Im Fokus

Leitlinien im Praxistest

Bei der Implementierung gibt es noch Luft nach oben

Berlin (pag) – Leitlinien sollen die medizinische Versorgung verbessern und gelten als wichtiges Instrument, um Über-, Unter- und Fehlversorgung zu verhindern. Doch werden sie diesem Anspruch gerecht? Der AOK-Bundesverband und das Wissenschaftliche Institut der AOK (WIdO) ziehen aufgrund einer Versorgungsanalyse eine gemischte Bilanz.

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Dass es bei der Implementierung von Leitlinien im Versorgungsalltag noch Luft nach oben gibt, zeigt der auf einer Pressekonferenz vorgestellte Versorgungs-Report des WIdO anhand von mehreren Beispielen.

Beispiel Herzinfarkt: Den AOK-Routinedaten zufolge erhalten Patientinnen und Patienten nach einem Herzinfarkt meist die in den Leitlinien vorgesehenen Medikamente wie Statine oder Blutverdünner. Die Daten offenbaren aber deutliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern. „Frauen sind schlechter versorgt als Männer. Sie erhalten deutlich seltener die angezeigten invasiven Therapieverfahren“, sagt Christian Günster, der beim WIdO die Qualitäts- und Versorgungsforschung leitet. Bei älteren Frauen ab 80 Jahren liege die Behandlungsrate fast zehn Prozent niedriger als bei Männern des gleichen Alters.

Beispiel Restless-Legs-Syndrom: In der aktuellen Leitlinie wird die Behandlung mit dem Medikament Levodopa aufgrund von hohen Risiken nicht mehr empfohlen. Die WIdO-Analyse zeigt, dass etwa ein Viertel der diagnostizierten Patientinnen und Patienten dennoch eine Dauertherapie mit diesem Mittel erhalten. „30 Prozent aus dieser Gruppe wurden sogar länger als zwei Jahre damit therapiert“, kritisiert Günster. Möglicherweise betrieben viele Betroffene zudem „Ärztehopping“, um an das Präparat zu gelangen. „Hier gibt es noch viel zu tun, um eine leitliniengerechte Arzneimittel-Therapie zu erreichen“, betont der Versorgungsforscher.
 

© stock.adobe.com, Jess rodriguez
© stock.adobe.com, Jess rodriguez

Beispiel Kontroll-Koronarangiographien nach Erweiterungen der Herzkranzgefäße mit einem Ballonkatheter (PCI): Hierzu gebe es seit 2016 eine Negativ-Empfehlung. Der routinemäßige diagnostische Herzkatheter wird nicht mehr empfohlen, wenn nicht zu erwarten ist, dass daraus eine therapeutische Konsequenz folgt. Hier erkennt Günster ein Umsteuern. Seit Veröffentlichung der neuen Empfehlungen sei es zu einem deutlichen Rückgang bei den Kontroll-Koronarangiographien gekommen.

Der WIdO-Experte spricht von einer „sehr gemischten“ Bilanz zur Leitlinien-Umsetzung in der Praxis. Auf dem Podium diskutieren die Expertinnen und Experten daher verschiedene Ansätze für eine raschere Implementierung. Dr. Gerhard Schillinger, Leiter des Stabs Medizin im AOK-Bundesverband, nennt insbesondere eine „gut aufgeräumte Krankenhauslandschaft mit klar verteilten Aufgaben“. Eine Erfolgsgeschichte seien die zertifizierten Krebszentren. Im ambulanten Setting sieht der AOK-Vertreter vor allem die mangelnde Transparenz zur Behandlungsqualität als Schwierigkeit.

 

„Da hinken wir hinterher“

Mit dem Digitale-Versorgung-Gesetz, vom Bundestag im November 2019 verabschiedet, hat der Gesetzgeber der Leitlinienerstellung bereits einen deutlichen Booster verpasst: Die Erstellung oder Aktualisierung kompletter Leitlinien kann über Mittel des Innovationsfonds des Gemeinsamen Bundesausschusses gefördert werden. Außerdem kann das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen mit Evidenzrecherchen beauftragt werden. Dr. Monika Nothacker weiß diese Unterstützung zu schätzen. Die stellvertretende Leiterin des Instituts für Medizinisches Wissensmanagement der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) beschreibt in der Pressekonferenz die Anforderungen, welche bei der Leitlinienerstellung zu beachten sind. Dazu zählen die repräsentative Beteiligung, auch von Betroffenen-Organisationen, die formale Evidenzbasierung sowie die strukturierte Konsensfindung. Das sei viel Arbeit, was auch für die Aktualisierung der Behandlungsempfehlungen gelte – „da hinken wir immer hinterher“, räumt Nothacker ein.
Fortschritte erkennt sie dagegen bei der Verbreitung von Leitlinien. Fachgesellschaften publizierten mittlerweile Kurz- und Langversionen sowie Patientenfassungen. Außerdem werden Leitlinien inzwischen auf großen Kongressen vorgestellt und in Qualitätsmanagementsysteme integriert. „Wir sind außerdem sehr dahinter her, dass die Leitlinien auch digital an den Point of Care kommen“, meint Nothacker. Allerdings gebe es dafür viele Hürden. Bereits 2021 hat die AWMF eine nationale Strategie gefordert, um evidenzbasiertes Wissen in digitale Gesundheitsanwendungen, Patienteninformationen oder Arztinformationssysteme zu integrieren.

