritt zu einer Debatte über Rationierung ist dann nicht mehr weit. Koppelt man das mit der Frage nach der demokratischen Legitimation des G-BA – die entsprechenden Rechtsgutachten liegen beim Bundesgesundheitsministerium derzeit unter Verschluss – könnte eine brisante Diskussion entstehen. Anstatt diese transparent und proaktiv anzugehen, setzen die Akteure auf eine Vogel-Strauß-Taktik: Es sind immer nur die anderen, die rationieren.
Weiterführende Links:
Link zum taz-Artikel, der mit dem Publizistik-Preis der Stiftung Gesundheit ausgezeichnet wurde: http://www.taz.de/!5357366/
Link zum Bild-Artikel: http://www.bild.de/regional/leipzig/epilepsie/wer-hilft-martha-49961166.bild.html