V.l.: Dr. Kai Behrens (AOK-Pressesprecher), Dr. Gerhard Schillinger, Dr. Monika Nothacker, Christian Günster und Prof. Jürgen Wolf (Nationales Netzwerk Genomische Medizin Lungenkrebs) bei der Vorstellung des Versorgungsreports © pag, Fiolka
V.l.: Dr. Kai Behrens (AOK-Pressesprecher), Dr. Gerhard Schillinger, Dr. Monika Nothacker, Christian Günster und Prof. Jürgen Wolf (Nationales Netzwerk Genomische Medizin Lungenkrebs) bei der Vorstellung des Versorgungsreports © pag, Fiolka

Lebende Leitlinien als Ziel

Mehr zu Weiterentwicklungsmöglichkeiten von Leitlinien ist in dem Versorgungsreport „Leitlinien – Evidenz für die Praxis“ nachzulesen. Nothacker, Prof. Jörg Meerpohl, Prof. Holger Schünemann und Prof. Ina B. Kopp gehen in einem gemeinsamen Aufsatz unter anderem auf „Living Guidelines“ ein. Ziel sei es, diejenigen Empfehlungen zu identifizieren, die eine häufige Aktualisierung benötigen – zum Beispiel alle zwei bis vier Monate – und dafür Evidenzrecherchen in kurzen Abständen durchzuführen. Bislang wurden die meisten „Living Guidelines“ im Kontext der Corona-Pandemie erstellt. Dabei spielte die strukturierte Zusammenarbeit zwischen universitären Teams und Leitliniengruppen eine wichtige Rolle, schreiben sie. „Die erfolgreiche Zusammenarbeit kann als mögliche Blaupause für künftige Entwicklungen evidenzbasierter Leitlinien gesehen werden.“
Eine noch weitergehende Vision sind digitale Leitlinienformate, die eine Einpassung in ein digitales „Evidenz-Ökosystem“ mit direkter Anbindung an die Nutzenden ermöglichen. Dessen Kern, so beschreiben es die Experten, sei ein strukturiertes Datenformat für alle Produkte, das einen ungehinderten Austausch von Versorgungs- und Studiendaten erlaubt – „bis hin zur ‚Übersetzung‘ in allgemeinverständliche Formate“. Als Voraussetzung dafür nennen die Wissenschaftler gemeinsame Plattformen, Schnittstellen sowie einen Willen und eine Kultur des Teilens. Bis dahin dürfte es noch ein weiter Weg sein.

© stock.adobe.com, vegefox.de
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DEAL und die dynamische Evidenzaktualisierung
Mit der Aktualisierung von Leitlinien beschäftigt sich das Projekt DEAL des Innovationsfonds. Die Abkürzung steht für „Dynamische Evidenzaktualisierung für Aktuelle Leitlinienempfehlungen“. Das Projekt untersucht und bewertet die Machbarkeit eines digital unterstützten „Living Recommendations“-Prozesses. Der DEAL-Prozess beinhaltet die systematische Identifizierung, Bewertung und Aufbereitung neuer Evidenz zu ausgewählten Leitlinien- und Impfempfehlungen mit hohem Aktualisierungsbedarf („HAP-Empfehlungen“) in kurzen Intervallen mit anschließender Entscheidungsfindung zu möglichen Empfehlungsänderungen. In einem zweiten Projektteil wird eine Kriterienliste für die Identifizierung von Leitlinienempfehlungen mit hoher Aktualisierungspriorität entwickelt. Das Projekt wird für 21 Monate mit insgesamt circa 629.000 Euro gefördert.

Weiterführender Link:

Christian Günster, Jürgen Klauber, David Klemperer, Monika Nothacker, Bernt-Peter Robra, Caroline Schmuker (Hrsg.), WIdO, Versorgungs-Report Leitlinien – Evidenz für die Praxis, PDF, 311 Seiten
https://mwv-open.de/site/books/10.32745/9783954668007/download/9414/